Abschnitt 6 - Deutschlands Missgeschicke.

Auch das Schicksal und damit die Geschichte Deutschlands ist selbstverständlich durch seine geographische Lage bedingt. Sein Verhältnis zum Meere ist damit gegeben, daß es nur die eine Küste im Norden hat. Diese Küste ist zudem eine überaus flache, hafenarme und auch noch eine zweiteilige, davon die östliche Hälfte der binnenländischen Ostsee angehört, zu der Dänemark den Verschluss besitzt; und auch die westliche Hälfte, obgleich am offenen Meere, ist durch das vorgelagerte England von dem Atlantischen Ozean und damit von der Weltwasserstraße nur zu leicht abzuschneiden. Solange Schleswig und Holstein zu Dänemark gehörten, war überdies der dazwischen liegende Landblock in fremder Gewalt. Durch den Nord-Ostsee-Kanal sind wenigstens die beiden Gewässer miteinander in Fluss gekommen, was zumal der Kriegsflotte so zu statten kommt, daß es fast einer Verdoppelung derselben gleich zu achten ist: das Verhältnis zum Weltmeere ist jedoch darum das gleiche geblieben.

Auch das deutsche Flusssystem lässt nur zu sehr zu wünschen übrig. Die der Nordküste zuströmenden Gewässer sind nur teilweise in deutschem Besitz: von der Weichsel, dem polnischen Strome, nur der Unterlauf, die Mündung des Rheins gehört zu Holland, der Oberlauf desselben mit zur Schweiz, die obere Elbe zu Böhmen. Um diese teils fremdländischen Ströme für die Schifffahrt in Stand zu halten und wirtschaftlich voll auszunützen, muss mit den betr. Staaten eine Vereinbarung voraufgehen. Die im östlichen Schwarzwalde entspringende ganz Süddeutschland durchquerende Donau vollends ergießt sich in das Schwarze Meer! Sie hat nicht nur das Gesicht Süddeutschlands von Norddeutschland abgekehrt und dadurch die nationale Einigung in hohem Maße erschwert, sie gehört überdies in ihrem Mittel- und Endlauf fremden, deutschfeindlichen Völkerschaften. Das „Eiserne Tor“, die Felsenenge, durch die sie vor der Wallachischen Ebene hindurch muss, ein Schiffshindernis, das selbst die heutige Technik nicht ganz hat beseitigen können, hat von jeher den Völkerstrom schwer gehemmt. Diese Beschaffenheit des gewaltigen Stromes, nach der Wolga des längsten und wasserreichsten des europäischen Festlandes, ist insbesondere für Österreich, den Donaustaat, ein elementares, tragisches Verhängnis, das sich durch keine Menschenkunst überwinden lässt.


Um das Missgeschick Deutschlands in Bezug auf sein Verhältnis zum Meere und seine Flussläufe, im Vergleich zu begünstigteren Völkern, in seiner Tragweite zu ermesset, braucht man nur einen Blick auf das benachbarte Frankreich zu werfen. Drei Küsten! Im Norden der weit geöffnete Ärmelkanal, im Westen der Atlantische Ozean selbst, im Süden das Mittelländische Meer, von dem Deutschland fast 400 km weit abliegt! Dementsprechend Flüsse, im zentralen Hochland entspringend und in alle j drei Richtungen dem Meere zuströmend! Eine Lage, die, zumal der warme Golfstrom West- und Nordküste streift, auch klimatisch das denkbar erwünschteste ist. Was Wunder, daß der Franzose sein „schönes Frankreich“, ein Stück Erde wie es kein zweites auf dem Erdenrunde gibt, über alles liebt und preist, so überaus schwer verlässt.

