II. Und doch wäre es verfehlt, eine Betrachtung wie die

II. Und doch wäre es verfehlt, eine Betrachtung wie die vorliegende mit einem lediglich negativen Ergebnis abzuschließen. Das Leben einer Zeit ist so vielgestaltig, dass kategorische Verallgemeinerungen stets gewagt erscheinen; und die großen an der Oberfläche liegenden Erscheinungsformen sind nicht immer das einzig Wesentliche. Gerade in der Zeit, wo diese ausreifen, pflegen sich unter der Oberfläche Keime eines neuen Anfangs zu entwickeln und meist gerade eines Anfangs zu einer Gegenäußerung gegen das Bestehende. Auch ist kein Abweg in irgend einer Lebensentwicklung so nutz- und zwecklos, dass er nicht wenigstens etwas Gutes mit sich brächte. Alles dies trifft auch von der Architekturentwicklung des letzten Jahrhunderts zu.

Wenn wir z. B. das, was die heutige Architektur in ihren besten Äußerungen erstrebt, betrachten, so fällt uns gegenüber der an und für sich gewiss einheitlicheren und geschlosseneren Kunst der vorangehenden Jahrhunderte eins auf: sie wendet ein viel reicheres Register des Ausdrucks an, als irgend einer der historischen Stile. So suchen wir heute, schon was die einzelnen Gebäudegattungen anbetrifft, die besondere Bestimmung durch die architektonische Gestaltung zu charakterisieren, indem wir z. B. in einem Rathause etwas Bürgerliches, in einem Fürstenschlosse etwas Majestätisches, in einem Landhause etwas Wohnliches und Trautes auszudrücken versuchen. Wir suchen nach architektonischen Ausdrucksformen für das Erhabene, z. B. in einem Heldendenkmal, das Düstere, z. B. in einer Grabkapelle, das Festliche und Fröhliche, z. B. in einem Ballsaal, das Liebliche, z. B. in einem Damenzimmer, das Gemütliche, z. B. in einer Kneipstube. Die alte Kunst kannte solche Ziele im allgemeinen nicht, sie machte keinen Unterschied in der Anwendung ihrer Mittel, gleichgültig, ob sie eine Kirche oder einen Ballsaal ausgestaltete.


Wie sind wir auf solche Anforderungen gekommen? Offenbar durch die Schulung, die wir in dem Durchlaufen der geschichtlichen Stile durchmachten. Denn dort erblickten wir die verschiedensten Stimmungsbestandteile in den verschiedenen Stilen einzeln, wir lernten z. B. das Bürgerliche, Traute in der deutschen Renaissance, das Erhabene, Edle in der Antike, das Leichte, Gefällige in der Rococo-Baukunst kennen. Was war natürlicher, als das wir uns in unserm Wiederholungslehrgang der bisherigen Formenkunst an diese Verschiedenheit der Ausdrucksregister gewöhnten und sie nach Absolvierung des Kursus nach Belieben zu verwenden wünschten? So erwuchs aus der an und für sich sinnlos erscheinenden Stiljagd des neunzehnten Jahrhunderts nur eine höhere künstlerische Forderung an die moderne Architektur: die der Beherrschung aller Mittel, die die bisherige Kultur zur Verfügung gestellt hat in einem einheitlichen Sinne, ihre Verwendung zu einem höheren künstlerischen Zwecke.

Aber, wohl gemerkt, es kann sich dabei nicht darum handeln, diese Aufgabe in historisch treuer Gotik, jene in deutscher Renaissance, eine dritte in den Formen der griechischen Antike zu gestalten, dieses Stadium haben wir bereits auf der Schulbank der Wiederholung der Stile erledigt. Da der Kursus jetzt beendigt ist, heißt es frei mit den Mitteln schalten und walten, in der Weise des Meisters, der die Form zerbricht, dem nur die Darstellung der Idee am Herzen liegt und der in allen Architekturformen nur das Handwerkszeug, die äußeren Mittel zu seinem höheren Zwecke sieht. So folgt in diesem stilistischen Sinne schon, dass die Architektur heute an der Schwelle einer neuen Zeit steht, einer Zeit, die freilich die Anforderungen an sie ins Unbegrenzte vergrößert, und der gerecht zu werden ein weit höheres Maß von künstlerischem Können erfordert, als die bisher üblich gewesene Handhabung der einzelnen Stile.

