Aber es darf nicht vergessen werden,

Aber es darf nicht vergessen werden, dass die von Wallot geschaffene Architekturrichtung in diesem ausschliesslich monumentalen Sinne eine gewisse Einseitigkeit in sich birgt. An das große Hauptgebiet dessen, was die Baukunst im Leben des Menschen zu leisten hat, die Lösung der einfachen Alltagsaufgaben, hat sie nicht herangereicht. Und man kann nicht einmal wünschen, dass sich ihr besonderer Einfluss auf diese erstrecken möge, denn die phantastische Formenfülle und der hohe Schwung, der ihr eigentümlich ist, wären hier verderblich — schon das Reichstagsgebäude seufzt gewissermaßen unter einer Überladung mit Formen — und würden einen schon ohnedies offenbaren bedenklichen Zug unserer heutigen Alltagsarchitektur nur noch steigern: das Überwuchern des rein Formalen.

Man kann es geradezu als den Fehler des architektonischen Schaffens des letzten Jahrhunderts bezeichnen, dass an den Alltagsaufgaben Monumentalarchitektur zu machen versucht wurde. In fast allen früheren Zeiten, zum mindesten in denen, in welchen die Kunstausübung noch etwas Eigenwüchsiges hatte, hat man einen Unterschied eingehalten zwischen Monumentalbaukunst und bürgerlicher Baukunst. Neben der Architektur, die sich an den großen Werken ausließ, welche als Denkmäler der historischen Baukunst auf uns gekommen sind, lief stets eine bauliche Ausübung her, die in einer gewissen handwerks- und zunftgerechten Weise dem Alltagsbedarf der Menschheit an Wohnhäusern und anderem Kleinbedarf gerecht wurde. Bei ihr sah man ab von der Entfaltung hoher Kunstmittel, man blieb einfach und natürlich, beschränkte sich auf das Notwendige und Nächstliegende und folgte im allgemeinen einer durch Jahrhunderte weitergeführten örtlichen Zunfttradition, auf die die Wandlungen der Monumentalarchitektur, wenn überhaupt, so nur in einer gewissen großen Abschwächung eingewirkt hatten. Sie stand fest auf dem Boden des praktischen Bedürfnisses, der örtlich gegebenen Verhältnisse und vor allem des gesunden Menschenverstandes.


Diese Art der alten Bauausübung ist während des neunzehnten Jahrhunderts im allgemeinen verloren gegangen, sie erhielt gerade so wie das Handwerk ihren Todesstoss durch das Eintreten der griechischen Begeisterung und wurde sodann in der siechen Verfassung, in der sie sich noch eine Zeitlang weiter quälte, vollständig überrannt durch die Jagd nach den historischen Stilen. Ihre letzten Ausläufer erstreckten sich bis knapp in die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Sie kann augenblicklich als vollständig erloschen betrachtet werden. Wer heute unsere Landstädte besucht, der findet in der Regel in der neuentstandenen „Bahnhofsstrasse“ das, was an ihre Stelle getreten ist, jene unwahr empfundenen, von der höheren Baukunst reduzierten und mit den gesuchtesten Mitteln auf „Architektur“ Anspruch erhebenden Kleinstadtbauten, für die vorwiegend unsere heutigen Baugewerkenschulen verantwortlich zu machen sind. Nur in den älteren Bauten der inneren Städte tritt uns in der Regel noch die alte unverfälschte Zunfttradition entgegen, die, schlecht und recht wie sie vor uns stehen, heute gerade durch den Gegensatz zu den modernen Bauten wie eine Erquickung wirken.

Diese Bahnhofsstrassen der Landstädte, sie enthüllen uns mehr als irgend etwas den Standpunkt des Bankerotts, auf dem wir heute in der Bauausübung unserer Alltagsaufgaben angelangt sind. Die stucküberladene, den Fürstenpalast nachahmende großstädtische Mietskaserne konnte man noch für ein ungesundes Erzeugnis unserer ungesunden großstädtischen Verhältnisse erklären; aber das flache Land zeigt uns, dass das Gift heute überall hingedrungen ist, dass unsere Alltagsbauausübung bis in die untersten Schichten hinein verseucht ist, und zwar durch das Bestreben unsachlicher Architekturmacherei, durch den Formalismus und Akademismus, den die künstlerischen Irrfahrten des neunzehnten Jahrhunderts über sie verhängt haben.

