Stilarchitektur und Baukunst
Wandlungen der Architektur im XIX. Jahrhundert und ihr heutiger Standpunkt.
Autor: Muthesius, Hermann (1861-1927), Erscheinungsjahr: 1902
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Inhaltsverzeichnis
Ich hege die Hoffnung, dass gerade von den notwendigen und anspruchslosen Bauten die neue und echte Architektur, die wir erwarten, ausgehen wird, viel eher jedenfalls, als aus dem Experimentieren mit den mehr oder weniger anspruchsvollen Architekturstilen.
William Morris.
I. Es herrscht heute wohl allgemeines Einverständnis darüber, dass von allen Künsten die Architektur die am wenigsten verstandene ist, diejenige, der das Volk das verschwindendste Interesse entgegenbringt. Ja, man kann heute in Deutschland ernstlich darüber streiten hören, ob die Architektur überhaupt zu den Künsten gehöre, ob der Architekt ein Künstler sei oder nicht. Die alte in allen Zeiten gültig gewesene Wahrheit, dass die Architektur die Mutter aller Künste sei, dass alle bildende Künste: Malerei, Skulptur und die gesamten Kleinkünste von ihr abhängig seien, gewissermaßen unter ihrer Führung marschierten, sie klingt heute wie ein Märchen. Und doch, wir brauchen uns nur die großen Blüten der Baukunst, die griechische, römische, gotische Zeit ins Gedächtnis zu rufen, um zu sehen, dass diese Wahrheit damals so selbstverständlich war, dass gar niemand sie auszusprechen brauchte. Die gesamte bildende Kunst dieser Zeiten stand unter dem Zeichen der Architektur, man kann sagen: sie war Architektur. Das Gemälde war Wandbild, im Dienste eines architektonischen Gedankens auftretend, das Bildhauerwerk war Schmuck der Architektur, wie der Edelstein die goldene Krone schmückt, die Kleinkünste d. h. für die damaligen Zeiten das Handwerk waren selbstverständlich Teile der Architektur.
Dass dies heute so ganz anders geworden ist, ja, dass uns dieses uralte Grundverhältnis der bildenden Künste zu einander so ganz fremdartig anmutet, ist der beste Beweis dafür, unter welchen gekünstelten Umständen sich unser heutiges Kunstleben bewegt. Unsrer bildenden Kunst ist der Boden entzogen, sie schwebt gewissermaßen in der Luft. Malerei und Bildhauerei ermangeln dazu heute jenes straffen Zuges, den ihnen ihre Abhängigkeit von der Architektur von selbst aufnötigte; die gebundene dekorative Linie, die bis einschließlich der Frührenaissance vorherrschte, ist verloren gegangen. Sie haben sich mehr oder weniger ins Anekdotenhafte verloren, und die Anekdote ist es denn auch fast allein, die heute das Interesse des großen Publikums an ihnen noch wach hält. Die Kleinkünste treiben selbst in dem neuen glücklichen Aufschwung, den sie gerade am Ende des neunzehnten Jahrhunderts noch genommen haben, ratlos umher, so lange ihnen der Hort der großen Mutter Architektur, in diesem Falle das künstlerische Haus, fehlt.
Auf welchem Standpunkte befindet sich aber unsere heutige Architektur?
Über diese Frage kann uns am besten ein Rückblick auf den Weg belehren, den sie in ihren letzten Entwicklungsabschnitten, vorwiegend aber im neunzehnten Jahrhundert eingeschlagen hat.
Als wir die Schwelle des neuen Jahrhunderts überschritten, hat es nicht an Betrachtungen gefehlt, die den Inhalt des scheidenden Jahrhunderts in zwei Worten zusammenzufassen versuchten. Man hat das neunzehnte Jahrhundert das Jahrhundert des Verkehrs, der Elektrizität, der Naturwissenschaften, der Geschichtsforschung, das Jahrhundert der Volksarmeen, der Arbeit, der Maschinen genannt. Alle diese Benennungen haben an sich wenig Wert, aber betrachtet man sie in ihrer Gesamtheit, so fällt eins an ihnen auf: keine einzige Stimme hat sich bisher erhoben, die es gewagt hätte, das neunzehnte Jahrhundert das Jahrhundert der Kunst zu nennen. Alle Errungenschaften, die man hervorgehoben hat, sind wissenschaftlicher Natur, solche, die der Verstandestätigkeit des Menschen zufallen, von der Kunst wurde nicht gesprochen, sie hat offenbar im neunzehnten Jahrhundert keine Rolle gespielt. Und in der Tat, es ist zwar in diesem Jahrhundert auf allen Gebieten ganz gewaltig gearbeitet worden, über die gesamte Kulturmenschheit ist ein Trieb der Betätigung, ein Ernst der Lebensauffassung, ein Forschungs- und Erwerbsdrang hereingebrochen, der früheren Zeiten unbekannt war, aber die Tätigkeit war doch eine sehr einseitige, nämlich eine rein verstandliche oder erwerbstechnische. Und so kann man das vergangene Jahrhundert wohl als das große Jahrhundert der Verstandesarbeit bezeichnen, will man aber eine Beziehung auf die Kunst, insbesondere auf die bildende Kunst zum Ausgang einer Namengebung wählen, so bleibt, wohl keine andere übrig, als die des „unkünstlerischen Jahrhunderts“.
