Die Völker und das Meer im Lauf der Jahrtausende

Autor: Böhtlingk, Arthur Prof. Dr. (1849-1929), Erscheinungsjahr: 1915
Themenbereiche
Der Brite —
„Und das Reich der freien Amphitrite
Will er schliessen wie sein eignes Haus“
Schiller

Ohne Wasser kein Leben. Dies Naturgesetz gilt nicht nur für die Entstehung aller organischen Gebilde, sondern auch für deren weitere Entwicklung. Nicht zum wenigsten in Anwendung auf die Geschichte der Menschheit. An den Flussläufen hat sich alle höhere Kultur entfaltet; sie sind die elementarste Verkehrsstraße. Ein hohler Baumstamm als Fahrzeug, und der Mensch durchglitt, wie von Götterarmen getragen, die undurchdringlichsten Urwälder, endlose Einöden. An den Flüssen entlang hat sich die Völkerwanderung vollzogen. Das offene Meer, dem die Flüsse meist zuströmen, ist auch dem Kulturmenschen freilich lange, lange ein unüberwindliches Hindernis erschienen. Erst seit Entdeckung des Kompasses hat er sich über die Küsten hinaus ins Weltmeer gewagt und es zu durchqueren unternommen. Damit aber hat er sich des ganzen Erdrundes zu bemächtigen begonnen.

Wie sehr Wesensart und Schicksal der Völker und Staaten von ihrer Beziehung zu Fluss und Meeresufer bedingt sind, ist auf jedem Blatte der Weltgeschichte deutlich zu lesen. Sind nicht Hoangho und Jangtsekiang (der gelbe und der blaue Strom) Chinas Lebensadern? Von der Erbauung des Kaiserkanals, der sie in der Richtung von Süden nach Norden (sie fließen von Westen nach Osten) mit einander „in Fluss“ gebracht hat, datiert indes erst die intensivere Kultur des ältesten Reiches der Welt, das in unsere Tage hineinragt. Wie die Wüste Innerasiens im Westen, so hat die unermessliche Wasserfläche des Großen Ozeans China nach Osten zu von der übrigen Welt abgeschieden.

Diese Abgeschiedenheit durch das große Wasser kennzeichnet auch und erst recht das inmitten desselben gelegene Inselreich Japan, welches über das nur durch eine schmale Wasserstraße von ihm getrennte Korea seine Kultur empfangen hat. Hätten Chinesen und Japaner den Großen Ozean zu überschiffen vermocht, bevor wir Europäer über den Atlantischen hinüber gelangten und uns des amerikanischen Weltteils bemächtigten, hätten wir nicht nur Indianer drüben zu bekämpfen gehabt, wären wir schwerlich in Besitz des Weltteils geraten. Ob nicht die Weißen mit den Gelben, wir Europäer mit den Asiaten vom anderen Weltufer her noch einmal darum werden kämpfen müssen?

Ähnlich Indien. Hier haben Indus und Ganges der Kultur die Wege geebnet, und zugleich die Wogen des indischen Ozean die riesige Halbinsel, der es obendrein an Küstengliederung so sehr fehlt, abgeschieden und in ihrer Entwicklung gehemmt, bis die Europäer zur See herbeigekommen sind.

Babylon, das älteste und regste aller Kulturzentren, ist auf Euphrat und Tigris gestellt gewesen, deren Regulierung und damit Indienststellung die hohe Kulturblüte bedingte.

Was wäre Ägypten ohne Nil?

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