Mit dieser Stilbefangenheit sowohl als mit der

Mit dieser Stilbefangenheit sowohl als mit der natürlich bedingten Schwerfälligkeit der Architektur mag es zusammenhängen, dass eine grundsätzliche Schwenkung aus unsern bisherigen Kunstzuständen, die unter dem Begriff der neuen Bewegung seit einigen Jahren im Gange ist, zunächst nicht innerhalb der Architektur ihren Anfang nahm, sondern beim Kunstgewerbe, und dass bisher hier nicht Architekten die Führer waren, sondern Künstler aus einem ganz andern Lager, vornehmlich dem der Maler. Nur in Wien, wo die Architektenschule Otto Wagners schon seit Jahren auf eine künstlerisch freiere, dem Zweckmäßigkeitsbedürfnis Rechnung tragende Architektur hingearbeitet hatte, war die Baukunst von vorn herein in der Lage und bereit, eine Verbindung mit dem neu aufstehenden Kunstgewerbe einzugehen. An andern Orten, vornehmlich in Deutschland, verhielt sich bisher die Architektenschaft ziemlich ablehnend. Aber wie das Kunstgewerbe im letzten Ende doch nur auf die Ausgestaltung des Innenraumes gerichtet ist, so arbeitet es der Architektur, selbst wenn man diese in dem heute üblichen engen Begriffe des Gebäudeerrichtens fasst, doch unmittelbar in die Hand. Ein Erfolg der neuen Richtung im Kunstgewerbe kann daher keineswegs ohne Einfluss auf die Architektur bleiben, ja er kann dazu führen, dass das Kunstgewerbe die Architektur jetzt ebenso nach sich zieht, wie es in der deutschen Renaissance-Bewegung in den siebziger Jahren der Fall war, die ebenfalls beim Kunstgewerbe ihren Ursprung nahm.

Noch lässt sich freilich über diese engere kunstgewerbliche Bewegung selber nicht ganz klar sehen. Die Bewegung stellt sich in Deutschland heute noch als ein brodelndes Kochen sich vielfach widerstreitender Elemente dar, das weit davon entfernt ist, ein einheitliches Bild zu gewähren. Im letzten Ende eine Folgeerscheinung derjenigen Bewegung, die unter der Führerschaft von William Morris in England in den sechziger Jahren entstand, ist sie von dieser doch grundverschieden. Was sie von der englischen Bewegung äußerlich am meisten unterscheidet, ist der schwellende Formenaufwand und die Sucht nach sensationellen Gestaltungen, die sich in den Leistungen der neuen kontinentalen Kunst bisher ausgedrückt hat. Die ganze Bewegung ging in Deutschland eigentlich von dem Bestreben aus, sogenannte neue Formen zu suchen, Formen, die grundsätzlich mit den überlieferten nichts mehr gemein haben sollten. Mochte nun zu diesem plötzlich ausbrechenden Verlangen das seit Jahren bei Abhaspelung der alten Stile aufgespeicherte Missbehagen die unmittelbare Veranlassung abgeben, so ist doch nicht zu vergessen, dass sich in ihm eine Auffassung kund gibt, die auf den Grund der eigentlichen künstlerischen Zeitfragen nicht hinabreicht Es sind eben wieder Formen, um die es sich handeln soll, im Grunde also wieder die alte Stil- und Ornamentmisere. Denn was kann es der Menschheit nützen, wenn sie nun Jetzt statt der alten Akanthusranke eine solche aus Linienschnörkeln vorgeführt erhält? Glaubt man von einer solchen Änderung von Äußerlichkeiten, dass sie uns die künstlerische Erlösung bringen wird, nach der wir heute so sehr verlangen?


Indessen, wer tiefer zusieht, und wer sich durch die gewalttätige Art, mit der derartige Äußerlichkeiten uns hier und da entgegengestreckt werden, nicht beirren lässt, der wird doch in der jetzigen Bewegung tiefere Gründe entdecken. Und vielleicht gelangt er dann zu der Hoffnung, dass dieser Formenstandpunkt, der auch in dieser sogenannten neuen Kunst im allgemeinen heute noch vorwaltet, nur ein Durchgangsstadium darstellt, dass er nur die Kinderkrankheit ist, durch die sich eine heraufkommende neue Kunstauffassung durchzuwinden im Begriff steht.