Zur Beurteilung der Frage, wie weit eine Zeit künstlerisch oder unkünstlerisch zu nennen ist, ist kein Umstand so maßgebend als der, wie weit die Kunst Eigentum des ganzen Volkes, wie weit sie ein wesentlicher Teil der Geistesgüter der Zeit ist. In dieser Beziehung müssen fast alle Urvölker künstlerisch genannt werden; denn die erste menschliche Betätigung, wie sie sich in der Herstellung von Waffen und Gerät äußert, ist auch bei den wildesten Völkern nur selten von künstlerischer Betätigung zu trennen, worüber uns ein Gang durch unsere Museen für Völkerkunde belehren kann. Eben dass dies so ist, zeigt uns, dass der Kunsttrieb zu den Elementarkräften der Menschheit gehört und wirft ein um so eigentümlicheres Licht auf eine Zeit wie die unsere, die diese Kräfte der Verschrumpfung überlassen hat.
Von historischen Zeiten ragen in unsrer westlichen Kultur zwei Glanzperioden der Menschheit als vorwiegend künstlerisch heraus: das griechische Altertum und das nordische Mittelalter, das erstere eine Höhenmarke in künstlerischer Beziehung andeutend, die die Welt wohl kaum je wieder zu erreichen hoffen kann, das zweite wenigstens jene vollkommene künstlerische Selbständigkeit und jene unbedingte Volkstümlichkeit der Kunst verkörpernd, die man als Grundbedingungen einer künstlerischen Zeit voraussetzen muss. Die griechische Kunst war so mächtig, so triumphierend, so überlegen, dass nicht nur die gesamte Kultur ihres Heimatlandes unter ihrem Einfluss stand, sondern dass auch das ganze mächtige römische Reich — künstlerisch selbst unfruchtbar — lediglich von ihr lebte.
Die gotische Kunst, keineswegs ohne allen Zusammenhang mit jener, aber doch eine vollkommen selbständige Kulturerscheinung, ist die einzige Originalkunst, die in der abendländischen Kulturwelt neben der griechischen Kunst entwickelt worden ist. Hing von der griechischen Kunst das ganze Altertum ab, so ruhen in der Gotik die Wurzeln der Kunst einer neuen Zeit, der Kunst der nordischen Völker, aus denen sich in jener ersten gotischen Blütezeit eine so herrliche Frühernte der Architektur und der von ihr abhängigen Künste entwickelte. Das gotische Mittelalter bildet den ersten Triumph einer von der klassischen grundverschiedenen Kunst, hochentwickelt, durchaus einheitlich in allen ihren Erscheinungen, alle Leistungen der menschlichen Hand durchdringend und vor allem im besten Sinne volkstümlich. Es ist daher eine in ihrer Art durchaus vollkommene Kunstzeit.
Wie alles in der Welt war sie der Entwicklung und das Wandelbare in ihr dem Wechsel unterworfen. Es kam die Zeit, da die antike Welt, deren Geist auch nach ihrem körperlichen Untergange in mächtiger Größe fortlebte, neue künstlerische Ideale über den Norden brachte. Die Zeit des Humanismus in den Geisteswissenschaften, der Renaissance in den Künsten trat ihre Herrschaft an und führte eine Blütezeit der Künste herauf, die sich bezeichnender Weise besonders in der Malerei und Skulptur zeigte. In der Architektur war sie durchaus nicht in gleichem Masse vorhanden. Konnten damals in der Malerei und in gewissem Sinne auch in der Bildhauerkunst die neuen Einflüsse auf Vorhandenes einwirken, ein vorliegendes Frühalter zur Reife bringen, so wurde in der Architektur mit einer vollentwickelten Kunst barsch gebrochen, eine reichentfaltete Kunstüberlieferung in die Ecke geworfen. Was man dafür als Renaissancebaukunst erreichte, konnte doch nur ein blasses Abbild einer besseren Originalkunst sein, worüber jeder Italienreisende klar sein wird, wenn er bemerkt, wie ein einziges antikes Bauwerk — etwa das Kolosseum oder das Pantheon in Rom — die ganze Renaissancebaukunst in den Schatten stellt.
