Dritte Fortsetzung

Nur ein kleiner Teil der Niederschläge dringt in den Boden ein, das meiste fließt oberflächlich ab, ein kleiner Rest verdunstet wieder. Das Regenwasser folgt der vorhandenen Neigung der Gehänge, die einzelnen Tropfen vereinigen sich zu kleinen Wasseräderchen. Unregelmäßigkeiten im Boden lassen fernerhin die Äderchen zu Rinnsalen sich sammeln. Die ganze Oberfläche eines Gehänges wird so bespült, kleinere oder größere Gesteinspartikel werden fortgeschafft. Wie groß die Menge des Fortgeschafften ist, sehen wir an der Trübung der Regenrinnsale, sehen wir bei genauem Beobachten am Rollen kleiner Gesteinskörner am Grunde des strömenden Wassers. Durch das Wegschaffen der feinen Verwitterungsprodukte an der Gesteinsoberfläche werden stets neue, frische Stellen bloßgelegt, die von der Verwitterung angenagt werden. Wird grober Grus, grober Verwitterungsschutt derart bespült, so können einzelne Steine den Halt verlieren, sei es direkt durch das Aufschlagen des Regens, sei es, dass ein Körnchen fortgerissen wurde, das dem Stein als Stütze diente. Der Stein gerät ins Rollen, mit ihm aber auch ein Teil seiner Umgebung, denn auf jedem einzelnen ruht in einer Schutthalde eine ganze Reihe höher liegender Trümmer. Deutlich wird uns der Vorgang beim Überqueren solcher Halde. Bei jedem Schritt bringen wir Steine aus ihrer Lage; sogleich beginnen ganze Geröllströme zu gleiten. Das Steigen wird auf losem Grus sehr mühsam. So sehen wir die große Bedeutung des abfließenden Regenwassers: die Verwitterung, die stets flächenhaft arbeitet, stets die ganze Erdoberfläche beeinflusst, wird mächtig unterstützt durch das Entstehen immer neuer Angriffspunkte. Grobes und feines Material wird an den Berghängen durch die kleinen Rinnsale zu Tal geführt, stets werden Bäche und Flüsse eine Zufuhr an Gehängeschutt von den Seiten her erhalten.

Das Zusammenströmen des Wassers prägt sich immer schärfer aus, je weiter wir die Wasserfäden abwärts verfolgen. Benachbarte Bodenfurchen nehmen sie auf; in ihnen schleppen die anschwellenden Gewässer mehr und mehr feste Bestandteile mit sich. Wassergräben vereinigen sich, Bäche entstehen, bis im Grunde des Haupttales ein Fluss die Gewässer des gesamten Gebietes sammelt (Tafel 4).