Derart inmitten des europäischen Festlandes gelegen, ohne freien Zugang zum Weltmeere, mußte Deutschland, wollte es aus dieser Enge und Einzwängung heraus, nicht verkümmern, für seine Erzeugnisse sich einen Absatzmarkt sichern, für die ihm unentbehrlichen Rohstoffe nicht ausschließlich auf die Fremde angewiesen bleiben, für seine unternehmende und überschüssige Bevölkerung jenseits der Meere eine Heimstätte gewinnen, — eine Seemacht werden. „Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser!“ Durch die tatkräftige Beherzigung dieses glücklichen Kaiserwortes hat sich Deutschland den Weltkreis erschlossen. Damit aber ist es allerorts auf England gestoßen, Bismarck hat es zwar gewagt, auf Afrika und in der Südsee die deutsche Fahne zu hissen, zu einer Zeit, als sich die deutsche Kriegsflotte noch im embryonalen Stadium befand, er konnte indes nicht vorsichtig genug verfahren, um einem Zusammenstoß mit England aus dem Wege zu gehen. An eine wirksame Verteidigung der deutschen Pflanzstätten war im Kriegsfall mit England nicht zu denken. Um nur übers große Wasser zu kommen, fehlte es so völlig an festen Stützpunkten oder nur Kohlenstationen unterwegs, der Engländer hatte diese sämtlich so in seiner Gewalt und dazu auch noch die Kabel, daß die deutschen Kriegsschiffe draußen auf dem Weltmeere, wie die englischen Schuljungen höhnten, nur „altes Eisen“ darstellten. Eine derartig gefährdete Lage und hochgradige Hilflosigkeit war auf die Dauer unerträglich. Je mehr sich Deutschlands Welthandel und Pflanzstätten entwickelten, um so unentbehrlicher wurde eine entsprechende für ihren Schutz zureichende Flottenmacht. Sobald indes diese so weit erstarkt war, daß selbst England mit ihr ernstlich zu rechnen beginnen mußte, war es mit der britischen „Freundschaft“ endgültig vorbei. In Downingstreet versuchte man zunächst, das Deutsche Reich als kontinentalen Degen gegen Russland zu nutzen: das hätte zwei Fliegen mit einer Klappe gegeben. Als man in Berlin hierfür nicht zu haben war und es klar war, daß Deutschland seine eigenen Wege zu gehen entschlossen blieb, wurde das politische Spielbrett umgekehrt — verständigte man sich mit Frankreich und Russland gegen Deutschland. Man mochte an der Spree den Staatslenkern an der Themse noch so entgegen kommen und eine Verständigung anstreben — „Warum habt Ihr eine Flotte?!“ — Sobald Deutschland nicht willens war, auf den weiteren Ausbau einer solchen zu verzichten, vor England die Segel zu streichen, gab es keinen Ausgleich, mußte die deutsche Seemacht vernichtet werden! Man begnügte sich an der Themse nicht einmal mehr mit dem Zweimächte-Maßstab, sondern legte für jeden deutschen Panzer ihrer zwei auf Stapel. Und baute außerdem ungezählte für andere Mächte, die im Kriegsfall — beschlagnahmt werden konnten, wie dies u. a. mit den zwei für die Türkei bestimmten geschehen ist. Außerdem mußten die Kolonien Kanada, Australien, Süd-Afrika bauen, was sie nur konnten. Um eine absolut überwältigende Streitmacht in der Nordsee bereit zu haben, wurde ein beträchtlicher Teil des englischen Mittelmeer-Geschwaders dahin verlegt, und zum „Schutze“ des Mittelmeeres, gegen Österreich und Italien, die Verbündeten des Deutschen Reiches, die französische Kriegsflotte in Anspruch genommen, deren Standort von Brest nach Toulon verlegt wurde! Dafür übernahm England den Schutz der französischen Nordküste, die es solcherweise zunächst in seine Gewalt bekam. Selbst aus dem Großen Ozean wurde die englische Flotte zurückgezogen und dieser den — Japanern überlassen!

So fest entschlossen war man in London, um jeden Preis mit der deutschen Flotte aufzuräumen.

Schon gelegentlich der Spannung wegen Marokko, das die Engländer den Franzosen zugeschanzt hatten, auch um eventuell den erwünschten „Kriegsfall“ mit Deutschland herbeizuführen, wäre es zum Schlagen gekommen, hätten die Franzosen nicht damals noch erkannt, daß sie die Kastanien aus dem Feuer holen sollten und die Zeche zu bezahlen haben würden, und wäre die deutsche Politik nicht so entschieden auf Frieden gestellt gewesen. Dass Deutschland einen kleinen Kreuzer nach der Araberstadt Agadir in Südmarokko abordnete, um zu zeigen, daß es sich nicht wie Luft behandeln lasse und entschlossen sei, seine gefährdeten Handelsinteressen wahrzunehmen, genügte, die Welt gegen dasselbe in die Schranken zu rufen, als wolle Deutschland die Welt erobern! Worauf es abgesehen war, verrieten die Minister an der Themse nur zu deutlich, indem sie hinausriefen, daß England nie dulden werde, daß Deutschland einen Hafen am Atlantischen Ozean habe, gar an der weit in diesen vorspringenden Westküste Afrikas, so wenig weit entfernt von Gibraltar! Parlament und Presse machten hierzu begeistert Chorus. Konnte unzweideutiger kundgegeben werden, daß Deutschland überhaupt vom Weltmeere fern gehalten werden sollte?

Gab Deutschland sein Kapital her, um die türkische Bagdadbahn auszubauen, die von Kleinasien aus, an den persischen Golf führen sollte, so legte sich England vor, indem es, nicht zufrieden, den Golf selbst zu beherrschen und mit seinen Kanonenbooten bis nach Mesopotamien hinein zu fahren, zum mindesten das Endstück des geplanten Eisenstranges unter seine Kontrolle bringen wollte. Die im Bau begriffene Bahn diente zudem der Diplomatie dazu, Russland gegen Deutschland in Atem zu halten, ähnlich wie Frankreich mittels Marokkos.