Aber noch ein anderer Bestimmungswert für die Kunst wurde mit jener Zeit geboren. Die Renaissance brachte in die gleichmäßig geschichteten Volksklassen des Mittelalters eine gesellschaftliche Abspaltung. Sie brachte den Begriff des „Gebildeten“ mit sich, des in den klassischen Sprachen Erfahrenen, dessen Gesamtheit fortan die geistige Auswahl des Volkes darstellte und sich von dem volkstümlichen Untergrund der Nation als besondere Gesellschaftsklasse abhob. An sie war auch die neue Kunst gebunden. Es entstand von jetzt an eine Kunst für die herrschende Klasse an Stelle der gotischen Volkskunst, das Schicksal der Kunst ruhte jetzt bei den höheren Ständen, der reiche und gebildete Kunstbeschützer beschäftigte den Künstler.
Auf den Handwerker, den Kleinkünstler und das ganze Werkgefolge des Architekten hatte die neue Kunstbewegung deshalb nicht den unheilvollen Einfluss, den man bei dem Abbrechen aller formalen Überlieferung hätte erwarten können, weil der neue Geist immerhin verhältnismäßig langsam eindrang und der treffliche Zunftgeist der damaligen Zeit das Neue kräftig assimilierte. So hatte der starke gotische Werkcharakter nur dazu beigetragen, auch für die neu eindringenden Kunstformen eine vorzügliche Schulung abzugeben, in der auch die künstlich aufgepfropfte Renaissancekunst gedeihen konnte. Aber die Malerei und Skulptur hatten sich bei dieser Gelegenheit — der ersten künstlerischen Revolution unserer Kultur — selbständig gemacht. Besonders die Malerei wandelte fortan unabhängig von der Architektur ihre Wege, sie strebte dem Tafelbilde zu, in welchem sie in der Folge ihr Schwergewicht fand und sich vollkommen erschöpfte.
Im Verlauf der Renaissancekunst schwankte die Architektur zwischen einer Art selbständiger Weiterbildung der Formen und zeitweisem innigeren Rückanschluss an die alte Mutterkunst Antike hin und her. Um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts war man von der letzteren am weitesten abgewichen, man war in eine beinahe original zu nennende, liebenswürdig-heitere, eine leichte Lebensfreude atmende Kunst geraten, in das sogenannte Rokoko.
Betrachtet man die damalige Kunst in Bezug auf ihre Einheitlichkeit und von dem vorhin erwähnten Gesichtspunkte aus, wie weit sie Allgemeingut war, so muss man ihr ein hohes Zeugnis ausstellen. Sie spiegelte nicht nur das Leben der Zeit in einer vollendeten Weise wieder, sondern durchdrang auch, ähnlich wie es in der Gotik der Fall gewesen war, alle Lebensäußerungen der Zeit vollkommen. Von der Tabakdose des einfachen Bürgers bis zum vollendetsten Kunstmöbel der fürstlichen Zimmerausstattung, von der kleinstädtischen Bürgerhausfassade bis zur prunkenden Jesuitenkirche haben wir ein vollständig einheitliches Kulturbild vor uns. Malerei, Skulptur und Architektur atmen denselben Geist. Vor allem aber war der gesamte Handwerkerstand in der Formensprache der Zeit so zu Hause, dass sie ihm wirklich als das natürliche Ausdrucksmittel erschien, an dessen Richtigkeit niemand zweifelte. Und diese Formensprache wurde von jedem Handwerker und Kleinkünstler in einer Vollkommenheit gehandhabt, dass uns heute das alltäglichste der damaligen Handwerkserzeugnisse als Kunstwerk erscheint, wert in unsere Museen zu wandeln, oder den Schrank des Sammlers zu zieren. Die Architektur aber, die noch durchaus eine vorherrschende Stellung, wenn auch keine so allbeherrschende wie in der Gotik einnahm, war selbst in ihren letzten Abwandlungen, den Leistungen des Maurermeisters so gut und sicher, dass die Bauten jener Zeit uns jetzt wie eine Erquickung anmuten. Wenn wir heute auf jene Zeit zurückblicken, so erscheint sie uns vom künstlerischen Standpunkte aus durchaus paradiesisch.
