In jener Zeit war es, dass eine Strömung auftauchte,

In jener Zeit war es, dass eine Strömung auftauchte, unter deren Zeichen die ganze folgende Kunstentwicklung stehen sollte und die insbesondere der Kunst des nächsten Jahrhunderts das Gepräge gab. Es war jene eigentümliche, als Gegenwirkung gegen den leichtlebigen Zeitgeist auftretende Sehnsucht nach Reinheit und Einfachheit, die sich künstlerisch in dem Zurückgreifen auf die gerade jetzt neu entdeckte griechische Antike aussprach. Den Markstein dieser Neuentdeckung bildet das 1762 erschienene Werk der englischen Architekten Stuart und Revett über die Altertümer Athens.

Der Umschwung in den künstlerischen Anschauungen, der damals eintrat, die Begeisterung, mit der man einem neuen Ideal zujubelte, war ungeheuer. Die damalige Welt hatte das Gefühl, dass jetzt endlich, nach langer Finsternis, die Sonne der künstlerischen Erkenntnis aufgehe, dass von dieser Sonne aus eine neue, herrliche, reine, große Kunstentfaltung ausgehen müsse, dass man nichts besseres thun könne, als alles bisherige liegen zu lassen und sich dem Scheine dieser strahlenden Sonne der antiken Kunst zuzuwenden. In Deutschland wurde Winckelmann der begeisterte Verkünder der neuen Kunstanschauung, seine „Geschichte der Kunst des Altertums“ — ein Buch, dessen Erscheinen geradezu die Grenzscheide zwischen der Kunst zweier Epochen bezeichnet — wurde der Schlüssel für die ganze folgende Zeit. Von hier an muss man die neueste Kunstzeit datieren. Diese zweite große künstlerische Revolution gebar die Kunst des neunzehnten Jahrhunderts.


Für diese Kunstzeit ist noch kein Name erfunden; ihr vielgestaltiges, verworrenes Bild, ihre Kreuz- und Querbewegungen, die großen Niederungen, die sie in ihrem Entwicklungsgange durchschritt, machen eine Bezeichnung schwer. Der Name des Zeitalters des Idealismus, der für den Hauptzeitraum versucht worden ist, erscheint paradox angesichts des Endpunktes, auf den dieser Idealismus uns künstlerisch geführt hat. Vielleicht geht man nicht ganz fehl, wenn man sie vorderhand als die Zeit des künstlerischen Chaos bezeichnet.

Eine ganze Reihe von Ursachen wirkten mit, um mittels der scharfen Wendung, die das damalige Kunstleben einschlug, schließlich in dieses Chaos zu gelangen, und ganz hauptsächlich wurde dieses Chaos herbeigeführt durch die Abwege, auf die sich die Architektur und in ihrem Gefolge ganz notwendigerweise das künstlerische Gewerbe begab. Man ließ damals in allen bildenden Künsten zum zweiten Male in unserer nördlichen Kunstentwicklung alle Tradition fallen. Der Architekt missachtete die spielende Grazie seiner bisherigen Kunst, die er so unvergleichlich zu handhaben verstanden hatte und wandte sich dem aufsteigenden griechischen Ideale mit seiner angeblich reineren und harmonischeren Linie zu. Die vollendete Ausbildung, die jede Art von Handwerker in den früheren Formen hatte, konnte ihm hierzu nichts helfen. Diese hochentwickelte Handwerkerkunst war freilich nicht ohne weiteres zu ertöten, aber sie wurde einem langsamen Hinsterben überlassen. Es ist höchst lehrreich, zu beobachten, wie sie von da an von Jahrzehnt zu Jahrzehnt herunterkam, wie sich die letzten Reste dieser vollendeten Rokokokunst im Strudel des neunzehnten Jahrhunderts verliefen. Wer von uns erinnert sich nicht noch ihres letzten Todesseufzers, der geschwungenen Sophagarnitur und des eigentümlich verkümmerten geschwungenen Gesimsaufsatzes auf den Kleiderschränken der sechziger und siebziger Jahre?

Die Architektur half sich damals über das Dilemma zunächst besser hinweg als das Gewerbe. Sie umschlang sehnsüchtigst die Formenwelt der griechischen Antike und vermochte wenigstens Werke in die Welt zu setzen, an die sich die Begeisterung aller damaligen Gebildeten heften konnte. In allen Ländern unserer westlichen Kultur begann jetzt das Ideal der sogenannten reinen Antike seine Herrschaft, am strengsten wohl in Deutschland und Frankreich.

Deutschland hatte das Glück, in jener Zeit einen Architekten zu besitzen, dessen Genialität ihn über das Niveau der übrigen Welt erhob, es war Schinkel. Dieser Geist würde unter irgend welchen Verhältnissen Großes geleistet haben, aber es ist bezeichnend, wie selbst er unter der Herrschaft der Zeitströmung stand, die ihm seinen besonderen Wirkungskreis sozusagen vorzeichnete. Waren andere Architekten aber mehr oder weniger in den Formen befangen, so reichte seine Genialität weit genug, um selbst innerhalb seines engeren griechischen Gestaltungskreises die Form zu beherrschen und zu meistern. So hat er in seinen Hauptwerken, dem Berliner alten Museum, dem Schauspielhause und der neuen Wache daselbst Werke geschaffen, die auch über den Geist ihrer Zeit hinaus eine beredte Sprache reden werden. Um aber die Größe dieses Mannes ganz zu begreifen, heißt es seine Entwürfe durchmustern, in denen er sein Bestes niederlegte, heißt es vor allem das in der Technischen Hochschule in Berlin aufgestellte Schinkelmuseum durchwandern, wo der Besucher mit Staunen erkennen wird, welch umfassender künstlerischer Geist Schinkel war. Alle Zweige der bildenden Kunst, Malerei, Bildhauerei, gewerbliche Kunst, waren seiner Hand spielend geläufig, er war ein vollendeter Meister im Figürlichen, groß in der Landschaft, unübertroffen im Idealentwurf, er saß fest im künstlerischen Sattel, er war imstande, die gesamte bildende Kunst in den Dienst seiner einen großen Idee, der Architektur zu stellen. Schinkel ist der letzte große allumfassende Geist, den die Architektur hervorgebracht hat, sozusagen der letzte Großarchitekt.

Durch ihn wurde in Deutschland die Berliner Architekturschule in den Vordergrund gerückt. In andern deutschen Städten schwärmte man indessen nicht minder warm griechisch. In München trat besonders durch den kunstliebenden König Ludwig I. unter Leo von Klenze eine Zeit der Entfaltung griechischer Bauideale ein, die die Glyptothek und die Propyläen, im weiteren Gefolge auch die mehr in Renaissanceformen gehaltene Pinakothek entstehen ließ. Es ist nichts bezeichnender, als dass man es für angemessen hielt, mit der griechischen Begeisterung auch diese gänzlich unvolkstümlichen griechischen Namen einzuführen, über die die Zunge des deutschen Spießbürgers hinwegstolpern musste. Die Walhalla in Regensburg und die Befreiungshalle in Kehlheim sind weitere Früchte der Münchener Schule. In Wien begann erst spät eine höhere griechische Flutwelle in den Bauten Theophil von Hansens sich auszubreiten, die indessen schon freier gestaltet waren und auch bereits mit dem Namen griechische Renaissance belegt wurden. Jedenfalls blieb in Deutschland die Berliner klassizistische Schule die hervorragendste. Hier hatte der griechische Klassizismus so festen Fuß gefasst, dass eine geschlossene und lokal gefärbte Schule aus ihm entspross, hier allein dehnt sich seine Herrschaft über eine lange Reihe von Jahrzehnten aus, sicherlich über den bedeutendsten Teil des neunzehnten Jahrhunderts.