Aber auch noch andere neuzeitliche Forderungen haben sich im Laufe des letzten Jahrhunderts in der Baukunst geltend gemacht und haben — für die große Menge zwar unbemerkt und gegenüber dem durchaus im Vordergrunde stehenden Stiltreiben auch ziemlich im Verborgenen wirkend — doch eine Art Unterströmung hervorgerufen, die einen bestimmenden Bestandteil einer anbrechenden neuen Architektur zu liefern verspricht. Es sind die Forderungen, die sich aus den neuen wirtschaftlichen und Verkehrsverhältnissen, den neuen Konstruktionsprinzipien und den neuen Materialien ergaben. In letzterer Beziehung hat uns das neunzehnte Jahrhundert zwei neue Baustoffe gebracht: Eisen und Glas, für die sich sogleich in den ungemein erweiterten Verkehrsund anderen neuzeitlichen Verhältnissen die Verwendung ergab. Diese Verhältnisse brachten uns einige wichtige neue Gebäudegattungen, vor allem die Bahnhofshalle und das Ausstellungsgebäude. In beiden war die weite Raumbehandlung mit Zuführung eines Höchstmaßes von Licht die Grundbedingung. Eisen und Glas schienen hier die gegebenen Materialien.

Inbezug auf Ausstellungsarchitektur hat England durch den für die erste Weltausstellung von 1851 errichteten Krystallpalast der Welt die Wege gewiesen, ein für seine Zeit völlig einzig dastehendes Unternehmen, ein Wunderwerk des damals noch blühenden englischen Unternehmungsgeistes. Das Gebäude wurde von einem Gärtner, dem später geadelten Joseph Paxton errichtet, den seine Erfahrungen an Gewächshäusern auf die eigenartige Konstruktion aus Eisen und Glas brachten. Man reihte es seiner Zeit wohl kaum in die Werke der Architektur ein, und doch ebnete sein Vorbild einer neuen architektonischen Erscheinung der folgenden Jahrzehnte die Wege: der weitgewölbten Eisenhalle. Sie kam besonders zur Geltung in den Ausstellungspalästen einer Reihe von Weltausstellungen, die Frankreich von da an veranstaltete, und Frankreich, wo der geniale Architekt Labrouste schon früher in seiner Bibliothèque Sainte-Geneviève und der Nationalbibliothek dem Eisen in reichem Maße Zutritt gewährt hatte, übernahm als eigentliches Ausstellungsland die Führung auf diesem Gebiete. Seine glänzendste Leistung inbezug auf Eisenarchitektur führte es 1889 in der großen Maschinenhalle und dem Eiffelturm vor, Werken, gegen die alle Bauten der letzten Weltausstellung einen peinlichen Rückschritt bedeuteten. Dieser Rückschritt war allerdings schon vorbereitet worden durch Amerika, das in Chicago zum Erstaunen der Welt, die gerade von dort etwas Neuzeitliches erwartete, nichts besseres zu thun gewusst hatte, als das bekannte antike Maskenkleid über die Eisengerippe seiner Ausstellungshallen zu hängen. Mochte das Märchenbild, das so geschaffen war, noch so bezaubernd sein, für den Kunstfortschritt konnte diese rückblickende Leistung mit nicht mehr als Null angesetzt werden.

Das Konstruktionsprinzip des aus Eisen und Glas gebildeten Ausstellungspalastes griff bald auch auf andere Gebiete über. Die Bahnhofshalle, die Markthalle, das Museum mit dem glasüberdeckten Mittelhofe, der weite glasüberwölbte Saal in jeder Form, und schließlich auch das sich mit großen Glasflächen gegen die Strasse öffnende städtische Geschäftshaus sind Kinder desselben Gedankens. Die Entwicklung des Geschäftshauses hat sich ganz hauptsächlich in dem rasch aufstrebenden Berlin abgespielt. In ihr verkörpert sich eine wirkliche Kulturleistung Berlins, die in Messels Waarenhause Wertheim sogar ein klassisch zu nennendes Beispiel aufzuweisen hat. In dem letzteren Bau schuf der Architekt, lediglich indem er neuen Bildungsgedanken in logischer und vorurteilsfreier Weise Ausdruck gewährte, etwas durchaus Modernes, ohne dass er eigentlich darauf ausgegangen wäre, es zu thun. In noch weitgehenderem Maße wie beim Geschäfts- und Warenhause haben Eisen und Glas in unsern Sammelpunkten des öffentlichen Verkehrs Anwendung gefunden, die der riesig gesteigerte Bewegungstrieb der modernen Menschheit zu so hoher Bedeutung entwickelt hat. Es wäre verfehlt, solche aus vollkommen modernen Bedürfnissen erwachsenen und mit modernen Mitteln errichteten Bauten aus dem Gebiete einer streng künstlerischen Betrachtung auszuschließen. Niemand wird sich dem befreienden, mächtigen Eindrucke entziehen können, den die modernen, weit gewölbten Eisendächer unserer Bahnhöfe machen. Diese Kinder einer neuen Zeit und einer neuen Ästhetik gehören ebenso gut in das Gebiet der Kunst wie die Kirche und das Museum, ja niemand kann etwas dagegen haben, selbst reinen Ingenieurbauten, wie der kühn geschwungenen Eisenbrücke ein künstlerisches Interesse abzugewinnen und in ihnen eine Äußerung menschlichen Kunstschaffens zu erblicken. Spricht sich doch gerade in ihnen ein vollständig neuer, moderner Bildungsgeist aus, der, so unentwickelt er noch auftreten mag, aus den eigensten Bedürfnissen unserer Zeit geboren ist und weit mehr ein echtes Kind derselben genannt werden muss, als die allzusehr auf Stilwiederholungen ausgehenden Bestrebungen der Architekten.