Jede Übernahme alter oder fremder Entwicklungserscheinungen in der Architektur muss die Gefahr in sich bergen, auf formalistische Abwege zu führen. Es ist der Fluch jedes abgeleiteten Stils, dass er in dem Vorbilde nur die Form sieht und bewundert, während diese doch in jeder echten Kunst nur eine Äußerung des inneren Wesens, eine Folge der zeitlichen Entwicklungsvorgänge ist. Unsere im letzten Jahrhundert so ungeahnt erweiterte historische Erkenntnis, die sich auch auf die historische Baukunst erstreckt, sollte uns höchstens veranlassen, uns vor einer direkten Übertragung zu hüten. Denn diese Erkenntnis eröffnet uns, auf welch gänzlich verschiedenen Bedingungen die Existenz unserer alten Bauten beruhte, von welch gänzlich verschieden denkenden Menschen sie gebaut wurden, welch gänzlich verschiedenen Zwecken sie dienten. Was wir heute an ihnen bewundern, sind zum nicht geringen Teil Werte, die wir aus irgend welchen sentimentalen Gründen künstlich aus ihnen abgeleitet, zum Teil in sie hinein phantasiert haben. Solche Werte sowohl wie die besondere Gestaltung, in der uns alte Kulturerzeugnisse entgegentreten, lassen sich einem neuen Werke nur mit Einbusse seiner künstlerischen Echtheit aufpfropfen. Denn die künstlerische Echtheit beruht in der vollen Uebereinstimmung von Wesen und Form, nicht darin, dass das Wesen der Sache einer hergeholten Form zum Opfer fällt.

Von dem Klassizismus in Reinkultur gezüchtet und während dieses Zeitraumes unbedingt den Ton angebend, griff der Formalismus des neunzehnten Jahrhunderts durchaus auch auf die romantische Baurichtung über, die doch eigentlich ein Protest gegen die Fesseln sein sollte, die er der Menschheit in der Form des Klassizismus angelegt hatte. Unsere Gotiker verwickelten sich in derselben Weise in den Schlinggewächsen der äußeren Formen und verfielen in derselben Weise in bloße Achitekturmacherei wie die Klassizisten. Und dass sie im Kirchenbau ihre sichern Hütten aufschlagen konnten, lag wohl vor allem daran, dass das kirchliche Leben im neunzehnten Jahrhundert selbst mehr oder weniger zu einem Scheindasein herabgesunken war, dem die kulturbildende Macht der früheren religionskräftigen Zeiten fehlte. Wenn das Christentum der Zukunft etwa mit größerer Entschiedenheit als es bisher geschehen ist dazu übergehen sollte, seine Aufgabe in der Betätigung des christlichen Wirkens, vielleicht gar in der Lösung der sozialen Frage zu sehen, statt sich im gemeinsamen Singen und Beten der Gemeindemitglieder zu genügen, dann werden aus einer solchen neuzeitlichen Programmänderung auch Aufgaben für die Baukunst erwachsen, die sich nicht mehr so ohne weiteres mit der gotischen Phrase lösen lassen werden. Die Bauten der englischen und amerikanischen Sekten, die weniger das Ideal eines stimmungsvollen Kirchenraumes als das eines Gemeindehauses verfolgen, in welchem sich das ganze reichentwickelte gemeinnützige Wirken und die Pflege christlicher Brüderlichkeit dieser Gemeinschaften abspielt, geben hier wertvolle Fingerzeige.

Am ausgesprochensten trat der architektonische Formalismus unbedingt in der Stiljagd auf, die, mit der deutschen Renaissance beginnend, um die siebziger Jahre eintrat und sämtliche Stile der letzten vierhundert Jahre im Fluge durcheilen ließ. Hier handelte es sich um ganz und gar nichts anderes als um ein Geklingel mit Formen, die in einem verhängnisvollen Irrtum für „Architektur“ genommen wurden. Und nicht nur schwelgte man in diesem Formenvorrat an anspruchsvollen Architekturwerken, wie Monumentalbauten, sondern man überspann auch, wie gesagt, die harmlosesten Tagesaufgaben mit diesen Gebilden. Dazu verleitete vorwiegend der Umstand, dass von den Bauten aus alter Zeit nur die Denkmalbauten die Blicke auf sich zogen, während die Alltagsbauten, die doch gewiss gesundere Fingerzeige hätten geben können, wegen ihrer bescheideneren Erscheinung ganz unbeachtet blieben, soweit sie überhaupt unsere Tage erlebt hatten. So übertrug man die Formen Deutscher-Renaissance-Schlösser auf das kleine Bürgerhaus und verfiel so auf denselben Irrtum, den der Klassizismus begangen hatte, indem er die griechische Tempelfront übertrug, oder die Zeit der Nachahmung der italienischen Renaissance, indem sie bei jeder kleinsten Gelegenheit den Pallazzo Pitti in winzigem Maßstabe reproduzierte.