Das Ausgraben von Furchen und Tälern ist kein einfacher Prozess: reines Wasser würde durch seinen Anprall kaum Stücke von einem Felsblock Wegbrechen können. Es kann nur in jahrelanger Arbeit etwas auflösen, Unebenheiten schaffen, die so groß werden, dass schließlich ein Körnchen aus dem Gestein gleichsam herausgelöst wird. An unzähligen Punkten greift das Wasser in dieser Weise an, an unzähligen Punkten werden auch lose Steine erzeugt, die sich mit jenen Trümmern vermengen, die, durch Abwitterung entstanden, allmählich in eine Wasserrinne hinabgelangt sind. Diese festen Bestandteile sind die Werkzeuge, mit denen die sich sammelnden Gewässer ihre erstaunlich große Grabarbeit verrichten. Die Steine werden nicht nur gegeneinander gerieben und durch Abwärtsrollen gerundet: wie Geschosse werden sie durch die Stoßkraft des Wassers gegen grobe Gesteinsbrocken, gegen die Felsen des Bachbettes geschleudert. Immer neue Stücke werden losgerissen, immer größere Blöcke können als Felsbrecher benützt werden, wenn die Wassermasse wächst, immer erfolgreicher geschieht das Eintiefen des Flussbettes. Mit Erstaunen erblicken wir in unscheinbarem Bächlein nach heftigem Gewitterregen grobe Felsklötze, die mit Poltern abwärtsrollen, in heftigem Anprall an einem Vorsprung zerschellen oder eine Menge kleiner Trümmer mit sich fortreißen. Gewiss sind für die Beobachtung heftige Regengüsse günstig; sie stellen aber nur Episoden dar, so dass wir fast daran zweifeln könnten, dass die tiefen Täler, die engen Schluchten Erzeugnisse der „Erosion“ seien. Eines müssen wir aber im Auge behalten: was ein großer Block leistet, wird auch durch viele kleine Steine vollbracht, nur braucht es sehr viel mehr Zeit. Und stets müssen wir uns erinnern, dass unser Zeitmaß für diese Vorgänge zu eng, zu klein ist. Ständig fließendes Wasser, ständiges Anprallen kleiner Steine wird nachhaltigere Wirkungen erzielen als ein mächtiger Gewitterguss, als ein Felsblock, der während dieses Gusses um einige Meter talab rollt, freilich für diese kleine Strecke, ich möchte sagen, die Bedeutung einer Katastrophe erlangt. Nach alledem wird es selbstverständlich, dass Täler mit großen Flüssen tief eingeschnitten sind. Sie sammeln die Gewässer der umliegenden Gebirge; von ihnen aus steigen die Nebentäler an, verzweigen sich nach oben hin, so dass wir von einem Flusssystem den Eindruck eines Baumes gewinnen, dessen Stamm durch den Hauptfluss, dessen Äste und Zweige durch das Gewirr von Nebenflüssen, Bächen, Rinnsalen dargestellt werden. Der Wipfel dieses Baumes fände sich im Quellgebiet des Hauptflusses, wo dieser, nur wenig eingeschnitten, als dünne Wasserader seinen Anfang nimmt. Das Quellgebiet werden wir also hoch oben im Gebirge, im Herz der Hochregion, vielleicht im Gebiete der Gletscher suchen. Der Betrag der Erosion, die zum Unterschied von der Verwitterung, der Abspülung nicht flächenhaft, sondern entlang bestimmten Linien, den Tälern, wirkt, hängt, wie wir sahen, vor allen Dingen von der Menge des Wassers ab. Ferner wird auch die Widerstandsfähigkeit der Gesteine einen entscheidenden Einfluss ausüben. Harte Gesteine werden schwerer zerstört als weiche; vergeblich prallen an den Granitfels unzählige Gerölle, ohne eine Bresche schlagen zu können, während in weichen Schiefern dieselben Gerölle schon eine tiefe Furche eingekerbt haben. Schwer werden wir mit dem Hammer ein Stück Granit losschlagen, wenige Hiebe genügen, den Schiefer zersplittern zu lassen. Diese Erfahrung können wir unmittelbar auf die Tätigkeit des fließenden Wassers übertragen. Gleichwohl wird auch der Granit der Zeit zum Opfer fallen, werden auch in ihn Verwitterung und Abtragung tiefe Spuren graben, werden auch im Granit Täler entstehen, wird sich der Gesteinskörper in Einzelformen, in Berge auflösen. In gleicher Zeit wird jedoch das eine Gestein stärker zerstört als das andere. Der Unterschied ist dann aufs schärfste in der Form ausgeprägt: harte Gesteine bilden jähe, bizarre Formen; sanfter, runder sind die Höhen der weichen Gesteine. Sie zeigen Merkmale intensiverer Bearbeitung.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Naturgewalten im Hochgebirge
Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 004 Phot. W. Penck. Talbildung, regelmäßige Sammelfurche, nach oben verzweigt

Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 004 Phot. W. Penck. Talbildung, regelmäßige Sammelfurche, nach oben verzweigt

alle Kapitel sehen