Auch Österreich durfte, obgleich es mit seinen 50 Millionen Einwohnern als einzigen Zugang zum Meere ein Stück Küste der Adria sein nennt, nicht einmal an das ägäische Meer, nach Saloniki. Dies zu verhindern, waren die Balkanvölker da.

Kam es zum Kriege zwischen England, Russland und Frankreich gegen Deutschland und Österreich, so waren die Siegesaussichten auf Seiten des Dreiverbandes um so größer, als vorauszusehen war, daß Italien, obgleich zum Dreibunde gehörig, sich diesem im Kriegsfalle versagen werde. Nicht nur seines Begehrens wegen nach dem österreichischen Tridentinum und Triest, sowie der Herrschaft über das adriatische Meer, seines Gegensatzes zu Österreich wegen, sondern auch weil es von der See aus durch England und Frankreich nur zu leicht schachmatt gesetzt werden kann. Toulon, Korsika, Biserta und — Malta! Wie soll die langgestreckte, schmale Halbinsel von diesen uneinnehmbaren Seefesten und Kriegshäfen aus bedroht, sich einer ohnehin überlegenen Flottenmacht gegenüber erwehren? Vollends, da es zugleich das kürzlich mit schweren Opfern eroberte Tripolis zu schützen gilt! Im Westen von dem französischen Tunis, im Osten von dem englischen Ägypten eingeschlossen, ist Italien durch Besitznahme von Tripolis auch auf dem afrikanischen Festlande zwischen England und Frankreich eingekeilt, von ihnen in erschreckendem Maße abhängig geworden. Schon seine Kolonie am Roten Meere, Erythra mit Massaua, hatte es an England gekettet. Mit England im Kriege — ist es alsbald von seinen afrikanischen Besitzungen abgeschnitten und außerstande, diese zu verteidigen, vermag es weder Truppen über das Wasser zu bringen, noch sich mit dem unentbehrlichen Getreide zu versorgen.

Italien kann in der Tat von dem meerbeherrschenden Albion ausgehungert werden! Um es ins Kriegslager des Dreiverbandes zu bringen, geniert sich denn auch der Russe neuerdings nicht, dies Zwangsmittel in Aussicht zu f stellen. „Folgst du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt!“*)

Sollten die italienischen Staatslenker indes nicht aus dieser Lage heraus erkennen, daß Italien, wie es seine nationale Einheit nur mit Hilfe der deutschen Waffenmacht hat vollenden können (ohne Königgrätz kein Venedig, ohne Sedan kein Rom!) es nur im Bunde mit dem zugleich erstandenen deutschen Reiche seine Selbständigkeit behaupten und sich naturgemäß als erstklassige Mittelmeermacht auswachsen kann? Dass Russland ins Mittelländische Meer eindringt und sich mit Hilfe der Serben und Südslaven sogar an der Adria festsetzt, diese womöglich zu einem slavischen Wasser macht, kann Italien unmöglich passen. Auch wenn die Engländer zwar den Bosporus und Konstantinopel den Russen einräumen, allein die Dardanellen unter ihre Kanonen bringen (was übrigens der Russe nie zugeben wird), würde dadurch die ohnehin schon unerträgliche englische Kette noch verlängert und angezogen werden, wäre das Schwarze Meer unter englischen Verschluss gebracht. Oder soll Italien den Franzosen zu dem ihm geographisch und völklich zugehörigen Korsika (Nizzas zu geschweigen) und Tunis, wo es heute noch auf einen Franzosen zehn Italiener gibt, lauter Stützpunkte, die Frankreich zu seiner Knebelung benutzt, Syrien und damit den nächsten Zugang zu Vorderasien hinzu erobern helfen? die endgültige Aufteilung der Türkei mit herbeiführen, der es zwar Tripolis entrissen hat, die es aber deswegen erst recht als Schutzwehr gegen Russland, England, Frankreich und auch Griechenland gebrauchen kann? Wenn Engländer und Franzosen beim blindwütigen Ansturm gegen die Dardanellenenge ihre Panzer zu Grunde richten, sollte darob nirgends hellere Freude herrschen als im — Quirinal. Noch einmal eine katastrophale Niederlage, wie die von ihnen am 18. März d. Js. erlittene, und Italien kann frei aufatmen, ist es den englisch-französischen Alp los, gehört es, so es ihm an Selbstvertrauen und Entschlossenheit nicht gebricht, endlich sich selber an.

*) Während diese Schrift in Druck geht, hat sich in der Tat, dem Drucke des Dreiverbandes nachgebend, der Treubruch Italiens vollzogen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Völker und das Meer im Lauf der Jahrtausende