Wie äußerlich das ganze Treiben der Architektur des neunzehnten Jahrhunderts in dieser Hinsicht war, das zeigt schon deutlich die Bedeutung, die das Wort Stil in ihm annahm. Die Architekten befehdeten sich durch Jahrzehnte um den Wert der verschiedenen Stile; Klassizisten und Romantiker standen sich als feindliche Parteien gegenüber und verschwendeten ihre beste Kraft in versuchten Beweisen der Überlegenheit des einen Stiles über den andern. Für das Publikum verdichtet sich noch heute das geringe Interesse, das es der Architektur überhaupt entgegenbringt, in dem Begriff Stil. Die erste Frage, die bei einem neuen Architekturwerk aus dem Munde des Laien vernommen wird, ist die nach dem Stil. In dem Unterscheidungsvermögen der verschiedenen Stile genügt sich selbst derjenige, der für einen Kenner in Architektursachen gehalten sein will. Die Welt liegt im Banne des Wahngebildes einer „Stilarchitektur“. Dass die eigentlichen Werte in der Baukunst von der Stilfrage gänzlich unabhängig sind, ja dass eine echte Betrachtungsweise bei einem Architekturwerk gar nicht von Stil reden wird, dies zu begreifen ist dem heutigen Menschen kaum möglich.

Ja, wie man im Laufe des letzten Jahrhunderts die Architektur überhaupt nur aus dem Stilgesichtswinkel betrachten gelernt hatte, so konnte auch die in ihm wiederholt gehörte Forderung, neben den historischen Stilen einen neuen Stil, den Stil der Gegenwart zu erfinden, nur auf reine Äußerlichkeiten abzielen, und in der Tat hat es nicht an Versuchen gefehlt, das äußere Stilkleid der Bauten in einer Weise zu arrangieren, die man zur Zeit gerade für modern hielt. Es sei hier an die in München unter König Maximilian II. angelegte Maximilianstrasse erinnert, bei deren Häusern man darauf ausging, den neuen Stil durch Verschmelzung von antiken und gotischen Detailformen zu entwickeln, ein Unternehmen, das uns heute ebenso kindisch erscheint, wie seine klägliche Erfolglosigkeit vor aller Augen steht. Zu solchen Versuchen müssen auch diejenigen allerneuesten Leistungen gezählt werden, die das Wesen eines modernen Stils darin suchen, dass sie auf den alten Organismus moderne Pflanzenornamente und Bäumchenmotive leimen, den Säulenköpfen statt der jonischen Schnecken oder korinthischen Blätter naturalistische Pflanzenformen umlegen und den Fensterumrahmungen statt der früheren geraden Umrisslinien solche von geschwungener Form geben. Diese Art modernen Stils ist in den allermeisten Fällen nur eine verschlechterte Auflage der früheren äußerlich gebrauchten historischen Stile, die er ablösen sollte und gehört durchaus noch in das Gebiet der im Formalismus befangenen Architekturmacherei, von der wir füglich genug haben sollten.

Denn nicht in solchen Äußerlichkeiten kann das Neue bestehen, das von der Architektur wie von jeder andern Äußerung einer lebenskräftigen Gegenwart vorausgesetzt werden muss. Neue Gedanken sind es, die wir erwarten und nicht in neue Worte gekleidete Gemeinplätze. Die Architektur hat, wie jedes andere Kunstwerk, ihre Wesenheit im Inhalt zu suchen, dem sich die äußere Erscheinung anzupassen hat, und man muss auch von ihr verlangen, dass diese äußere Form nur dazu diene, das innere Wesen wiederzuspiegeln, wobei die Art der Detailformen, „der architektonische Stil“, zunächst eine verschwindend geringe Rolle spielt.

