Unter den Ergebnissen, welche die mannigfaltigen

Unter den Ergebnissen, welche die mannigfaltigen Architekturwandlungen des neunzehnten Jahrhunderts mit sich gebracht haben, ist vielleicht die beginnende neue Stellung zur Stilfrage das wichtigste. Das Jahrhundert, das sich in der Architektur am deutlichsten als das des chaotischen Durcheinanders aller Stile der Vergangenheit kennzeichnet, hat wenigstens das Eine mit sich gebracht: eine völlige Entwertung dieses Stiltreibens, sodass wir heute bereits dahin gekommen sind, dass die bloße schulmäßige Anwendung eines geschichtlichen Architekturstils nicht mehr als Verdienst gilt, ja kaum mehr unser Interesse in Anspruch nimmt. Es steht heute außer aller Frage, dass keiner der wieder aufgenommenen alten Architekturstile als Gegenwartsstil sich bewährt, dass keiner von ihnen sich als lebenskräftig erwiesen hat. Auch die gewaltsamen Versuche, mit äußerlichen Mitteln einen neuen Stil zu erfinden haben zu nichts geführt, weil sie eben äußerlich blieben. Der ungeheure Aufwand an Ästhetik und Archäologie, den das Jahrhundert in die Schranken gefordert hat, die krampfhaften Anstrengungen ganzer Philosophenschulen, dem Kunstschaffen mit Gesetzen unter die Arme zu greifen, sie sind an dem immer mehr in Erkrankung geratenden Körper der Architektur abgeprallt, nicht ohne dessen Lebenskräfte, wie falsche Medikamente, nur noch mehr zu erschüttern.

Unterdessen wirkte aber das nie rastende Leben weiter und schuf sich, während sich die Mutter Architektur auf Abwegen befand, selbst Formen für das, was es an Neuem hervorbrachte, die anspruchslosen Formen der reinen Sachlichkeit, es schuf unsere Maschinen, Wagen, Geräte, eisernen Brücken und Glashallen. Indem es dabei ganz nüchtern vorging, indem es praktisch, man möchte sagen rein wissenschaftlich verfuhr, verkörperte es nicht nur den herrschenden Geist der Zeit, sondern passte sich auch den unter dem Einfluss desselben sich umbildenden ästhetisch-tektonischen Anschauungen an, die immer entschiedener statt der früheren schmückenden Kunst eine sinngemäße sachliche Kunst verlangten.


Auf eine sachliche Kunst hatten im Grunde schon die unklaren romantischen Bestrebungen, soweit sie in der Architektur sich äußerten, abgezielt, sie waren — als höchst bezeichnendes Merkmal — im neunzehnten Jahrhundert zum ersten Male wieder auf jene nordischen Anschauungen einer im Grunde ihres Wesens sachlich und werklich empfindenden Kunst zurückgekommen, die die gotische Zeit in so großer Klarheit verkörpert. Nur der Umstand, dass sich die neugotische Schule in derselben Weise in das Äußerlich-Formale, in die bloße Stilauffassung verwickelte, wie es die klassizistische getan hatte, konnte den großen Umbildungsprozess etwas verdunkeln, der sich trotz aller Schwankungen und Gärungen im neunzehnten Jahrhundert mit steigender Folgerichtigkeit zu vollziehen begann: den Ersatz des klassischen Schönheitsideals durch ein neues, dem nordisch-germanischen Geiste entsprechendes.

Will man beide Ideale mit Worten charakterisieren, so kann man sagen, dass die Kunst der romanischen Völker das als allgemein gültig betrachtete formal Schöne anstrebt, während die germanische das Charakteristische will. An Stelle der schwungvollen, die Wesenheit überdeckenden Harmonie der klassischen und italienischen Kunstauffassung liebt die nordische das Kennzeichnen der Sonderumstände zu setzen, an Stelle der anerkannten, äußeren Schönheitslinie das innerlich Ansprechende, an Stelle des Symmetrischen die den Umständen angepasste Gestaltung, an Stelle des Pathetischen das Vernünftige. Die klassische Kunst ist die Kunst des Allgemeinen, die germanische die des Besonderen.