Denn zu der früheren Kunstausübung, die sich unter dem Banne der historischen Stile abspielte, steht die neue Bewegung, wenn man die besten Leistungen ihrer Führer betrachtet, doch in vieler Beziehung in einem vorteilhaften Gegensatze. An Stelle der lediglich schulmäßigen Gestaltung von früher tritt eine freie, durch keine Fesseln beengte Formengebung, die den jedesmaligen Sonderumständen Rechnung trägt, die sich flüssig jedem Bedürfnis anpasst, dem Innern Wesen der Aufgabe nachspürt und dieses äußerlich auszudrücken sucht. An die Stelle der schulmäßigen, akademischen Ausbildung ist die individuelle getreten, und schon hierin liegt ein Sieg des Gegenwartsgeistes ausgedrückt, den die Bewegung verkörpert. Neben den mehr realistischen Bestandteilen entdecken wir noch einen feinen Stimmungsbestandteil. Man strebt eine gewisse seelische Einheitlichkeit der Farben- und Formenwerte des Innenraumes an, wobei man jenen verfeinerten Farbensinn betätigt, der sich aus der neuern farbigen Wiedergeburt in der Malerei herüber verpflanzt hat. In der Formengebung bevorzugt man die weiche, flüssige Linie, die ja jedenfalls an Ausdrucksfähigkeit von der starren, geraden, die vor ihr herrschte, nicht erreicht werden kann. Sie allein ist, so sagt man, im stände, den feineren Abstufungen des modernen, stark differenzierten Gefühlslebens gerecht zu werden, die flüchtigen Stimmungen, die der moderne Mensch im Kunstwerk verkörpert sehen will, festzuhalten. So stellte sich diese neue kontinentale Kunst bisher vorzugsweise als Gefühlskunst dar, worin ihre starken und schwachen Seiten ausgedrückt liegen. Als Gefühlskunst kann sie es dahin bringen, das gerade vorliegende Gefühlsleben unserer Zeit zu decken und vielleicht ganz zu erobern. Aber sie muss sich bewusst bleiben, dass sie sich damit auf dem schwankenden Boden sich stetig ändernder Werte bewegt. Die innerhalb der Pendelschwingungen der Gefühlswerte liegende Gravitationsachse, das in dem Wechsel allein Dauernde und mathematisch zu Fassende ist für die tektonischen Künste in den sich stets gleich bleibenden Forderungen bestimmt, welche Material, Zweckmäßigkeit und Konstruktion diktieren. Je vollkommener sie erfüllt werden, um so dauernder werden die gewonnenen Werte sein. Vom Standpunkt dieser Forderungen jedoch erscheint an den bisherigen Leistungen der modernen Bewegung durchaus nicht alles unbedenklich.

Man kann von den Verirrungen absehen, in die unsere heutige niedere Industrie in missverstandener Nachahmung der Äußerlichkeiten der Großen gerathen ist, Verirrungen, die den sogenannten Jugend- oder Sezessionsstil — mit welchem Namen die Fabrikanten ihre neueste Mode bezeichnen — schlimmer erscheinen lassen, als irgend eine der früher unter der Flagge der historischen Stile gepflegten Moden. Auch die Kunst der Großen fordert vielfach zum Widerspruche heraus. Die erwähnte gefühlvolle Geschwungenheit aller Linien, deren Ursprungsland Belgien ist, nimmt auf kein Material Rücksicht, sie zwingt das Buchornament, den Messingleuchter und das Möbel ;in gleicher Weise in ihren Bann. Gerade in der Möbelkunst aber fordert sie unverantwortliche Opfer an Konstruktions- und Materialrücksichten. Die ausgeprägteste Eigenschaft des Holzes ist die Faserung in einer bestimmten Richtung. Ist nun auch unsere heutige Technik in der Lage, jede sich daraus ergebende Konstruktionsschwierigkeit zu überwinden, und versorgen uns auch überseeische Länder mit Holzarten, bei denen die Spaltbarkeit die denkbar geringste ist, so bewegt sich doch diese ganze Tischlerei in gewissen gekünstelten Verhältnissen. Dadurch wird sie aber vor allem äußerst kostspielig, und ihre Erzeugnisse bleiben den breiteren Schichten des Volkes vorenthalten. Auch im allgemeinen genommen scheint es mit dem Geiste einer im ganzen sachlich und nüchtern denkenden Zeit wie der unsern wenig vereinbar, ein Material im entgegengesetzten Sinne davon zu behandeln, wie es seine Natur erfordert. Die neue Bewegung würde an Überzeugungsfähigkeit und Volkstümlichkeit ungemein gewinnen, wenn in ihr mehr Natürlichkeit und gesunde Werklichkeit zur Geltung käme. Ein kräftiger Schuss Realismus täte ihr ungemein gut. Zugleich würde sich dann der wirtschaftliche Rahmen ihrer Erzeugnisse der größeren Verbreitung im Volke anpassen, wodurch ungemein viel erreicht wäre; denn es kann sich heute bei einer Bewegung, die reformierend wirken will, nicht lediglich darum handeln, eine Luxuskunst zu entwickeln, es muss vielmehr das Ziel bestehen, der bürgerlichen Gesellschaft, die das Gesamtbild unserer modernen gesellschaftlichen Zustände bestimmt, eine ihr angepasste Kunst entgegenzubringen.