Dem spezifisch Berliner Geiste, der stets nach Kritik und Verstandesbetätigung drängt, war es vorbehalten, auch eine „wissenschaftliche Erklärung“ des Geistes der antiken Baukunst zu entwickeln. Die „Tektonik der Hellenen“ Böttichers, ein Werk, dessen Entstehung noch in die letzten Lebensjahre Schinkels fällt, erregte durch diese aller Welt als Offenbarung erscheinenden Erklärungen der Kunst in ihrer Zeit ungeheures Aufsehen und wurde noch bis vor einem Jahrzehnt mit der größten Ehrfurcht genannt. Aber es regten sich bald wieder freiere künstlerische Anschauungen, die teils unter erweitertem Gesichtswinkel auf die Kunst der Vergangenheit sahen, teils sich wieder bewusst wurden, dass es sich in der Kunst nicht um Erklärungen, sondern um Wirkungen handelt, die ihrerseits durch den Verstand nicht weiter definiert werden können. Mit diesem Augenblick musste Böttichers kunstvoller Bau in sich zusammensinken.

Nach Schinkels Tode wirkten in Berlin seine Schüler Persius, Stüler, Strack in seinem Sinne, freilich ohne an die Genialität des Meisters heranzureichen, andere große Architekten, wie Hitzig, Lucae und Gropius waren glücklicher, indem sie freiere Bahnen der architektonischen Gestaltung, doch immerhin innerhalb des klassizistischen Zirkels bleibend, einschlugen. Von Bauten der letzteren Art verdient vor allem das von Gropius und Schmieden herrührende Berliner Kunstgewerbe-Museum als eine sehr gelungene, von großer Selbständigkeit zeugende architektonische Leistung genannt zu werden.

In Frankreich, dem Lande der strengsten und reinsten Architekturüberlieferung seit Jahrhunderten, nahm der Neuklassizismus eine wesentlich andere Form an als in Deutschland. Hier hatte das Schicksal des Staates unter dem korsischen Länderbesieger eine bequeme Gedankenverbindung mit dem römischen Cäsarentum geschaffen, unter deren Einfluss auch die Architektur und die dekorativen Künste kamen. Statt griechisch empfand man hier römisch, aber nicht minder begeistert, und statt der reinen griechischen Linie huldigte man dem Dekorationsapparat des römischen Kaiserreiches. Es war der style empire, der damals, hauptsächlich durch das Wirken der Architekten Percier und Fontaine gekennzeichnet, in Frankreich entstand. An Architekturwerken ist aus jener Bewegung wenigstens ein Monument allerersten Ranges hervorgegangen, Chalgrins Are de l'Étoile, ein mächtiges Werk voller Straffheit und Größe, dessen architektonischer Wert wie der der Bauten Schinkels die Jahrhunderte überdauern wird. Ein zweites aus der Masse der übrigen Bauten herausragendes Werk, die Madeleine-Kirche von Vignon, besitzt bei aller Monumentalität lange nicht die Eigenart des Triumphbogens.

Wie in Berlin, so bildete man in Paris die neuklassische Kunst weiter aus, und es gelang hier, innerhalb der strengen Lehrklassen der Ecole des Beaux-Arts eine mehr oder weniger französisch-national gefärbte klassische Architekturschule zu entwickeln, die sich unter der Pflege dieser höchsten Pariser Akademie bis in die allerneueste Zeit am Leben erhalten hat. Ein Glanzpunkt der Schule, die natürlich bald Renaissance- und andere Bestandteile aufnahm, aber doch alles zu einer stilistischen Einheitlichkeit verschmolz, ist Garniers große Oper, trotz ihres schwellenden Prunkes und ihrer etwas aufgeblasenen Architekturmacherei ein Werk, das in seiner geschlossenen Erscheinung unsere Bewunderung erregen muss. Eine Steigerung des Garnierschen Architekturprunkes, vielleicht die stärkste, die man eben noch zu ertragen imstande ist, sehen wir in dem Justizpalast in Brüssel von Poelaert, einem Werke, das man vielleicht deshalb in diesem Zusammenhange nennen darf, weil es ohne die Ecole des Beaux-Arts in Paris nicht denkbar wäre. Jedenfalls ragt im neunzehnten Jahrhundert diese aus der École des Beaux-Arts hervorgegangene Architektur durch eine sonst nirgends angetroffene Sicherheit im Detail und durch den hohen Schwung ihrer Leistungen hervor. Das Feld ihrer Werke ist sehr weit und überall herrscht eine bedeutende Durchschnittshöhe. Dass sie auch Werke edelster Einfachheit hervorbringen konnte, die dadurch heute einen fast modernen Grundzug tragen, beweisen beispielsweise die neuen Bauteile im Pariser Justizpalast.

Die merkwürdigste Rolle hat die neuklassische Architektur wohl in England gespielt. Hier hatte, als sie auftrat, schon über hundert Jahre lang jener Geist der strengen palladianischen Architekturrichtung geherrscht den einst Inigo Jones aus Italien importierte, und hier hatte eine von den kontinentalen Entwicklungsstufen Barock und Rokoko gänzlich unbeeinflusste, wuchtige und ernste Architekturauffassung unzweifelhafte Triumphe feiern können, die selbst die Augen des Kontinents auf England richteten. Die Monumentalität der Baugesinnung Hess sich nicht mehr steigern, und der Eintritt der griechisch-klassischen Richtung hatte hier nicht die Bedeutung einer reinigenden oder vereinfachenden Bewegung. Im Gegenteil, er brachte ein spielendes, fast weichliches Element in den früheren Ernst der architektonischen Formengebung, das sich am deutlichsten in den Bauten und Innendekorationen der beiden Brüder Adam zu erkennen gibt. Dazu kam noch, dass damals schon Unterströmungen anderer, nämlich romantischer Art vorhanden waren, die der jetzt eintretenden griechischen Begeisterung einigen Boden entzogen. Dann aber vermochten die englischen Architekten sich überhaupt nur mit einer gewissen Schwerfälligkeit in den griechischen Geist zu versetzen. Man schien nicht recht zu wissen, was man mit den vielbewunderten antiken Architekturdenkmälern anfangen sollte und setzte sie willkürlich zusammen, wobei man auf die merkwürdigsten Einfälle geriet. Das Beispiel ist allbekannt, dass der Architekt der St. Pankratiuskirche in London, H. W. Inwood, einen Kirchturm so komponierte, dass er auf eine Kopie der Säulenhalle des Erechtheions den Turm der Winde In Athen und auf diesen als Bekrönung das Denkmal des Lysikrates setzte. An dem größten der neuklassischen Bauten, der Bank von England, brachte der Architekt Soane keine Fenster an, weil die als Vorbild genommene griechische Tempelkunst keine solchen kannte, wodurch er genötigt war, die gesamte Beleuchtung vom Hofe aus zu bewerkstelligen, und als besondere Zierde setzte er an die eine Ecke des so errichteten Gebildes eine Kopie des Rundtempels von Tivoli.

