Abschnitt 5 - Die Russen, Englands Gegenspieler im Osten.

Die Russen, genauer die Großrussen, sind zunächst an der Wolga zu staatlicher Entwicklung gekommen. An den gewaltigen Strom, als an ihren Lebensquell gebunden, ist ihnen dieser, fast wie den Nordindern der Ganges, zum „heiligen“ Fluss geworden. Die Wolga aber mündet in die Kaspische See, in ein binnenländisches Wasser, das weitab vom Meere gelegen, zu diesem keinerlei Zugang hat. Das Russenreich war demgemäß Jahrhunderte hindurch ein binnenländisches. Peter der Große aber hat es ans Meer gewiesen und ihm damit eine Spannweite und ein natürliches Wachstum eingegeben, deren Grenzen nicht abzusehen sind.

Peter brachte es zugleich an die Ostsee, an das Schwarze Meer und — bei Wladiwostok (zu deutsch Beherrscherin des Ostens) — an den Großen Ozean. Indes — die Ostsee ist noch nicht das Meer, die offene Weltstraße: Skandinavien, Dänemark, Schleswig-Holstein (die „Elbherzogtümer“) schließen sie nach Westen hin ab. Zudem sind die Häfen an der russischen Küste über Winter zugefroren. Mit dem Weißen Meere hat Russland zwar eine unmittelbare Verbindung mit dem Weltmeere, allein, wie der Name bereits besagt, ins Eismeer hinein. Das Schwarze Meer im Süden ist erst recht eine abgeschlossene See, die sich durch die Engen des Bosporus und der Dardanellen ins Mittelmeer ergießt, das bei Gibraltar unter englischem Verschluss steht. Wer über Bosporus und Dardanellen gebietet, hat den Schlüssel des Schwarzen Meeres und damit den Zugang zur Südküste Rußlands in Händen. Dies ist für den Russen umso misslicher und empfindlicher, als das südöstliche Gebiet des Riesenreiches, Kleinrussland oder die Ukraine, seinen größten Reichtum birgt. Die unermessliche Ebene, durchströmt von riesigen zum Schwarzen Meer enteilenden Flüssen, mit ihrer schwarzen Erdschicht, ist eine unerschöpfliche Kornkammer, aus der sich auch Italien, Frankreich und England mit versorgen, was nur bei freier Schifffahrt möglich ist. Am Bosporus aber liegt Konstantinopel, das einstige Byzanz, von dem aus Kiew und Moskau ihre erste christliche Kultur empfangen haben. Konstantinopel aber ist seit bald fünf Jahrhunderten die Haupt- und Residenzstadt der mohammedanischen Türken. Nur zu begreiflich, wie das im „heiligen“ Moskau wurzelnde Zarenreich nicht müde wird, nach dem Besitz von Konstantinopel und damit zugleich den Meerengen zu trachten. Schon die Nordgestade des Schwarzen Meeres hat es den Türken in blutigen Kämpfen abringen müssen. Mehr als einmal haben seine siegreichen Heere bereits vor den Toren von Konstantinopel gestanden. Gelingt es dem Russen, den Bosporus in seine Gewalt zu bekommen, so ist das Schwarze Meer zu einer russischen See geworden. Ist der Russe erst Herr in Konstantinopel, so gebietet er zugleich über die Balkanländer und ganz Kleinasien. Schon ist er jenseits des Kaukasus, über Persien hinweg, auf dem Wege nach dem Persischen Golfe. Wer will ihm dann noch in Vorderasien Halt gebieten? Ihm im östlichen Becken des Mittelländischen Meeres, auf See, die Wage halten? Wie soll da England nicht für Ägypten zittern? Dabei ist der Russe längst weit jenseits der Kaspischen See, durch Turkestan, vom Aralsee aus, an Sir-Darja und Amur-Darja (die antiken Ströme: Jaxartes und Oxus) entlang, so nahe an britisch Indien heran gelangt, daß nur noch das anarchische Afghanistan beide Rivalen voneinander trennt.