William Morris.
I. Es herrscht heute wohl allgemeines Einverständnis darüber, dass von allen Künsten die Architektur die am wenigsten verstandene ist, diejenige, der das Volk das verschwindendste Interesse entgegenbringt. Ja, man kann heute in Deutschland ernstlich darüber streiten hören, ob die Architektur überhaupt zu den Künsten gehöre, ob der Architekt ein Künstler sei oder nicht. Die alte in allen Zeiten gültig gewesene Wahrheit, dass die Architektur die Mutter aller Künste sei, dass alle bildende Künste: Malerei, Skulptur und die gesamten Kleinkünste von ihr abhängig seien, gewissermaßen unter ihrer Führung marschierten, sie klingt heute wie ein Märchen. Und doch, wir brauchen uns nur die großen Blüten der Baukunst, die griechische, römische, gotische Zeit ins Gedächtnis zu rufen, um zu sehen, dass diese Wahrheit damals so selbstverständlich war, dass gar niemand sie auszusprechen brauchte. Die gesamte bildende Kunst dieser Zeiten stand unter dem Zeichen der Architektur, man kann sagen: sie war Architektur. Das Gemälde war Wandbild, im Dienste eines architektonischen Gedankens auftretend, das Bildhauerwerk war Schmuck der Architektur, wie der Edelstein die goldene Krone schmückt, die Kleinkünste d. h. für die damaligen Zeiten das Handwerk waren selbstverständlich Teile der Architektur.
Dass dies heute so ganz anders geworden ist, ja, dass uns dieses uralte Grundverhältnis der bildenden Künste zu einander so ganz fremdartig anmutet, ist der beste Beweis dafür, unter welchen gekünstelten Umständen sich unser heutiges Kunstleben bewegt. Unsrer bildenden Kunst ist der Boden entzogen, sie schwebt gewissermaßen in der Luft. Malerei und Bildhauerei ermangeln dazu heute jenes straffen Zuges, den ihnen ihre Abhängigkeit von der Architektur von selbst aufnötigte; die gebundene dekorative Linie, die bis einschließlich der Frührenaissance vorherrschte, ist verloren gegangen. Sie haben sich mehr oder weniger ins Anekdotenhafte verloren, und die Anekdote ist es denn auch fast allein, die heute das Interesse des großen Publikums an ihnen noch wach hält. Die Kleinkünste treiben selbst in dem neuen glücklichen Aufschwung, den sie gerade am Ende des neunzehnten Jahrhunderts noch genommen haben, ratlos umher, so lange ihnen der Hort der großen Mutter Architektur, in diesem Falle das künstlerische Haus, fehlt.
Auf welchem Standpunkte befindet sich aber unsere heutige Architektur?
Über diese Frage kann uns am besten ein Rückblick auf den Weg belehren, den sie in ihren letzten Entwicklungsabschnitten, vorwiegend aber im neunzehnten Jahrhundert eingeschlagen hat.
Als wir die Schwelle des neuen Jahrhunderts überschritten, hat es nicht an Betrachtungen gefehlt, die den Inhalt des scheidenden Jahrhunderts in zwei Worten zusammenzufassen versuchten. Man hat das neunzehnte Jahrhundert das Jahrhundert des Verkehrs, der Elektrizität, der Naturwissenschaften, der Geschichtsforschung, das Jahrhundert der Volksarmeen, der Arbeit, der Maschinen genannt. Alle diese Benennungen haben an sich wenig Wert, aber betrachtet man sie in ihrer Gesamtheit, so fällt eins an ihnen auf: keine einzige Stimme hat sich bisher erhoben, die es gewagt hätte, das neunzehnte Jahrhundert das Jahrhundert der Kunst zu nennen. Alle Errungenschaften, die man hervorgehoben hat, sind wissenschaftlicher Natur, solche, die der Verstandestätigkeit des Menschen zufallen, von der Kunst wurde nicht gesprochen, sie hat offenbar im neunzehnten Jahrhundert keine Rolle gespielt. Und in der Tat, es ist zwar in diesem Jahrhundert auf allen Gebieten ganz gewaltig gearbeitet worden, über die gesamte Kulturmenschheit ist ein Trieb der Betätigung, ein Ernst der Lebensauffassung, ein Forschungs- und Erwerbsdrang hereingebrochen, der früheren Zeiten unbekannt war, aber die Tätigkeit war doch eine sehr einseitige, nämlich eine rein verstandliche oder erwerbstechnische. Und so kann man das vergangene Jahrhundert wohl als das große Jahrhundert der Verstandesarbeit bezeichnen, will man aber eine Beziehung auf die Kunst, insbesondere auf die bildende Kunst zum Ausgang einer Namengebung wählen, so bleibt, wohl keine andere übrig, als die des „unkünstlerischen Jahrhunderts“.