So lächerlich solche als Architektur bezeichneten Kindlichkeiten uns heute erscheinen, sie waren doch nur die Überführung ins Absurde eines gefährlichen Zuges, der dem ganzen damaligen Treiben der Architektur anhaftete. Wenn wir heute, wo sich die Flutwelle griechischer Begeisterung wieder verlaufen hat, auf das Beginnen jener Zeit blicken, so kommt es uns vor, als hätte man im Traume gewandelt. Wo auch der Architekt ans Schaffen ging, trieb ihn ein unwiderstehlicher Drang, die Kopie einer griechischen Tempelfront in die Welt zu setzen. Sei es ein Museum, ein Konzerthaus, eine Kaserne, ein Wohnhaus, es erhielt die dorischen oder jonischen Säulen mit dem Tempelgiebelfeld darüber. Es war vollständig gleichgültig, wie das Gebäude, das hinter den äußern Mauern steckte, dabei wegkam, sobald der Portikus errichtet war, gab man sich zufrieden und stand bewundernd vor seinem Werke, blind und taub gegen jede Forderung der Vernunft.

Man fasste die Werke der Architektur als formale und abstrakte Kunstwerke auf, etwa wie eine musikalische Symphonie oder eine dekorative Zeichnung, zu denen die gerade vorliegende praktische Aufgabe nur den Vorwand lieferte. Jeder noch so große Zwang, den man dem Bedürfnis antat, schien erlaubt. Alles hatte sich dem Wahngebilde eines Tempelstils unterzuordnen, der einer längst vergangenen Zeit, vollkommen andern Kulturbedingungen und einem durchaus andern Klima angehörte. Was nicht in den Kram passte, wie z. B. Schornsteine und Dächer, das wurde unterdrückt, versteckt oder vermaskiert. Den Gipfel der Ungereimtheit hat in dieser Beziehung wohl Hansen am Wiener Parlamentshause erklommen, der den hohen, weit herausragenden Schornstein der Zentralheizung als jonische Säule ausbildete, aus deren Kopfe nun, wenn unten geheizt wird, der schwarze Qualm entströmt. Wahrlich eine Satire auf die Kunstanschauungen einer Zeit, wie sie nicht beißender zu denken ist.

Eine ähnliche Verblendung war in der Geschichte der Kunst noch nicht dagewesen. Während der Renaissance hatte man sich zwar mit ähnlicher Begeisterung auf die Antike gestürzt, aber zwischen damals und jetzt war der eine große Unterschied, dass man dort im wesentlichen römische Profanarchitektur, hier den griechischen Tempel zum Vorbilde nahm. Die Renaissancemeister hielten sich an römische Thermen, Paläste, Zirken, kurz an Bauüberreste, bei denen schon eine Übertragung der alten starren Tempelkunst auf gesellschaftliche Bedürfnisse stattgefunden hatte. Jetzt hielt man sich an den griechischen Tempel, der nicht einmal Fenster hatte und dessen streng gebundene Formen um so undehnbarer waren, als sie, die Muster sogenannter reinster und harmonischster Schönheit, für unantastbar gehalten wurden. Ja ein Gedanke, der damals alle Kunstkreise beherrschte, war der, dass die ganze Renaissance sich in einem bedauerlichen Irrtum über die Antike befunden habe, und dass man jetzt endlich erst die echten, reinen Formen in Händen habe. Wie hätte man sich erlauben sollen, mit diesen Formen frei zu schalten und zu walten? Der höchste Ehrgeiz war, sie „rein“ zu handhaben, d. h. sklavisch zu kopieren.

Der Rausch der Begeisterung überdeckte die ganze Unwahrheit, die damals unter der Bezeichnung Architektur verübt wurde. Er überdeckte noch mehr. Er überdeckte den schon angedeuteten raschesten Verfall des Handwerks, ja den allmählichen Verfall des architektonischen Könnens selbst. Die Architektur hatte sich vom Boden der Wirklichkeit zu weit entfernt, als dass sie in Berührung mit dem gesunden Leben die zu ihrer Erhaltung notwendige tägliche Nahrung hätte saugen können. Zum Verfall des künstlerischen Handwerks trug nicht allein der Umstand bei, dass die auf den Thron gesetzte griechische Tempelkunst von den feinen und graziösen Handwerkserzeugnissen der letzten Blüte der Kleinkunst keinen Gebrauch machen konnte und wollte, es kamen noch andere und zwar politische und wirtschaftliche Gründe hinzu.

Das leichtlebige achtzehnte Jahrhundert endete mit einem Zusammenbruch aller gesellschaftlichen Zustände. Vor allem brachte die Revolution den Sturz derjenigen privilegierten Stände mit sich, in deren Händen seit dem Aufhören der Gotik die Kunstpflege geruht hatte. Der Kavalier, der seinen Neigungen lebende Edelmann, in höfischen Manieren gleich erfahren wie von Beruf ein Kenner der Kunst und Beschützer der Künstler, diese bezeichnende Figur der drei letzten Jahrhunderte verschwand von der Bildfläche.

Ernstere Zeiten kamen herauf und ein neuer Stand kam an die Oberfläche, der arbeitsame Bürger, der Gelehrte, der Beamte, der Geschäftsmann. Hatte der Kavalier eine höhere Lebensführung, in der die Liebhaberei zu den schönen Künsten eine ganz selbstverständliche Rolle spielte, den andern Kreisen seiner Zeit gleichsam vorgelebt, war er die Verkörperung der geistigen und künstlerischen Bildung seiner Zeit gewesen, so trat der Bürger ohne dieses Erbe seine Stellung an, ohne die standliche Verpflichtung, dem Künstler und Kunsthandwerker Aufträge zu geben, ohne das Bedürfnis, eine höhere künstlerische Kultur zu pflegen.

Er hatte zunächst auch Wichtigeres zu thun. Die Raubzüge Napoleons hielten die ganze Welt in Atem, und die unabweisbare Aufgabe der Zeit, diesem genialen Abenteurer Einhalt zu thun, taxierten alle Kräfte aufs äußerste. Das ohnedies von den Wunden des dreißigjährigen Krieges noch nicht ganz geheilte Deutschland vollends war bis zur Erschlaffung erschöpft, als endlich wieder Ruhe im europäischen Hause eingetreten war. Dabei hielten politische Spannungen in den folgenden Jahrzehnten den Sinn von einer intimeren Kunstpflege von neuem ab.