Indem Russland derart über Asien hinweg zum Weltmeere strebt, droht es den ganzen Weltteil von Norden und Westen her, auf dem Festlandwege, unter sein Machtgebot zu bringen, ähnlich wie England vom Süden und Osten her, vom Wasser aus, unter das seinige. England zittert zugleich für Indien und China. Nachdem Russland gar in Pamyr „das Dach der Welt“ erreicht hatte, das den Zugang zum Pendjab und nach Tibet hinein überdacht, es seine transkaspische Eisenbahn bis dicht an Herat herangeführt und zugleich die sibirische Bahn ausgebaut hatte, drohte es, ganz Innerasien, bis nach Tibet hinein, sowie durch Umfassung der Mongolei ganz Nordchina in seine Gewalt zu bekommen. Vollends als es in die Mandschurei einrückte, ein nordostchinesisches Bahnnetz auszubauen begann und sich in Port Arthur festsetzte! Aus eigener Kraft heraus und selbst im Bunde mit anderen europäischen Mächten, wie es dies im Krimkriege versucht hat, vermochte England gegen diese festländische Übermacht nicht entfernt mehr aufzukommen. Und so schloss der stolze Brite, der so verächtlich auf alle Farbigen herabzublicken gewohnt ist, sein Bündnis mit — Japan!

Dieser Kampf mit Russland um Asien ist derart der erste, ursprünglichste Anlass geworden zur Entzündung des Weltbrandes, der die englische Weltherrschaft retten und weiterentwickeln soll. Mit Hilfe der Japaner ist es den Engländern geglückt, Russland so wuchtig von den eisfreien Gestaden des Großen Ozeans abzudrängen, daß es selbst an die Möglichkeit der Wiedergewinnung Port Arthurs und damit der verlorenen Stellung im Petschili- Golfe, am Gelben Meere, nicht zu glauben vermag. Auch an das Indische Meer — und dies erst recht — darf Russland, wenn es nach England geht, nicht heran. Um es hiervon abzubringen, haben die Staatslenker an der Themse ihm Nordpersien überlassen und dafür Südpersien mit dem Persischen Golfe und der ganzen Küste in die englische Machtsphäre gebracht. Wenn man an der Newa hierauf eingegangen ist, so doch wohl in der zuversichtlichen Erwartung, daß, wenn Russland erst in Nordpersien sich dauernd festgesetzt und sein Eisenbahnnetz dahin erweitert haben wird, es niemand mehr an dem Vordringen nach Südpersien hinein wird hindern können. Der Köder, mit dem die Staatslenker an der Themse die an der Newa eingefangen haben, hat offenbar darin bestanden, daß sie ihnen — Konstantinopel vorspiegelten. Konstantinopel mit Hilfe jenes England, das immer wieder eine halbe Welt in Bewegung zu setzen bereit gewesen ist, um Russland dasselbe vorzuenthalten, den Weg ins Mittelländische Meer — im Bunde mit England! Konnte sich eine glänzendere Gelegenheit, das so sehnsüchtig begehrte Ziel zu erreichen, je darbieten? Wie wollte das im Wege stehende Österreich, der Donaustaat mit seinem wirren, auseinanderstrebenden Völkergemenge, dem Ansturm zugleich der russischen Macht und der Serben und Montenegriner, der Balkanvölker allesamt Widerstand leisten, wenn zugleich Deutschland, sein einziger Bundesgenosse, von Russland, England und Frankreich in Angriff genommen wurde? Sollte nicht auch Italien die Gelegenheit wahrnehmen, um sich an dem auseinandergesprengten Österreich sein Beuteteil zu sichern? Die Siegeszuversicht an der Newa war eine um so maßlosere, als Russlands strategische Stellung seit Einverleibung von Kongress-Polen, an der Weichsel, mit Warschau als Zentrallager, hinter Njemen, Bober und Narew eine schier uneinnehmbare erscheint und es derart bis fast ins Herz von Mitteleuropa hinein vorgedrungen ist. Sollte es ihm gelingen, Galizien, Westpreußen und Posen zum übrigen Polen zu schlagen, wären Berlin und Wien nur wenige Tagemärsche von seinen Grenzen entfernt. Damit hätte es die Hegemonie über das festländische Europa an sich gebracht. Und hierzu wollten England und Frankreich ihm verhelfen! Wie sollte es zögern, mitzutun?

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Völker und das Meer im Lauf der Jahrtausende