Als ein Bau, an welchem viele der genannten neuen Gedanken zum ersten Male vereinigt auftraten, ein Bau, auf den sich überhaupt in den letzten Jahrzehnten das architektonische Interesse Deutschlands zusammenzog, muss das neue Reichstagsgebäude in Berlin von Paul Wallot gelten. Gerade die neuen Gedanken, nicht zum mindesten das Wagnis der Hinzuziehung von Glas und Eisen für die äußere Gestaltung der Kuppel, waren der Grund des vielfachen Widerspruches, dem der Bau begegnete. Es ist eine bekannte Erscheinung, dass das vollkommen Neue in der Kunst zunächst immer von der Mehrzahl der Menschen abgelehnt wird, ein Umstand, der sich daher erklärt, dass sich das allgemeine Kunsturteil fast ausschliesslich aus der Gewohnheit ableitet. Das am Reichstagsgebäude enthaltene Neue deckt sich mit den vorhin genannten Forderungen, die uns als die Frucht des Repetitionskursus sämtlicher Stile der Vergangenheit entgegentraten: die freie künstlerische Gestaltung mit Beherrschung aller Mittel der bisher geleisteten Kulturarbeit. Aus dieser Beherrschung ergab sich hier eine individuelle, persönliche Sprache des Künstlers, bei der zwar die Formen der Vergangenheit unbedenklich angewandt wurden, die aber nicht darauf ausging, einen Stil zu reproduzieren, vielmehr frei mit den verschiedenen Stilerrungenschaften schaltete und waltete und eigene, gedankliche Werte mit ihnen schuf. Bei solchen Werten versagt allerdings die im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts üblich gewesene Einreihung in einen bestimmten Stil. Sie haben ihr Wesen in Inhalt, Stimmung und Charakterisierung des Besonderen. So wird jeder Besucher des Reichstagsgebäudes von dem feierlichen, fast düsteren Ernst der südlichen Eintrittshalle eingenommen worden sein, in welchem die gesamte Raumbildung und Ausschmückung auf das eine Ziel hinarbeitet, den Eintretenden in eine weihevolle, die Größe und Bedeutung des Gesamtwerkes vorahnende Stimmung zu versetzen; jeder wird die Wirkung der großen Wandelhalle an sich erfahren haben, in der die Majestät des Reichsgedankens in packender Form ausgeprägt liegt. Die im Reichstagsgebäude zum ersten Male klar ausgesprochenen neuartigen Werte machen ihn zu einem Schöpfungsbau. Mit ihm beginnt ein neuer Zeitabschnitt in der deutschen Baukunst Und Wallot ist in der Tat die einzige Persönlichkeit, die in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in der deutschen Architektur Schule gemacht hat. Er hat jenen Sinn für das Wuchtig-Monumentale, jene von Stilbestrebungen freie, das Charakteristische hervorhebende und auf künstlerische Stimmung hinwirkende Größe eingeführt, der heute die besten Architekten unserer mittleren und jüngeren Generation nachstreben. Die Befreiung von den Fesseln der Stilnachahmung, das ist der ungeheure Dienst, den Wallot der deutschen Architektur geleistet hat. Er drückte seine Ansicht über die Stile selbst treffend dahin aus, dass sie dem Architekten nur das Sprungbrett sein sollten, von dem aus er sich zu eigenem, selbständigen Schaffen erhöbe.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Stilarchitektur und Baukunst