So ging es denn nur ganz natürlich zu, dass der Kunst und dem Kunsthandwerk der Boden entzogen und dass namentlich in der Unterschicht des Gewerbes unbemerkt eine Verwilderung eingetreten war, wie sie unsere Kultur noch nicht gesehen hatte. Alle Handwerke zehrten den unwägbaren Vorrat an Überlieferung auf, den sie bei Eintritt des griechischen Kunstideals, unserer zweiten künstlerischen Revolution, noch im Überfluss hatten. Für jeden neuen Zutritt waren die Quellen verstopft, man lebte auf Raub. Um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts war alles zu Ende, wir hatten kein Handwerk mehr.

In den gebildeten und Bürgerkreisen sah es von jetzt an in künstlerischer Beziehung traurig aus. Mit dem Kavalier war nicht nur der Kunstbeschützer, der Kunstgenießer, der Kunstauftraggeber dahin gegangen, sondern auch der Mann mit Geschmack. Der fleißige Bürger, der Gelehrte von jetzt hatten keinen Geschmack mehr. Und in dieser Abwesenheit von Geschmack in den gebildeten Kreisen ist geradezu eines der Merkmale der Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts zu sehen. Wandte sich von jetzt an der reich gewordene Bürger der Kunst zu, so tappte er im Dunkeln, er vermochte nicht mehr das Edle von dem Unedlen zu unterscheiden. Und in der Regel verfiel er, wie der Barbar, auf das Glänzende und roh Auffällige, wobei natürlich häufig genug noch der Wunsch mitsprach, durch seine Kunstpflege zu prunken und seinen Reichtum zu zeigen. So entstand das für unsere Zeit so außerordentlich bezeichnende Merkmal des Protzen- und Parvenugeschmackes, es trat ein Barbarentum ein, das seit der spätrömischen Zeit des unter den Soldatenkaisern zerfallenen Kaiserreichs noch nicht wieder dagewesen war.

Noch ein anderes Zeichen der Zeit gebar die Not des neunzehnten Jahrhunderts: die sogenannte öffentliche Kunstpflege. Es war niemand mehr vorhanden, der sich der Kunst hätte annehmen können, sie wurde unterstützungsbedürftig und musste auf Kosten der Allgemeinheit unterhalten werden. So entstanden die Waisenhäuser und Unterstützungskassen für Kunst, die wir Museen, staatliche Kunstaufträge, Kunstvereine usw. nennen, eine künstliche Nährmethode des dahinsiechenden natürlichen Kunstlebens, von der man sich im allgemeinen weit mehr versprochen hat, als sie halten konnte. Es gehört wohl mit zu den Enttäuschungen des letzten Jahrhunderts, dass die Museen, so lange sie nichts weiter waren als Kunstspeicher, einen wirklich nennenswerten Segen hätten stiften können, dass die bloße Schaustellung von Kunst für die Menge von irgend welchem kunstfördernden Einfluss sein konnte.

In Frankreich war die Not nicht so groß wie in Deutschland. Hier hatte die Glanzzeit des ersten Kaiserreichs dem Handwerk noch tüchtige Nahrung gegeben, wenngleich die Feinheit der früheren Dekorationsstile außer Kurs gesetzt war und eine gewisse Vergröberung des Empfindens eintrat. Aber der stete Bedarf an handwerklicher Kunst brachte das Gewerbe bald wieder auf die früheren französisch-historischen Formen zurück, die zwar in ihrem Gepräge im Laufe der Zeit einige Veränderungen durchmachten, im ganzen aber im Sinne der Stile der Ludwige rein reproduziert wurden. Mit diesen Produktionen deckte Frankreich den höheren Bedarf an dekorativer und Kleinkunst von ganz Europa bis in die neueste Zeit.

England hatte in dieser Beziehung, wie die übrigen Kulturländer, für seine aristokratischen Bedürfnisse seit Jahrhunderten stets von Frankreich gelebt und tat es auch jetzt noch. Für seine bürgerlichen war es dagegen durchaus unabhängig und hatte mitten in der Zeit der griechischen Verblendung der Architekten einen trefflichen bürgerlichen Möbelstil, die Chippendale-, Hepplewhite- und Sheraton-Möbel ausgebildet, mit dem es einzig dastand. In diesen Möbeln wurde schon damals der Grund für ein echt bürgerliches Hausgerät gelegt, dessen Frühleben ja auch auf dem Festlande in der sogenannten Biedermeierzeit zu bemerken ist, leider um bald durch die später einsetzende Stiljagd überritten zu werden.

Im übrigen wurde auch in England und Frankreich, obgleich hier die wirtschaftlich schwer drückenden Verhältnisse Deutschlands nicht vorlagen, das Kunstleben mit den fortschreitenden Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts immer schlaffer und erreichte in England sogar um die Mitte des Jahrhunderts einen Tiefstand, der den deutschen sogar noch untertraf.

Hierzu hatte in diesem Lande schon seit dem Beginn des Jahrhunderts noch ein anderer Umstand das Seinige beigetragen, der sich in der Folge allerorten fühlbar machen sollte und als eine weitere Ursache des Verfalls des Handwerks zu bezeichnen ist. Es war die Maschine. Die ungemeinen Umwälzungen, die diese neuzeitliche Erscheinung in jeder Hinsicht für die Menschheit heraufbringen musste, äußerte sich für das Handwerk zunächst darin, dass sie diesem den Boden abgrub, ja, wie sie es heute noch tut, mehr oder weniger auf dessen Beseitigung hinarbeitete. Wurde so aber seine Existenz überhaupt in Frage gestellt, wie wenig konnte dann noch von den künstlerischen Eigenschaften desselben die Rede sein! Es rang um sein blankes Leben.

Während sich so das Handwerk, die unentbehrliche Unterschicht aller künstlerischen Zustände, an Hunger und Verfolgung allmählich zu Tode quälte, schwärmten unsere Gebildeten noch immer für ein angeblich Höheres und Reineres in der Kunst, für die letzte harmonische Einheit einer Weltkunst, die sie sich in dem Begriff der griechischen Klassizität zurechtlegten. Sie zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass sie wie ein Phantom in der Luft schwebte und den Boden des Lebens nicht berührte. Eben deshalb nannte man diese Zeit wohl die des Idealismus. Dieser sogenannte Idealismus fand seinen günstigsten Nährboden in Deutschland, vielleicht deshalb, weil die tatsächlichen Zustände hier die traurigsten waren. Politisch zerrissen, wirtschaftlich arm und von Natur der Bewunderung des Fremden zugeneigt, blickte gerade der Deutsche am sehnsüchtigsten in die Ferne, und so fand jener unglückselige Gedanke des künstlerischen Weltbürgertums gerade hier die kräftigste Nahrung.

