Abschnitt 2 - Das Zeitalter der Entdeckungen oder des Kompasses.

Eine völlig neue Zeit brach an, insbesondere für das westliche Europa, mit dem Zeitalter der Entdeckungen oder des Kompasses. Die Rolle, welche die einzelnen Staaten und Völker dabei spielten, ist durch ihre geographische Lage bedingt worden, Portugal, als die äußerste Südwestspitze des Kontinents, eröffnete den Reigen, indem Heinrich der Seefahrer sich von der Vorstellung leiten ließ, daß er auf dem Wasserwege, an der atlantischen Küste Afrikas entlang, um die Araber, gegen die man zu Lande und in der Front nicht aufzukommen vermochte, herumkommen und ihnen in den Rücken fallen könne. Statt dessen kamen die Portugiesen auf diesem Wege um das Kap herum nach Indien, was einer Welteroberung gleich kommen sollte.

Der märchenhafte Erfolg des Portugiesen raubte dem Spanier den Schlaf. Damit kam der Tag des Columbus. Die Frage war, ob es, in Anbetracht der Kugelgestalt der Erde, wie sie jetzt feststand, nicht möglich sei — von Europa aus nach Asien und damit nach Indien und zu den Gewürzinseln zu gelangen, indem man, statt um Afrika herum, westwärts, gradwegs durch den Atlantischen Ozean hindurchsteuerte. Der Florentiner Toscanelli war hiervon fest überzeugt. Er erachtete überdies diesen Weg für weitaus den kürzeren und leichteren. Wusste er doch nicht anders, als daß, wie in der Bibel zu lesen stand, fünf Sechstel der Erdoberfläche Land und nur ein Sechstel Wasser sei! Zudem war Asien, nach dem Tagebuch seines ersten Durchquerers, des Italieners Marco Polo, so unermesslich in der Breite, daß dessen Ostküste von der Westküste Europas unmöglich sehr weit entfernt sein konnte. Columbus, der Bibelgläubige und kühne Seefahrer in einer Person, zweifelte um so weniger an der Richtigkeit der Annahme des Toscanelli, als er selbst auf den portugiesischen Inseln fremdartige Hölzer und Leichname hatte anschwemmen sehen. Und so ruhte er nicht, bis ihm Ferdinand und Isabella, die Katholischen, in ihrer ersten -Siegesfreude über die Vertreibung der Araber aus Oranada, die erforderlichen Schiffe anvertrauten; ließ er sie doch hoffen, daß er auf diese Weise nicht nur den kürzesten Weg zu den Gewürzinseln finden werde, sondern nach — Jerusalem!


Schiller hat zwar in einem Distichon Columbus als typisch für das Genie gefeiert, das nicht fehl gehen kann, weil es mit der Natur selbst im Einklang ist; allein das „Genie“, das Columbus den Weg gewiesen hat, ist Toscanelli gewesen. Columbus selbst war nur der verwegene, goldgierige Abenteurer und phantastische Kirchengläubige, der um seines eigenen Seelenheiles willen es nicht erwarten konnte, daß die letzten Heiden, vor dem, wie er meinte, nahe bevorstehenden Weltuntergange, zum römischen Christentum bekehrt würden. Obgleich er den Atlantischen Ozean viermal durchsegelt und auf seiner letzten Fahrt die amerikanische Küste am Isthmus, bei Colon, gestreift hat, ist er gestorben in der unerschütterlichen Überzeugung in — Asien gewesen zu sein! Hiervon hat ihn nicht einmal jener Amerigo Vespucci abzubringen vermocht, der den südamerikanischen Weltteil als solchen richtig erkannt hatte. Der wirkliche Entdecker Amerikas ist demnach keineswegs Columbus, sondern Amerigo Vespucci, und ist es nur in der Ordnung, daß der Weltteil dessen Namen trägt. Columbus ist nur der Entdecker der Westantillen, die er aber Asien unmittelbar vorgelagert gewähnt hat.