Von diesem Standpunkte aus wird ein großer Teil der heutigen Architekturleistungen völlig versagen, denn die Befangenheit ihrer Schöpfer in Stilbestrebungen ist ihnen fast als durchgehendes Merkmal aufgeprägt. Will man daher nach einem neuen Stile, dem Stile unserer Zeit suchen, so wäre den Kennzeichen desselben viel eher in solchen neuartigen Schöpfungen nachzuspüren, die wirklich ganz neu entstandenen Bedürfnissen dienen, wie etwa in unsern Bahnhöfen, Ausstellungsbauten, Riesenversammlungshäusern, ferner auf allgemein-tektonischem Gebiete, in unsern Riesenbrücken, Dampfschiffen, Eisenbahnwagen, Fahrrädern usw. In der Tat sehen wir gerade hier wirklich neuzeitliche Gedanken und neue Gestaltungsgrundsätze verkörpert, die uns zu denken geben müssen. Wir bemerken eine strenge, man möchte sagen, wissenschaftliche Sachlichkeit, eine Enthaltung von allen äußern Schmuckformen, eine Gestaltung genau nach dem Zweck, dem das Werk dienen soll. Und trotzdem, wer möchte den gefälligen Eindruck einer weit geschwungenen Eisenbrücke leugnen, wem gefällt nicht der heutige elegante Landauer, das schmucke Kriegsschiff, das zierliche Zweirad? Da sie aus unserer Zeit heraus so entstanden sind, wie sie heute vor uns stehen, so sehen wir doch offenbar in ihnen einen modernen Empfindungsbestandteil niedergelegt Sie müssen eine ausgesprochen moderne Gestaltung verkörpern, sie müssen das Empfinden unserer Zeit ebenso wiederspiegeln, wie das mit reichem Akanthuswerk überzogene Kanonenrohr das Empfinden des siebzehnten Jahrhunderts oder die mit vergoldeter Schnitzerei verzierte Sänfte das des achtzehnten Jahrhunderts verkörperte.

In solchen neuartigen Gebilden sind die Fingerzeige gegeben, welche auf unsere ästhetische Vorwärtsbewegung hinweisen. Diese kann nur in der Richtung des streng Sachlichen, der Beseitigung von lediglich angehefteten Schmuckformen und der Bildung nach den jedesmaligen Erfordernissen des Zweckes gesucht werden. Andere Anzeichen bestätigen dies, so z. B. unsere Kleidung. Die Männerkleidung, die noch bis in die zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts — wenigstens soweit der Anzug der Kavaliere in Frage kommt — in den reichsten Formen gehalten war, Verzierungen aus Stickerei trug und aus kostbaren, leicht verletzlichen Stoffen gefertigt wurde, hat im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts eine ständige Vereinfachung bis auf unsern heutigen schmucklosen Frack und Überrock hin erfahren. Die heutige Kleidung ist dazu dieselbe für jeden Stand unserer Gesellschaft, deren Eigentümlichkeit es ist, dass sie in allen ihren Teilen auf das bürgerliche Ideal abgestimmt ist, während noch im achtzehnten Jahrhundert eine besondere Sitte, Lebensart und Kleidung des obersten Standes vorlag. Nur in der militärischen Uniform hat sich heute noch ein Rest der alten schmückenden Kultur erhalten, aber man kann jetzt auch ihre Tage als gezählt betrachten, nachdem schon das Bild der aus der Tropenuniform verallgemeinerten, glänz- und farblosen Soldatenkleidung der Zukunft am Horizont aufgetaucht ist. Selbst im Anzug der Frau, der doch stets künstlerischen Gesichtspunkten im höchsten Maße Rechnung trug, gehen bereits Umbildungen nach der Einfachheit und unbedingten Zweckmäßigkeit hin vor sich, die sich, als vorwiegend von England aus verbreitet, für uns heute in dem Begriff tailor made verdichten.