Man sah im Griechischen die Normalkunst für die Welt und für alle Zeiten und vergaß dabei, dass es nur eine normale Kunst geben kann, nämlich die dem Leben und der Kultur der Zeit entsprechende. Man gab sich auch die größte Mühe, das sogenannte Normale der griechischen Kunst in Regeln und Formeln zu fassen, um es um so sicherer für die Verwendung bereit zu haben. Die Ästhetik, besonders die Entwicklung von Kunstgesetzen, schoss jetzt üppig ins Kraut und beschäftigte ganze Philosophenschulen. Der ästhetisierende Kunstprofessor, ein neuer Typus des neunzehnten Jahrhunderts, trat sein Amt an und belehrte, begutachtete, kritisierte und systematisierte über Kunst. Er wurde um so mächtiger, je schwächer der lebendige Pulsschlag der Kunst wurde, je mehr das natürliche Kunstleben erstarb. So sitzt an der Verwaltungsstelle der Künste des neunzehnten Jahrhunderts nicht mehr der Künstler, sondern der Kunstprofessor. Nicht der Künstler spricht jetzt zum Publikum, sondern der Kunstgelehrte, und die Welt sucht ihren Zusammenhang mit der Kunst nicht mehr im Kunstgenuss, sondern in der Belehrung über Kunst, man lässt das Kunstwerk nicht mehr auf sich wirken, sondern kritisiert es. Dieser Zustand der Dinge hat sich vorwiegend mit und an dem Neuklassizismus entwickelt. Je mehr man idealistisch wurde, je ferner rückte man der Kunst, je heftiger man griechisch schwärmte, je ärmer wurde man in der eigenen Seele.

Diese griechische, auf Nachahmung ausgehende Bewunderung in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts gleicht einer Narkose, in die die ganze Welt und selbst unsere vornehmsten Geister gezogen wurden. Sogar ein allumfassender Geist wie Goethe stand unter ihrem Einfluss, wodurch er selbst ein Beispiel für seinen Ausspruch gab, dass auch „die größten Menschen immer mit ihrem Jahrhundert durch eine Schwachheit zusammenhängen“.



Wie nun aber jede Überspannung eine Gegenwirkung erzeugt, so rief auch dieser griechische Idealismus eine solche hervor. Es war die romantische Bewegung. In ihr haben wir die zweite große künstlerische Strömung des neunzehnten Jahrhunderts vor uns. Auch sie trat in allen Ländern auf, freilich in sehr verschiedener Stärke, und sie ist als das Gegengewicht, als das Aufbäumen des nordischen Empfindens gegen die ihm im Grunde zuwiderlaufende griechische Klassizität zu betrachten.

Zum ersten Male seit dem Verlassen der geschichtlichen Gotik sehen wir hier wieder mittelalterliche Kunstideale aufsprießen, ganz besonders in der Baukunst. Es gab also noch einen Bestandteil in der nordischen Brust, der das eigentlich nordische Kunstempfinden bewahrt hatte, noch regte sich die alte Innerlichkeit der Empfindung, die wir in der mittelalterlichen Kunst antreffen auf Kosten der Vorliebe für den äußeren Schwung der klassischen Linie, noch war also ein Rest des Gemütvollen, Gedankenreichen, des Sinnes für Werklichkeit, Konstruktion und kleinkünstlerische Tüchtigkeit vorhanden, noch suchte sich jenes Sehnen nach Verinnerlichung, jenes auf das Traute, den Umständen angepasste, kurz auf das Individuelle gerichtete Streben zu verkörpern, das in der Gotik und den gesamten mittelalterlichen Kleinkünsten einen so beredten Ausdruck gefunden hatte.

Die romantische Geistesbewegung, welche sich im neunzehnten Jahrhundert abspielte, ist von weit größerem Einfluss, als es für den ersten Augenblick scheinen mag, sie ist von unendlicher Bedeutung für die ganze künstlerische Entwicklung unserer Zukunft. Keine Entwicklungsstufe unserer Kultur ist zufällig, jede verfolgt ihren Zweck und leistet ihre notwendige Arbeit. Auf die erste Blüte einer nordischen, von der altklassischen grundsätzlich verschiedenen Kunst, der gotischen, musste, sobald nur die Quellen geöffnet waren, die unabweisbare Einwirkung einer künstlerischen Kultur folgen, die damals noch mächtiger war, als sie, die der klassischen. Sie überschwemmte die germanischen Völker für vier Jahrhunderte fast vollständig, dabei unzweifelhaft ein gewisses Erziehungswerk ausübend. Aber die Flutwelle der letzten Phase des Neuklassizismus führte ihre Bedeutung zum Absurden. Sie zeigte die unsichern Füße, auf denen diese Kunst in einer Zeit voller eignen geistigen Lebenskraft wie der unsrigen stehen musste, sie deckte die Widersprüche mit dem Zeitgeiste und dem Volkscharakter offen auf. Jetzt konnte die echte nordische Eigenart wieder auftauchen.

Mit diesem Romantizismus trat im neunzehnten Jahrhundert der germanische Geist wieder in seine Rechte ein. Was dies heißen will, können wir erst heute, am Anfang eines zwanzigsten, ermessen, wo wir nicht nur ein offenbares Sinken aller romanischen Völker, sondern auch einen Niedergang ihrer Kulturwerte und — was hier besonders interessiert — ihrer Kunst offen vor Augen sehen, und wo eine neuartig gestaltete, ganz wesentlich von den germanischen Völkern erzeugte Kunst die Schwelle der Zeit überschreitet.

Die romantische Bewegung, deren eigentlicher Ursprung in der in England zuerst wiedererwachten Naturpoesie zu suchen ist, hat sich in der Folge auf alle Künste, ja auf das gesamte Geistesleben der europäischen Völker erstreckt, aber sie war im Anbeginn ein mehr oder weniger dunkler Drang, der sich seiner, das Nordische herauskehrenden Bedeutung zunächst kaum im vollen Umfange bewusst war. War doch der Sammelplatz der frühen Romantiker Rom, das Wanderziel der romantischen Jugend Italien, der letzte Hort vieler ihrer Anhänger die katholische Kirche. Aber was den Ideenkreis der Romantiker anbetrifft, so bewegte er sich durchaus im nordisch gefärbten Mittelalter und im besonderen war und konnte der Angelpunkt in architektonischer Beziehung nur die gotische Baukunst sein. Und so sehen wir denn, ähnlich wie man in der Renaissance das Altertum wieder neu entdeckt hatte, jetzt allerorten die Gotik wieder neu entdeckt werden, an deren Werken man fast vier Jahrhunderte lang mit Verachtung vorübergegangen war.

In Deutschland ist der Kölner Dom das Werk, an dessen Vollendung und Wiederherstellung sich Jahrzehnte lang das romantische Interesse heftete, wie sich denn überhaupt der romantische Baueifer zunächst zum großen Teil an den überkommenen mittelalterlichen Baudenkmälern ausließ.