1513 überstieg Bilbao die Landenge von Panama und erblickte als erster Europäer vom amerikanischen Gestade aus den Großen Ozean. Bis an die Knie hinein springend, schwang er das Schwert in alle vier Himmelsrichtungen, um so das unermessliche Wasser mit all seinen Küsten für den König von Spanien in Besitz zu nehmen! 1520 umschiffte Magelhaens, ein Portugiese in spanischen Diensten, durch die nach ihm benannte Meerenge den neuen Weltteil an seiner Südspitze, um als Erster in die Südsee einzufahren, die er infolge ihrer vergleichsweisen Stille den Stillen Ozean zubenannte. Er gelangte bis zu den Philippinen, wo er erschlagen wurde. Sein Schiff „Victoria“ aber kehrte glücklich nach Spanien zurück und hatte damit die erste Weltumsegelung vollbracht.

Diese Entdeckungsfahrten der Portugiesen und Spanier durch das Weltmeer, rings um die Erde, wobei für die Europäer eine neue Welt nach der anderen auftauchte, hatten zur Folge, daß, um Streitigkeiten zwischen den beiden Rivalen vorzubeugen, der Papst, als höchste irdische Autorität, angegangen wurde, eine Demarkationslinie zu ziehen. Danach sollte die östliche Hälfte der Erdkugel den Portugiesen, die westliche den Spaniern gehören! Da beide gleicherweise von kirchlichen Gesichtspunkten angetrieben und beherrscht wurden, es neben der Gewinnung von Reichtümern auf die Bekehrung der Heiden zum römisch-katholischen Christentum abgesehen war, kamen ihre Weltreiche ihrem ganzen Umfange nach unter das Szepter des römischen Stuhles.

Das kleine Portugal gelangte so in Besitz der Gewürzinseln oder Ostantillen, dazu weiter Küstenstriche von Indien und Afrika, nebst vorgelagerten Inseln, und von — ganz Brasilien! Die Spanier bemächtigten sich der Westantillen, ganz Mittelamerikas, des übrigen Südamerika, Floridas, Kaliforniens und der Philippinen.

Schon Karl V. rühmte sich, daß in seinem Reiche die Sonne nicht untergehe. Vollends als Philipp II. die Kronen Spaniens und Portugals auf seinem Haupte vereinigte, war ein breiter, mächtiger Gürtelstreifen rings um die Erdkugel unter ein Szepter gebracht.

Der nordamerikanische Weltteil sollte den ihm gegenüberliegenden europäischen Staaten zufallen. Vorübergehend hatten ihn schon im 10. Jahrhundert Nordmänner von Island aus gestreift und betreten; endgültig entdeckt wurde er 1497 von Bristol aus, durch die Gebrüder Caboto. Um ihn ist ein Jahrhundert langer Kampf zwischen Frankreich und England entbrannt. Die Franzosen waren zu ihrem Verhängnis zu weit nördlich angefahren, in die eisige Region des Lorenzstromes hinein. Von diesem aus haben sie indes den Weg an die großen Seen gefunden und damit in das Tal des Mississippi, der das ganze Innere, vom Felsengebirge bis zu den Alleghany, bewässert und entsprechend zugänglich macht, um sich in den Golf von Mexiko zu ergießen, wo sie ihr Neu-Orleans gründeten. An der atlantischen Küste indes vermochten sie sich weder gegen die Spanier noch gegen die Engländer zu behaupten. Die Verbrüderung der Bourbonen-Dynastien und damit das Bündnis mit Spanien weckte in ihnen die Hoffnung, die englischen Kolonisten an der atlantischen Küste vom Innern aus, mit Hilfe der Indianer, „ins Meer zu drängen“. Statt dessen verloren sie in der Schlacht bei Quebek mit Kanada ganz Nord-Amerika.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Völker und das Meer im Lauf der Jahrtausende