Zur Beurteilung der Frage, wie weit eine Zeit künstlerisch oder unkünstlerisch zu nennen ist, ist kein Umstand so maßgebend als der, wie weit die Kunst Eigentum des ganzen Volkes, wie weit sie ein wesentlicher Teil der Geistesgüter der Zeit ist. In dieser Beziehung müssen fast alle Urvölker künstlerisch genannt werden; denn die erste menschliche Betätigung, wie sie sich in der Herstellung von Waffen und Gerät äußert, ist auch bei den wildesten Völkern nur selten von künstlerischer Betätigung zu trennen, worüber uns ein Gang durch unsere Museen für Völkerkunde belehren kann. Eben dass dies so ist, zeigt uns, dass der Kunsttrieb zu den Elementarkräften der Menschheit gehört und wirft ein um so eigentümlicheres Licht auf eine Zeit wie die unsere, die diese Kräfte der Verschrumpfung überlassen hat.
Von historischen Zeiten ragen in unsrer westlichen Kultur zwei Glanzperioden der Menschheit als vorwiegend künstlerisch heraus: das griechische Altertum und das nordische Mittelalter, das erstere eine Höhenmarke in künstlerischer Beziehung andeutend, die die Welt wohl kaum je wieder zu erreichen hoffen kann, das zweite wenigstens jene vollkommene künstlerische Selbständigkeit und jene unbedingte Volkstümlichkeit der Kunst verkörpernd, die man als Grundbedingungen einer künstlerischen Zeit voraussetzen muss. Die griechische Kunst war so mächtig, so triumphierend, so überlegen, dass nicht nur die gesamte Kultur ihres Heimatlandes unter ihrem Einfluss stand, sondern dass auch das ganze mächtige römische Reich — künstlerisch selbst unfruchtbar — lediglich von ihr lebte.
Die gotische Kunst, keineswegs ohne allen Zusammenhang mit jener, aber doch eine vollkommen selbständige Kulturerscheinung, ist die einzige Originalkunst, die in der abendländischen Kulturwelt neben der griechischen Kunst entwickelt worden ist. Hing von der griechischen Kunst das ganze Altertum ab, so ruhen in der Gotik die Wurzeln der Kunst einer neuen Zeit, der Kunst der nordischen Völker, aus denen sich in jener ersten gotischen Blütezeit eine so herrliche Frühernte der Architektur und der von ihr abhängigen Künste entwickelte. Das gotische Mittelalter bildet den ersten Triumph einer von der klassischen grundverschiedenen Kunst, hochentwickelt, durchaus einheitlich in allen ihren Erscheinungen, alle Leistungen der menschlichen Hand durchdringend und vor allem im besten Sinne volkstümlich. Es ist daher eine in ihrer Art durchaus vollkommene Kunstzeit.
Wie alles in der Welt war sie der Entwicklung und das Wandelbare in ihr dem Wechsel unterworfen. Es kam die Zeit, da die antike Welt, deren Geist auch nach ihrem körperlichen Untergange in mächtiger Größe fortlebte, neue künstlerische Ideale über den Norden brachte. Die Zeit des Humanismus in den Geisteswissenschaften, der Renaissance in den Künsten trat ihre Herrschaft an und führte eine Blütezeit der Künste herauf, die sich bezeichnender Weise besonders in der Malerei und Skulptur zeigte. In der Architektur war sie durchaus nicht in gleichem Masse vorhanden. Konnten damals in der Malerei und in gewissem Sinne auch in der Bildhauerkunst die neuen Einflüsse auf Vorhandenes einwirken, ein vorliegendes Frühalter zur Reife bringen, so wurde in der Architektur mit einer vollentwickelten Kunst barsch gebrochen, eine reichentfaltete Kunstüberlieferung in die Ecke geworfen. Was man dafür als Renaissancebaukunst erreichte, konnte doch nur ein blasses Abbild einer besseren Originalkunst sein, worüber jeder Italienreisende klar sein wird, wenn er bemerkt, wie ein einziges antikes Bauwerk — etwa das Kolosseum oder das Pantheon in Rom — die ganze Renaissancebaukunst in den Schatten stellt.