Trotzdem wäre es gewagt, anzunehmen, dass uns die Befriedigung des blanken Zwecks allein schon genügte. Der „Reformanzug“, in welcher Form er auch empfohlen wurde, hat noch stets für unser Empfinden die Karikatur gestreift. Unsere heutige einfache Kleidung ist auch keineswegs ohne alle überflüssigen Bestandteile. Der heutige elegante Herrenanzug kennt noch den Zylinder, die Glanzlederschuhe und die seidenen Rockaufschläge — Bestandteile, die man fast mit gewissen polierten und vernickelten Sonderteilen einer Maschine vergleichen könnte. In beiden Fällen scheint ein gewisses Sauberkeitsbedürfnis sie geschaffen zu haben, und zwar ein Bedürfnis, unwillkommene Ablagerungen nicht nur zu verhindern, sondern auch stets den Beweis zu liefern, dass sie nicht vorhanden sind, dass alles schmuck und in bester Ordnung ist. Dahin gehört auch durchaus unsere gestärkte weiße Wäsche.

Es berühren sich also hier gewisse ideal-sanitäre Anschauungen mit den ästhetischen. Und die Verknüpfung beider tritt auch durchaus in den modernen Umgestaltungen auf, wie sie jetzt beispielsweise das Innere unseres Wohnhauses durchzumachen beginnt. Hier gehen Umbildungen vor sich — am besten erkennen wir sie im heutigen englischen Hause — welche auf Beförderung des Eintritts von Luft und Licht, unbedingt zweckmäßige Gestaltung des Raumes, Vermeidung aller unnützen Anhängsel in der Dekoration, Beseitigung des schweren, unbeweglichen Hausgeräts und auf durchaus helle, den Eindruck der Sauberkeit erweckende Gesamtstimmung hinzielen, Umbildungen, die sich genau in derselben Richtung abspielen, wie es bei unserer Kleidung, der engeren Wohnung, die uns umgibt, der Fall gewesen ist.

Fasst man dies alles zusammen, so lässt sich unsere heutige ästhetisch-tektonische Anschauung vielleicht dahin feststellen, dass wir statt nach Entfaltung von rein äußerlichen, mit dem Wesen der Sache nicht in unmittelbarem Zusammenhange stehenden Schmuck jetzt mit Entschiedenheit auf eine zweckmäßige Gestaltung hinstreben, jedoch nicht ohne gleichzeitig auch eine gewisse, mehr sinnbildlich als praktisch mitsprechende schmucke Eleganz, eine gewisse saubere Knappheit der Form darzulegen.

Auf dem Gebiete dessen, was wir gemeinhin mit dem Begriff Architektur bezeichnen, wird man freilich diesen scharf modernen Zug heute weder schon deutlich erkennbar ausgesprochen finden, noch ihn auch durchweg erwarten dürfen. Einmal muss man, wenn von Architektur die Rede ist, zunächst den schon erwähnten Unterschied zwischen Werken der höheren Baukunst und den Alltagsaufgaben (Monumentalbaukunst und bürgerlicher Baukunst) einhalten, wenn auch zugegeben werden muss, dass dieser Unterschied nur ganz allgemein genommen werden darf, und dass sich scharfe Grenzen nicht ziehen lassen. Von der ersteren wird eine gewisse gebundene Form nicht zu trennen sein; die Einteilung in ein festes architektonisches Gerippe, das Vorwalten des strengen Rhythmus sind hier ebenso unerlässlich, wie der regelrechte Bau eines Dramas, oder die poetische Form in einem Gedicht Eine realistische, rein nach dem Bedürfnis zugeschnittene Gestaltung wird man hier nicht verlangen können und dürfen. Anders liegt die Sache aber natürlich bei den Tagesaufgaben, insbesondere beim Wohnhausbau, wo wir die Ansprüche, ein höheres Kunstwerk in gebundener Form hervorzubringen, füglich fallen lassen sollten und wo solche Ziele ebenso am unrechten Platze sind, wie etwa die Absicht des Tagesschriftstellers, einen Zeitungsaufsatz in die Form eines Epos zu bringen.

Sodann ist aber auch noch in Rechnung zu ziehen, dass eine im Grunde ihres Wesens konservative Kunst wie die Architektur die gewohnten Geleise nicht so leicht wird verlassen können, als etwa die Malerei oder das Kunstgewerbe. Denn der Gegenstand, um den es sich beim Bauen handelt, ist immer von ziemlich großer wirtschaftlicher Bedeutung, seine praktische Durchführung erfordert eingehende Vorbereitung und hängt von einer Menge von äußern Umständen ab, mit denen andere Künste nicht zu rechnen haben. Die Baukunst ist von allen Künsten die schwerfälligste.

