Abschnitt 7 - Der kranke Mann am Bosperus

Die Türkei endlich! Auch sie hat, um das östliche Becken des Mittelmeeres sowie das Schwarze Meer zu beherrschen und damit sich Vorderasiens, Ägyptens, Griechenlands, des Balkans und Südrusslands zu bemächtigen, selbstverständlich einer gebieterischen Flottenmacht bedurft. Im westlichen Mittelmeer hat sie zwar die afrikanischen Uferstaaten unter ihr Schwert gebracht, allein hier hat die spanisch-italienische Flottenmacht unter Carl V. und Philipp II. ihr ein Halt geboten; seit der Schlacht von Lepanto sind die Türken über Malta, wo die von Rhodus von ihnen vertriebenen Ritter auf Wache standen, nicht hinaus gekommen. Zwei Jahrhunderte nach Lepanto ist es dann der russischen Flotte, die dazu um Europa herum ins Mittelmeer eingefahren ist, geglückt, der türkischen bei Tschesme, an der kleinasiatischen Küste, in der Nähe der Insel Chios, auch im östlichen Becken, eine vernichtende Niederlage beizubringen. Auch über ihre Flottenmacht im Schwarzen Meere ist Russland Herr geworden. Bis ihrer gesamten Seemacht durch die vereinten Flotten Rußlands, Frankreichs und Englands bei Navarino (1826) ein Ende bereitet worden ist. Seither hat die Türkei nur noch durch den Besitz des Bosporus und der Dardanellen maritime Bedeutung. Verliert sie diese, verliert sie Konstantinopel und damit den letzten Rest ihrer Stellung auf europäischem Boden, ist sie auf Vorderasien zurückgeworfen. Ob es ihr dann noch gelingt, die kleinasiatische Küste zu behaupten? Schon haben die Griechen, die sie bereits vor drei Jahrtausenden im Besitz gehabt haben, die dicht vorgelagerten Inseln zum größten Teil wieder inne.

Vorerst zeigt indes der „kranke Mann“ am Bosporus, den Katharina II. schon anfangs der 70er Jahre des 18. Jahrhunderts begraben und beerben zu können gemeint hat, noch einmal, was er, trotz aller Schwächungen und Beschneidungen, kraft der maritimen Lage des ihm gehörigen Vorderasiens, vermag. Zwei deutsche Panzerkreuzer haben genügt, ihm auf dem Schwarzen Meere wieder das Übergewicht zu verschaffen und die russische Flotte nach Sebastopol hinein zu jagen. Jene Engländer, die er nach Konstantinopel geladen hatte, um seine Flotte zu reorganisieren, die jedoch sich nur eingeschlichen hatten, um diese in ihre Hand zu bekommen, können, nachdem sie den Laufpass erhalten haben, sehen, wie sie wieder ins Marmarameer hineinkommen, wie sie das so dreist usurpierte Nilland oder den Suezkanal behaupten und auch in Mesopotamien und am persischen Golfe keine Niederlage erleiden! Dass sie, statt, wie bis vor kurzem, die Türkei als Schutzwall gegen Russland zu nutzen und demgemäß zu stützen, sie nunmehr mit Russland teilen wollen, dürfte ihnen nicht nur das Nilland, sondern auch Südpersien und am Ende noch ganz Indien kosten.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Völker und das Meer im Lauf der Jahrtausende