In dem Individualismus berührt sich die germanische mit derjenigen Kunstauffassung, die wir augenblicklich im besten Sinne als die moderne bezeichnen. Aber auch schon die weiter vorn erörterte neuere Anschauungsweise in der architektonischen Gestaltung, die die Errungenschaften der bisher geleisteten architektonischen Arbeit in den Dienst einer persönlichen, dem jedesmaligen Zweck und Stimmungsziel angepassten Gestaltung stellt, gehört dahin, ebenso wie das jetzt auftretende Verlangen, die Sonderheit des Gebäudes, die Bestimmungsart des Raumes architektonisch zu charakterisieren. Ganz und gar aber entspricht diesem Geiste der realistische Grundzug sowohl wie das Stimmungs- und Individualisierungsmotiv der neuen kunstgewerblichen Bewegung, die ja übrigens eine ausgesprochen germanische Färbung schon dadurch hat, dass sie von nordischen Völkern entwickelt worden und bisher fast ausschliesslich auf diese beschränkt geblieben ist. Parallelbestrebungen finden sich in andern Künsten: die letzten auf Naturalismus einerseits, auf Stimmungswerte anderseits ausgehenden Wandlungen in der Malerei und Poesie deuten auf dasselbe Ziel hin.

In einem Zusammenfassen aller dieser schwankenden Bewegungen der Gegenwart, mit klarer Erkenntnis ihres gemeinschaftlichen Gravitationspunktes, wird heute das Ziel unseres Kunststrebens gesucht werden müssen. Denn es gibt keine Spezialkünste, sondern nur eine große Allgemeinkunst. Aber es gehört zu deren Lebensmark, dass sie eine einheitliche Überzeugung vertritt Die Architektur wird als schwerfälligste der Künste naturgemäss erst zuletzt in die Lage kommen, die vollen Konsequenzen des neuen Geistes zu ziehen. Aber sie wird sich hierzu entschließen müssen, wenn sie die ihr gebührende Stellung im Concert der Künste wieder erobern will. Sollten wir aus dem Irrgarten der Kunst der letzten hundert Jahre je wieder zu Kunstzuständen gelangen, die auch nur eine entfernte Aehnlichkeit mit den großen Epochen der Kunstgeschichte aufweisen, so wird auch die Architektur wieder die Führerrolle in der Gemeinschaft der Künste übernehmen müssen. Von ihr aus werden die Strahlen eines neuen künstlerischen Lebens ausgehen müssen, sie wird es sein, die den andern Künsten das Rückgrat gibt und ihnen wieder die Größe und Straffheit einhaucht, die sie unter ihrer Führung in früheren Glanzzeiten hatten.

Dies fühlte der künstlerische Apostel Englands, Ruskin, indem er schon Ende der vierziger Jahre die Worte niederschrieb: „Ich bin der Überzeugung, dass die Architektur der Anfang aller Kunst sein muss, und dass die andern Künste ihr folgen müssen nach Zeit und Ordnung. Und ich glaube, dass das Gedeihen unserer Maler- und Bildhauerschulen in erster Linie von dem Gedeihen unserer Architektur abhängig ist. Alle Künste müssen solange im Schwächezustande verharren, bis diese bereit sein wird, die Führung wieder zu übernehmen.“

Wann wird unsere Architektur hierzu bereit sein?

Nicht eher jedenfalls, als bis sie sich aus den Fesseln des Stilgesichtspunktes, in denen sie während eines Jahrhunderts festgebannt lag, zu neuer goldener Freiheit emporgerungen hat, nicht eher, als bis sie aus einer schemenhaften Stilarchitektur wieder zu einer lebendigen Baukunst geworden ist.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Stilarchitektur und Baukunst