Aber dennoch hat sich unsere bisherige Architektur, ganz besonders die der kleineren Tagesaufgaben, in einer Weise den sich sonst überall Geltung verschaffenden Gegenwartsbestrebungen verschlossen, dass sie heute von dem Anschein einer gewissen Verknöcherung und Entfremdung von dem Leben nicht frei ist. Hierfür sind aber vorwiegend die äußerlich-stilistischen Bestrebungen verantwortlich zu machen, die sie während des ganzen letzten Entwicklungszeitraumes im Banne gehalten haben. Eine Abstreifung solcher bloßen Architektur- und Stilmacherei, wie sie heute noch fast das ganze Feld beherrscht, wird zunächst Not tun, um einen Verjüngungsprozess einzuleiten. Wenn es gelänge, den Begriff Stil zunächst einmal ganz zu verbannen, wenn sich der Baukünstler mit Absehung von allem Stil zunächst immer klar und in erster Linie an das hielte, was die besondere Art der Aufgabe von ihm verlangt, so wären wir von dem richtigen Wege zu einer Gegenwartskunst, zu dem wirklichen neuen Stil nicht mehr weit entfernt. Bedächte er nur, dass man in einem Kaufhause vor allem verkaufen, in einem Wohnhause wohnen, in einem Museum ausstellen, in einer Schule lehren will, suchte er nur in der Grundanlage, im Aufbau, in der Gestaltung der Räume, in der Anordnung von Fenstern, Türen, Wärme- und Beleuchtungsquellen zunächst lediglich den sich daraus ergebenden Forderungen gerecht zu werden und zwar bis in alle Einzelheiten, so wären wir schon auf dem Wege zu jener strengen Sachlichkeit, die wir als den Grundzug modernen Empfindens kennen gelernt haben. Dass allen diesen Forderungen, deren Berechtigung ja eigentlich auf der Hand liegt, heute schon in befriedigender Weise Rechnung getragen würde, wird niemand behaupten können. Der Durchschnittsarchitekt von heute baut noch immer in allererster Linie stilistisch, er baut entweder in einem von der Antike abgeleiteten, oder in einem der mittelalterlichen Richtung angehörenden Stile. Im erstem Falle zwängt er den Körper, den er architektonisch behandeln will, in die Fesseln strenger akademischer Achsen, unterdrückt jede durch die Verhältnisse bedingte Unregelmäßigkeit zu Gunsten seines formalistischen Schemas, legt die Fenster viel eher dahin, wo es seine imaginären Achsen vorschreiben, als dahin, wo es Bedürfnis und Himmelsrichtung erwünscht machen, unterdrückt das Dach, die Schornsteine und alles, was seinen formalistischen Anschauungen einer korrekten italienischen Fassade zuwiderläuft. Baut er mittelalterlich oder in deutscher Renaissance, so ist das Losungswort malerisch; er pflegt sich dann in einer rein äusserlich bestimmten, vielfach willkürlichen Gruppierung zu ergehen, die wiederum mit dem Wesen der Sache nichts zu thun hat; er bringt Türmchen, Giebelchen, Erker da an, wo sie ihm für die malerische Gruppe erwünscht erscheinen und legt die Treppe so, dass ihre aufsteigenden Fenster von der Strasse aus ein gutes Bild machen. In beiden Fällen macht er eben in erster Linie Architektur, statt in erster Linie seine Aufgabe sachlich zu lösen. Er schafft ein Wahngebilde von abstrakter Schönheit, unter dem sich der Benutzer drehen und winden kann, wie er will; der Architekt glaubt dieses Opfer zu Gunsten seiner Stil- und Architekturbestrebungen von ihm verlangen zu können. Ja er hält dieses Stil- und Architekturmachen für seinen eigentlichen Beruf, seinen Apparat an Säulen, Giebeln, Verdachungen, Turmlösungen für sein eigentliches Handwerkszeug, in dessen Handhabung er auf der Bauschule zunftgemäß ausgebildet worden und von dem er sich keinesfalls zu trennen gesonnen ist. Er betätigt sich vor allen andern Dingen als „Stilarchitekt“.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Stilarchitektur und Baukunst