Insofern das letztere der Fall ist, kann man freilich jetzt nur mit gemischten Empfindungen auf diese Tätigkeit zurückblicken. Im blinden Eifer, obgleich vom besten Willen beseelt, sind hier Eingriffe in den überkommenen mittelalterlichen Bestand unserer Baudenkmäler verübt worden, die jede folgende Zeit als barbarisch bezeichnen muss. Wie man in früheren Jahrhunderten aufgefundene antike Statuen ergänzte und überarbeitete, wodurch man ihren Wert fast vollkommen vernichtete, so restaurierte man jetzt alte Kirchen, brach Teile ab, setzte neue hinzu, überarbeitete den ganzen Bau und war dabei hier und da sogar so naiv sich einzubilden, dass man die alten Meister korrigieren könne. Auf solche Weise sind gerade diejenigen Zeugen der Kunst, an die man jetzt seine Begeisterung heftete, oft bis zur Unkenntlichkeit entstellt und geschändet worden, sodass sie für alle folgenden Zeiten so gut wie wertlos sind. Auch heute ist die Denkmalpflege noch in ihrer Kindheit begriffen; und solange man nicht allgemein eingesehen hat, dass es sich hier um geschichtliche Dokumente handelt, die in ihrem, wenn auch lückenhaften Bestände anzutasten ein historisches Verbrechen ist, solange kann man jedem alten Bau nur wünschen, dass er vorläufig der Aufmerksamkeit der Restauratoren zu seinem Heile noch entzogen bleiben möge.

Dass man mit solchen Händen an die aus dem Mittelalter überkommenen Bauten herantrat, beweist übrigens, wie fremd trotz aller Bewunderung der Geist geworden war, der aus ihnen zu der Gegenwart sprach. Es erforderte Jahrzehnte des langsamen Wiedereinlebens, es bedurfte eifrigsten Studiums und großer versenkender Liebe, um ihm wieder nahe zu kommen. Beides hat man reichlich aufgewandt, und so konnte allmählich eine Schule mittelalterlich schaffender Architekten heranwachsen, die die mittelalterliche Kunst beinahe bis zur Lebenskräftigkeit wieder erweckte. Die Bewegung war anfangs hauptsächlich von München ausgegangen, wo Friedrich von Gärtner in der ersten Hälfte des Jahrhunderts eine ganze Reihe von Monumentalbauten im romanischen Stil errichtete. Sie breitete sich aber bald über Mittelund West-Deutschland aus und machte sich in Städten wie Hannover, wo Hase wirkte, in Köln, in Kassel unter Ungewitter — dessen treffliche Bücher viel zu ihrer Verbreitung beitrugen — in breiterem Masse ansässig. In einzelnen Städten, wie in Hannover, bildeten sich örtliche neugotische Schulen und drückten der dortigen neueren Architektur ihr Gepräge auf. Am längsten leistete Berlin mit seiner klassizistischen Hochburg der Gotik Widerstand ; erst ziemlich spät äußerte sich überhaupt in Norddeutschland die neue mittelalterliche Richtung, und zwar dann vorwiegend in der Wiederaufnahme des nordischen Backsteinbaues, dessen hervorragendster Vertreter Johannes Otzen wurde.

Eine allgemeinere Bedeutung hat die Neugotik trotz des reichen Lebenswerkes einer Generation begeisterter Anhänger in Deutschland nicht zu erringen vermocht. Abgesehen von den oben erwähnten örtlichen Leistungen ist ihre Anwendung auf den Kirchenbau beschränkt geblieben, und auch hier brachte das Rückblickende der Bestrebungen gewisse archäologische Einflüsse in Bezug auf die Plangestaltung mit sich, die sich als hemmend erwiesen und gegen die es aller Kraft bedurfte, erfolgreich anzukämpfen. Diesen Kampf nahm eine jüngere Partei auf, die unter dem Stichwort „Protestantischer Kirchenbau“ neuzeitliche, dem protestantischen Kirchengebrauch mehr angepasste Raumgestaltungen verlangte, als sie das Mittelalter überlieferte. Sie wurde so von selbst auf die Wiederanknüpfung an die Grundrissgestaltung der nordischen Barockkirchen geführt, welche den protestantischen Gedanken in weitgehender Weise verkörperten. Zwischen beiden Parteien spielt sich heute die Tätigkeit im deutschen Kirchenbau ab, wobei die erstere noch immer die bei weitem mächtigste geblieben ist, obgleich man annehmen kann, dass die Zukunft sich mehr und mehr für die letztere erklären wird.

In Wien wurde die Gotik durch Heinrich von Ferstels eindrucksvolle Votivkirche vorteilhaft eingeführt. Sie fand später unter Friedrich von Schmidt, der sich mit Vorliebe einen gotischen Steinmetzen nannte, einen bedeutenden Vertreter, zumal er es verstand, freiere Anschauungen in die Anwendung der gotischen Formen zu tragen. Am bekanntesten ist sein Wiener Rathaus, eine große und straffe Schöpfung, deren Wert weit über die Grenzen des Stilinteresses hinausreicht.

In Frankreich war der Verlauf der romantischen Richtung in der Architektur ganz ähnlich wie in Deutschland; auch hier betätigte sie sich anfangs vorwiegend in der Wiederherstellung alter Denkmäler; auch hier sehen wir im übrigen die vorwiegende Anwendung auf den Kirchenbau; auch hier macht sich, und zwar noch weit mehr als in Deutschland, das Zurücktreten der romantischen Richtung gegen die klassische stark bemerkbar. Aber aus der Reihe der französischen Neugotiker ragt eine Erscheinung hoch empor, die eine ungemein einflussreiche Bedeutung im Sinne der Beförderung mittelalterlicher Architekturziele in der ganzen europäischen Welt erlangen sollte: es war Viollet-le-Duc. Er ist der Schöpfer der unsterblichen Bücher Dictionnaire de l’Architecture und Entretiens sur l’Architecture, Werke, in denen ein unendlicher Fleiß Schätze für Generationen aufgespeichert hat, und aus denen eine Reinheit baulicher Gesinnung und eine unbedingte Überzeugungsfähigkeit spricht, die geradezu epochemachend wirkten. Man wird nicht anstehen, diese Werke zu den ersten architektonischen Büchern des Jahrhunderts zu rechnen. Als ausübender Architekt war Viollet-le-Duc hauptsächlich in Wiederherstellungen tätig, wobei er durchaus unter dem Banne seiner Zeit stand und viel zu viel tat. Auf diese Weise zerstörte er so manches treue Zeugnis aus alter Zeit mit derselben Hand, die so begeistert den Griffel zu seinem Lobe zu führen verstand.

Auffallenderweise hat im neueren französischen Kirchenbau die eigentliche Gotik eine viel geringere Rolle gespielt, als die früheren, vorwiegend romanischen und byzantinischen Stilrichtungen. Von den zahlreichen neueren Kirchen dieser Art ragen zwei mächtige Werke durch ihre Eigenart und die an ihnen bekundete Beherrschung der Mittel, besonders im raumbildenden Sinne, hervor: Vaudoyers Kathedrale von Marseille, und Abadies noch im Bau begriffene Herz-Jesu-Kirche auf dem Montmartre in Paris. Namentlich in letzterem Werke spricht sich dasselbe hohe Können und dieselbe klare Erkenntnis der eigentlich architektonischen Werte aus, die die neue französische Schule auch auf dem Gebiete der klassizistischen Architekturrichtungen auszeichneten.