Aber hier stoßen wir sogleich auf einen neuen Missstand unserer heutigen deutschen Verhältnisse: unsere moderne Gesellschaft hat gar noch nicht das Verlangen, ihre Umgebung verändert, sie künstlerisch gestaltet zu sehen. Hierzu ist sie vor allem auch kaum in der Lage, so lange unsere gegenwärtigen Wohnungszustände weiter dauern. Zum Unterschiede von England, wo die um soviel ältere Bewegung fast von Anfang an Gelegenheit hatte, im Hause ihren natürlichen Stützpunkt zu sehen, wo durch alle Schichten noch das Verlangen wach ist, im eigenen Hause zu wohnen, sich dauernd ansässig zu machen, hat der Deutsche kein eigentliches Haus. Er sucht in einer Unstetigkeit, die noch etwas vom Nomadenleben behalten zu haben scheint, im fabrikmäßig hergestellten Mietshause seine Unterkunft. Das geringe Interesse, dass ihn so an die Räume fesselt, in die ihn der Zufall getrieben hat, und die er wie ein Hotelzimmer leichten Herzens wechselt, ist im Grunde der Krebsschaden, der unsern gesamten deutschen Kunstverhältnissen anhaftet.

In der Tat wird eine Änderung unserer deutschen künstlerischen Zustände nur in einem, im wesentlichen noch zu schaffenden, deutschen Hause ihren Anfang nehmen können. Die Kunst beginnt, wie so vieles andere, zu Hause. Nur wer in seinen vier Wänden künstlerischen Interessen obliegt, wer hier in einem natürlichen Drange seine persönliche Umgebung künstlerisch gestaltet, wird jenes Gefühl für Kunst aus seinen Räumen auf die Strasse und in die weitere Umwelt mitnehmen, das unerlässlich ist, wenn die heutige Welt wieder zu einer breitern volkstümlichen Kunst gelangen soll.

Auch die jetzt ganz und gar unvolkstümliche Architektur kann nicht zur Volkstümlichkeit gelangen, es sei denn durch das Stadium der häuslichen Baukunst. Diese wird es zunächst gelten neu zu gestalten. Und auch hier wird die Umbildung nur von dem Kleinen ins Große, vor allem von innen nach außen vor sich gehen können. Jeder Einzelne hat es in der Hand, das Zimmer, in dem er lebt, vernünftig-künstlerisch zu gestalten. Ist der Sinn dafür in breitern Schichten geweckt, so muss notwendigerweise ein echteres Volksempfinden in bezug auf die Erscheinung des Hauses eintreten; und ist dieses vorbanden, so hat der Einzelne wieder den Schlüssel für das Verständnis von Architekturfragen überhaupt in der Hand. Die Baukunst wird ihm vielleicht dann nicht mehr jene nichtssagende, ja abweisende Fachkunst sein, die sie bis jetzt für das große Publikum war, sie wird wieder in den Bereich seines Verständnisses und seines Interesses kommen.

Dieses Bild eines möglichen Ganges der Ereignisse lässt sich bereits durch ein Beispiel belegen: in England hat die Entwicklung diesen Weg eingeschlagen und bis jetzt wenigstens zu einer glänzend entfalteten Hausbaukunst geführt. Auch hier fing die kunstgewerbliche Bewegung unter William Morris zunächst im Innern des Hauses ihr Umbildungswerk an. Es dauerte nicht lange, so folgte eine gänzliche Revolution in der häuslichen Baukunst. Auch hier lag die letztere in den Fesseln eines abstrakten Formalismus; Gotiker und Klassizisten überboten sich gegenseitig in der unsachlichsten Architekturmacherei. Die einen führten ihre aus unechten Kirchenformen aufgebauten Kastellchen auf, die andern setzten jene geputzten und ölfarbegestrichenen dachlosen Kästen in die Welt, die letzte Abwandlung des Pallazzo-Strozzi-Ideals, von der wir auch in Deutschland Beispiele genug haben. Hier setzte nun die neue Architekturbewegung ein, deren Vater der Architekt Norman Shaw ist, und die man gemeinhin mit dem Namen Queen-Anne-Richtung bezeichnet. Was diese Richtung wollte und was man damals that, hatte mit der Königin Anna sehr wenig zu thun. Es war nichts anderes, als eine Beseitigung des architektonischen Formalismus zu Gunsten einer einfach-natürlichen, vernünftigen Bauweise. Eine solche brauchte man gar nicht neu zu erfinden, sie war vorhanden und Jahrhunderte lang geübt worden in der heimischen kleinbürgerlichen und ländlichen Architektur, in jenen Regionen der Bauausübung, in die der italienisch gebildete Architekt nicht hinabgereicht hatte, die in früheren Jahrhunderten, den örtlichen Traditionen folgend, der Landmaurermeister ausgeübt hatte. Hier fand man alles, was man wünschte, und wonach man inmitten des Architekturaufwandes, den
die Architekten veranstalteten, so sehr lechzte: Anpassung an die Bedürfnisse und die örtlichen Verhältnisse, Schlichtheit und Biederkeit der Empfindung, äußerste Traulichkeit und Behaglichkeit der Raumbildung, Farbe, eine ungemein anziehende und malerische, dabei aber vernünftige Gesamtgestaltung, Sparsamkeit der Bauausführung. Die auf diesem Boden entwickelte neuenglische Hausbaukunst hat es heute zu kostbaren Leistungen gebracht. Aber sie hat noch mehr getan: sie hat das Interesse und das Verständnis für Hausarchitektur im ganzen Volke verbreitet, sie hat den einzig sichern Untergrund für eine neue künstlerische Kultur überhaupt geschaffen: das künstlerische Haus. Sie hat es unter anderem auch mit sich gebracht, dass die neue kunstgewerbliche Richtung in England ganz genau weiß, für wen sie arbeitet: für das englische Haus, während unsere kontinentale neue Bewegung sich solange in Zeitschriften und auf Ausstellungen herumziehen lassen muss, bis wir Deutsche erst ein künstlerisches Haus haben werden.