Aber noch ein anderer Bestimmungswert für die Kunst wurde mit jener Zeit geboren. Die Renaissance brachte in die gleichmäßig geschichteten Volksklassen des Mittelalters eine gesellschaftliche Abspaltung. Sie brachte den Begriff des „Gebildeten“ mit sich, des in den klassischen Sprachen Erfahrenen, dessen Gesamtheit fortan die geistige Auswahl des Volkes darstellte und sich von dem volkstümlichen Untergrund der Nation als besondere Gesellschaftsklasse abhob. An sie war auch die neue Kunst gebunden. Es entstand von jetzt an eine Kunst für die herrschende Klasse an Stelle der gotischen Volkskunst, das Schicksal der Kunst ruhte jetzt bei den höheren Ständen, der reiche und gebildete Kunstbeschützer beschäftigte den Künstler.
Auf den Handwerker, den Kleinkünstler und das ganze Werkgefolge des Architekten hatte die neue Kunstbewegung deshalb nicht den unheilvollen Einfluss, den man bei dem Abbrechen aller formalen Überlieferung hätte erwarten können, weil der neue Geist immerhin verhältnismäßig langsam eindrang und der treffliche Zunftgeist der damaligen Zeit das Neue kräftig assimilierte. So hatte der starke gotische Werkcharakter nur dazu beigetragen, auch für die neu eindringenden Kunstformen eine vorzügliche Schulung abzugeben, in der auch die künstlich aufgepfropfte Renaissancekunst gedeihen konnte. Aber die Malerei und Skulptur hatten sich bei dieser Gelegenheit — der ersten künstlerischen Revolution unserer Kultur — selbständig gemacht. Besonders die Malerei wandelte fortan unabhängig von der Architektur ihre Wege, sie strebte dem Tafelbilde zu, in welchem sie in der Folge ihr Schwergewicht fand und sich vollkommen erschöpfte.
Im Verlauf der Renaissancekunst schwankte die Architektur zwischen einer Art selbständiger Weiterbildung der Formen und zeitweisem innigeren Rückanschluss an die alte Mutterkunst Antike hin und her. Um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts war man von der letzteren am weitesten abgewichen, man war in eine beinahe original zu nennende, liebenswürdig-heitere, eine leichte Lebensfreude atmende Kunst geraten, in das sogenannte Rokoko.
Betrachtet man die damalige Kunst in Bezug auf ihre Einheitlichkeit und von dem vorhin erwähnten Gesichtspunkte aus, wie weit sie Allgemeingut war, so muss man ihr ein hohes Zeugnis ausstellen. Sie spiegelte nicht nur das Leben der Zeit in einer vollendeten Weise wieder, sondern durchdrang auch, ähnlich wie es in der Gotik der Fall gewesen war, alle Lebensäußerungen der Zeit vollkommen. Von der Tabakdose des einfachen Bürgers bis zum vollendetsten Kunstmöbel der fürstlichen Zimmerausstattung, von der kleinstädtischen Bürgerhausfassade bis zur prunkenden Jesuitenkirche haben wir ein vollständig einheitliches Kulturbild vor uns. Malerei, Skulptur und Architektur atmen denselben Geist. Vor allem aber war der gesamte Handwerkerstand in der Formensprache der Zeit so zu Hause, dass sie ihm wirklich als das natürliche Ausdrucksmittel erschien, an dessen Richtigkeit niemand zweifelte. Und diese Formensprache wurde von jedem Handwerker und Kleinkünstler in einer Vollkommenheit gehandhabt, dass uns heute das alltäglichste der damaligen Handwerkserzeugnisse als Kunstwerk erscheint, wert in unsere Museen zu wandeln, oder den Schrank des Sammlers zu zieren. Die Architektur aber, die noch durchaus eine vorherrschende Stellung, wenn auch keine so allbeherrschende wie in der Gotik einnahm, war selbst in ihren letzten Abwandlungen, den Leistungen des Maurermeisters so gut und sicher, dass die Bauten jener Zeit uns jetzt wie eine Erquickung anmuten. Wenn wir heute auf jene Zeit zurückblicken, so erscheint sie uns vom künstlerischen Standpunkte aus durchaus paradiesisch.