Ganz anders als auf dem Kontinent verliefen die Dinge in England. Hier schien das gotische Empfinden von Natur näher zu liegen, ja hier gab es sogar einige Landstriche, in welchen der alte gotische Geist sich noch vom Mittelalter her lebendig erhalten hatte. Hier trat auch der Romantizismus in der Literatur mit zwingenderer Gewalt auf, als auf dem Kontinent. Vor allem bahnten die Meisterwerke der Romanschriftstellerei, die Bücher Walter Scotts, mittelalterlichen Kunstidealen die Wege. So kam es, dass in England die Entwicklung der romantischen Baukunst der des Kontinents etwa um zwanzig Jahre voraus war. Und nicht allein dies, sondern sie trat mit ungleich größerer Gewalt ein, sie wurde eine durchaus nationale Bewegung, gegen die, umgekehrt wie auf dem Festlande, die klassizistische Schule an Bedeutung zurücksank. Dies spricht sich am deutlichsten aus in dem schon in den dreißiger Jahren stattfindenden großen Wettbewerbe um das englische Parlamentshaus, in welchem die Gotik zur Bedingung gemacht wurde. Der Bau dieses Riesengebäudes unter Barry, dem als Gehilfe der geniale Architekt Pugin — der eigentliche Begründer der Neugotik in England — zur Seite stand, bildete die hohe Schule für eine vollentwickelte neugotische Kunstausübung, mit welcher England einzig dasteht.

Ein anderer Umstand kam hier noch zu Hülfe. Eine eingetretene kirchliche Reorganisation, verbunden mit einer eifrigen Wiedererweckung kirchlichen Lebens, führte hier der Baukunst kirchliche Aufgaben in übergroßer Fülle zu, und der neu geweckte Opfersinn einer seit Jahrhunderten wohlhabenden Bürgerschaft stellte fast unbegrenzte Mittel für den Bau von Kirchen zur Verfügung. So waren die besten Vorbedingungen gegeben, um in England eine Glanzzeit der Neugotik heraufzuführen. Die Namen der Architekten Pugin, Scott, Street und Pearson glänzen als leuchtende Sterne am Himmel der englischen Architekturgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts. Namentlich in den Werken des letztgenannten Meisters spricht sich eine Beherrschung der baukünstlerischen Mittel in einem echten nordischen Sinne aus, wie sie sonst nirgends erreicht worden ist.

Freilich in einem täuschte man sich auch hier: die mittelalterliche Kunst zu einer kräftigen Gegenwartskunst beleben zu können. Gerade in England sind in dieser Beziehung die gewaltigsten Anstrengungen gemacht worden. Seit dem Bau des Parlamentshauses hat man sich die größte Mühe gegeben, eine gotische Handwerkskunst zu gründen, das Handwerk gotisch zu reorganisieren. Die ganze Architektenschaft hat sich mit der Aufgabe beschäftigt, die gotische Architektur dem Profanbau anzupassen. Es sind auch in beiden Beziehungen sehr gute Erfolge erzielt worden. Aber sie waren nicht von Dauer: es wollte sich keine neue gotische Tradition bilden. Vollends was den lebendigsten Organismus im Gebiete der Architektur anbetrifft, das Wohnhaus mit seiner Ausstattung, so wurden hier Ergebnisse erzielt, die höchstens in das Gebiet des Sonderbaren fallen. Diese gotischen Möbel und diese gotischen Villen, an deren Hervorbringung sich Jahrzehnte herumquälten, wirken heute fast lächerlich. Aber auch von der öffentlichen Architektur ist die Gotik in England schon seit zwanzig Jahren wieder abgedrängt worden, ja selbst im Kirchenbau gilt sie nicht mehr als die allein herrschende. Wer etwa heute noch glaubt, dass wir bei größerer Konzentration in der Wiederaufnahme der mittelalterlichen Baukunst einen Rettungsanker aus dem künstlerischen Chaos hätten finden können, dem kann das englische Beispiel lehren, dass er in einer Täuschung befangen ist.

Und doch hat England durch die sorgsamere und ausgedehntere Pflege der romantischen Richtung in der Baukunst einen Vorteil erreicht, der allen Aufwand reichlich aufwiegt, und um den ihn jedes Land beneiden kann: es ist in die Lage versetzt worden, zuerst von allen Völkern eine moderne und dabei vollständig nationale Kunst zu entwickeln. Um die sechziger Jahre fing sich hier das an zu bilden, was wir als den modernen englischen Stil zu bezeichnen gelernt haben, und zwar fand die Entwicklung in direktem Anschluss an die Gotik statt. Der Vater dieser neuen Kunstrichtung ist William Morris, ihr Mittelpunkt die Ausstattung des englischen Hauses, ihr Leitsatz gesunde Handwerklichkeit, Vernünftigkeit und Aufrichtigkeit und ihre Triebfeder eine echte volkstümliche Begeisterung für die Kunst, die namentlich durch die weitverbreiteten Schriften Ruskins angefacht worden war. Jedermann kennt den Triumphzug, den diese Kunst vor etwa zehn Jahren auch über das Festland unternahm, wo sie mit Gewalt die Geister aufrüttelte und zur Erstrebung gleicher Ziele anstachelte: er wäre ohne die eingehende Beschäftigung Englands mit der Gotik, ohne die hier stattgefundene Sättigung des Volksgeistes mit den aus ihr abgeleiteten neuen Kunstidealen nicht möglich gewesen.

Diesen Vorteil hatte das Festland, wo noch immer die alten griechischen und italienischen Schönheitsideale in den Köpfen spukten, nicht, dazu vermochte die Gotik eine zu geringe Bedeutung zu erlangen. Aber schon allein ihre Aufnahme als eines der Hauptfächer in den architektonischen Unterricht der Fachlehranstalten hat in Deutschland viel guten Samen ausgestreut. In dieser Hinsicht hat namentlich der geniale Lehrer Karl Schaefer einen bestimmenden Einfluss auf die jüngere Generation ausgeübt. Eine neue, aufrichtigere Art künstlerischer Gesinnung ist in dieser allmählich heraufgezogen, die ähnlich wie in England der Nährboden für künstlerische Neuausgänge, namentlich für eine heimische Kunstauffassung und für Ideale wurde, die man im Gegensatz zu den klassischen als germanisch -nordischer Art bezeichnen kann. Freilich so lange hauptsächlich die äußere Form der Gotik noch diktatorisch als das Erstrebenswerte gelehrt wurde und wird, konnte sich der Geist, auf den allein es als erziehlichen Endwert ankommt, noch nicht in völliger Freiheit entfalten. Dazu gehört noch ein Durchringen bis zu einem weitsichtigen Beherrschen des Gebiets, das erst von der Zukunft zu erwarten ist.