Es liegt kein Grund vor, weshalb wir nicht dasselbe in unserm Sinne thun sollten, was man damals in England tat: in unserer bürgerlichen Baukunst zur Einfachheit und Natürlichkeit zurückkehren, wie sie in unsern alten ländlichen Bauten eingehalten worden ist, auf jedes Architekturgeklingel an und in unserm Hause verzichten, Gemütlichkeit der Raumbildung, Farbe, natürlichen Aufbau, sinngemäße Gesamtgestaltung einführen, statt uns weiter in die Fesseln formalistischer und akademischer Architekturmacherei zu begeben. Der Weg, den man in England zu diesem Ziele beschritt, nämlich die Wiederaufnahme örtlich-bürgerlicher und ländlicher Baumotive, verspricht uns aber gerade in Deutschland die reichste Ernte, wo die ländliche Bauweise der Vergangenheit mit einer Poesie und einem Stimmungsreichtum umkleidet ist, wie kaum einer der altenglischen Bauten. Halten wir uns aber an das Bodenwüchsige, und folgt nur jeder von uns unbeeinflusst seinen persönlichen künstlerischen Neigungen, so haben wir bald nicht nur eine vernünftige, sondern auch eine nationale bürgerliche Baukunst. Die Nationalität in der Kunst braucht nicht künstlich gezüchtet zu werden. Man erziehe echte Menschen und wir haben eine echte Kunst, die bei aufrichtiger Gesinnung jedes Einzelnen gar nicht anders als national sein kann. Denn jeder echte Mensch ist ein Bestandteil einer echten Nationalität. Freilich gehört dazu ein Entkleiden von jenem mit der Jugend unserer neubürgerlichen Kultur zusammenhängenden Zuge, der jetzt noch nur allzu häufig bei uns angetroffen wird: dem Bestreben, möglichst viel zu scheinen, dem Nebenmenschen zu imponieren, durch prunkvollen Aufwand nach außen zu glänzen. Gerade dieser Zug ist es, der das Architekturbild ganzer deutscher Städte, wie z. B. des im amerikanischen Tempo aufgeschossenen Berlin, heute so unangenehm macht. Gerade er hat auch das so oft angetroffene Verlangen deutscher Bauherren mit sich gebracht, aus ihrem bürgerlichen Heim den Palazzo eines italienischen Renaissancefürsten gemacht zu sehen. Ohne eine Abstreifung solcher falschen Sinnesweise können wir zu natürlich-gesunden Kunstzuständen nicht gelangen. Eine echte Kunst kann nur auf echter Empfindung beruhen. Und Kunst ist überhaupt nicht allein Sache des Könnens und der Betätigung ästhetischer Gefühle, sondern vor allem auch Sache des Charakters und der Gesinnung. Ganz besonders muss dies aber von der Architektur als der Kunst des täglichen Lebens behauptet werden, in der sich jedes Fallenlassen der sachlichen Ziele, jedes Unterschieben von hergeholten Gesichtspunkten aufs bitterste rächen muss, so bitter, wie wir es in der zur „Stilarchitektur“ gewordenen Baukunst des letzten Jahrhunderts gesehen haben.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Stilarchitektur und Baukunst