Innerhalb der klassizistischen Richtung, die in Deutschland trotz Gotik und Romantizismus die herrschende blieb, sollten noch ernstliche Wandlungen vor sich gehen, ehe ihre Stellung ernstlich ins Wanken geriet. Die streng klassische Art eines Schinkel hatte sich, wie schon erwähnt, unter seinen Nachfolgern in eine freiere Ausübung umgewandelt, und so war schließlich der Schritt von den römischen Vorbildern, wie sie beispielsweise in Stracks Nationalgalerie in Berlin eingehalten worden waren, zu denen der italienischen Renaissance nicht sehr ungewöhnlich. Die italienische Renaissance wurde also bald das Losungswort. Ihre Hauptvertreter waren in Berlin Kyllmann und Heyden und Ende und Böckmann, in Wien Ferstel und Hasenauer, in Stuttgart Leins; alle überragte jedoch in Deutschland der geniale Gottfried Semper, der nach Schinkel wohl die bedeutendste Erscheinung auf dem Gebiete der historischen Architekturrichtungen wurde. Unter seinen zahlreichen Bauten zeichnet sich vor allem sein neues Dresdener Hoftheater durch eine große Meisterschaft im Gebrauch der architektonischen Gestaltungsmittel aus. Außerdem war er einer der bedeutendsten Architekturschriftsteller des Jahrhunderts, sein Buch „Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten“ hat eine Weltberühmtheit erlangt. Wer sich freilich heute die Mühe nimmt, sich in die Gedankengänge dieses Buches zu vertiefen, der wird sogleich erkennen, wie sehr es mit gewissen Vorurteilen der Zeit zusammenhängt, in der es entstand. Es war die Zeit heftigster Stil-Parteikämpfe zwischen Romantikern und Klassizisten. Semper stand so sehr auf dem Boden der letzteren, dass er von der Baukunst des Mittelalters nicht anders als in den verächtlichsten Ausdrücken spricht. Die Gotik ist ihm „ein starres System“, die antikisierende Richtung das „freie Persönliche“. Welches Spiel mit Worten! Auch Semper kannte und sah noch keine nordische Kunst, er erblickt in allen ihren bisherigen Äußerungen nur unwillkommene Abweichungen von seiner großen Weltkunst Antike. Die ganze Richtung, die sich in dem Schaffen Sempers verkörpert, ist eben durchaus noch als der Ausläufer jener weltbürgerlichen Architektur aufzufassen, die der Neuklassizismus in Deutschland geschaffen hatte. Eine auf der Antike fußende kosmopolitische Zukunftsarchitektur war ihr Ziel.

In diese noch immer jenseits der Alpen blickenden Bestrebungen brachte nun plötzlich ein Ereignis, anscheinend äußerlicher Art, aber für Deutschland von universaler Bedeutung, einen Wandel: der deutsch-französische Krieg. Er warf in die verworrenen Kunstbestrebungen der Zeit die Flamme vaterländischer Begeisterung. Wie in allen Verhältnissen, so führte er auch in künstlerischen eine Umwälzung herauf: er bewirkte die allgemeine Wiederaufnahme der deutschen Renaissance. Nächst der klassizistischen Flutwelle, die das Jahrhundert einleitete, ist diese Deutsch-Renaissance-Strömung die kraftvollste, die sich in der Architektur und im Kunstgewerbe im verflossenen Jahrhundert abgespielt hat. Der ersteren gegenüber hatte sie zwei große Vorzüge: sie war national und im Zusammenhang damit volkstümlicher als jene, vor allem aber, sie hatte einen durchgreifenden Einfluss auf das Handwerk. Sie brachte noch mehr als in der Architektur eine mächtige Bewegung in den Kleinkünsten hervor, und unter ihrem Einfluss geschah es, dass über ganz Deutschland Kunstgewerbeschulen, Kunstgewerbevereine und Kunstgewerbemuseen gegründet wurden, die wenigstens das eine unbezahlbare Gute mit sich brachten, ein kräftiges Leben und ein in weitere Kreise dringendes neues Interesse am Kunstgewerbe zu erwecken. Hiermit war die Hauptbedingung für eine fernere Entfaltung gegeben, und alles, was sich seitdem bei uns in dieser Richtung entwickelt hat, knüpft sich an die damals entstandene Bewegung.

In stilistischer Beziehung freilich befand man sich noch in tiefer Befangenheit. Architektur und Kunsthandwerk gaben sich auch hier noch damit zufrieden, mit eifriger Hand die reiche Ernte einzuheimsen und zu verwenden, die der Formenschatz der alten Kunst so bequem lieferte. Daraus musste sich aber notwendigerweise der Zustand einer gewissen Unbefriedigtheit ergeben, es musste eine Zeit kommen, wo man der gleichmäßigen Nahrung müde wurde und nach Abwechslung verlangte. Und so folgte ganz von selbst, dass man schleunigst auf spätere Zeitabschnitte der alten Kunst überging, sobald die Sättigung an den früheren erfolgt war. Wie eine hungrige Herde grasten darauf Architekten und Kunstgewerbetreibende in den letzten zwei Jahrzehnten alles ab, was die auf die deutsche Renaissance folgenden Entwicklungsabschnitte an Vorbildern geliefert hatten. Ein unwürdiges Stiltreiben begann, in welchem Spätrenaissance, Barock, Rococo, Zopf und Empire gleichmäßig abgeschlachtet und nach kurzer Zeit des Blutsaugens in die Ecke geworfen wurden. Was konnte also einfacher sein, als dass man sich binnen kurzem dem Nichts gegenüber befand?

Dieser Zeitpunkt trat ein und zwar erst vor wenigen Jahren. Wahrscheinlich wird eine spätere Geschichte mit ihm den Zeitabschnitt der Architektur des neunzehnten Jahrhunderts beschließen und als das wesentliche Merkmal derselben die äußerliche Wiederholung sämtlicher Stile der Vergangenheit hinstellen. Wir sehen im Verlauf dieses Zeitabschnittes die mächtige Flutwelle des griechischen Klassizismus sich ausbreiten, danebenherlaufend und vorwiegend gegen sie ankämpfend die romantische Bewegung, die aber in Deutschland von verhältnismäßig geringem Einfluss blieb, und gegen Schluss den Stilwettlauf in der Reproduktion sämtlicher Stile der letzten vierhundert Jahre. Bezeichnend ist das Verlorengehen jeder handwerklichen Tradition und die Unmöglichkeit, neue dauerhafte Anknüpfungen an die früheren Zeiten zu schaffen, was sowohl die neugotische als auch die Renaissance-Bewegung versucht und erhofft hatte. Hand in Hand mit diesen Erscheinungen läuft ein schon an der vorigen Jahrhundertwende eingeleiteter Rückgang der natürlichen Kunstpflege und damit des öffentlichen Geschmackes, der von der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ab seinen Tiefstand erreicht und gegen den auch alle vom Staat und von öffentlichen Körperschaften versuchten Mittel zunächst vergeblich ankämpften. Für das ganze Jahrhundert ist der künstlerische Rückgang in jeder Form das bezeichnende Merkmal, der Zustand eines künstlerischen Chaos daher wohl das treffendste Bild.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Stilarchitektur und Baukunst