Mein Weg als Deutscher und Jude

Autor: Wassermann, Jakob 1873-1934, Erscheinungsjahr: 1921
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Juden, Judentum, jüdisches Leben, Nationalität, Deutschsein
Vorwort

Ohne Rücksicht auf die Gewöhnung meines Geistes, sich in Bildern und Figuren zu bewegen, will ich mir – gedrängt von innerer Not und Not der Zeit – Rechenschaft ablegen über den problematischesten Teil meines Lebens, den, der mein Judentum und meine Existenz als Jude betrifft, nicht als Jude schlechthin, sondern als deutscher Jude, zwei Begriffe, die auch dem Unbefangenen Ausblick auf Fülle von Missverständnissen, Tragik, Widersprüchen, Hader und Leiden eröffnen.
Inhaltsverzeichnis
  1. Kapitel 01 - Ich bin in Fürth geboren und aufgewachsen, einer vorwiegend protestantischen Fabrikstadt des mittleren Franken, ...
  2. Kapitel 02 - Die meinem Judentum geltenden Anfeindungen, die ich in der Kindheit und ersten Jugend erfuhr, gingen mir, wie mich dünkt, nicht ...
  3. Kapitel 03 - Der jüdische Gott war Schemen für mich, sowohl in seiner alttestamentarischen Gestalt, unversöhnlicher Zürner und Züchtiger, ...
  4. Kapitel 04 - Erstickend in ihrer Engigkeit und Öde die gartenlose Stadt, Stadt des Rußes, der tausend ...
  5. Kapitel 05 - Schwer und dunkel waren die Jahre des Werdens. Um von der Unbill und dem Gefühl ...
  6. Kapitel 06 - Es war mir auch damals gar nicht so sehr um Werk und Wirken zu tun, als ich mir in ephemerer ...
  7. Kapitel 07 - Um nicht zu verhungern, mußte ich Zuflucht bei meinem Vater suchen, der zu dieser Zeit in ...
  8. Kapitel 08 - Erlebnis will mit Freiheit behandelt sein, sonst bleibt es dem Zufälligen verhaftet oder ...
  9. Kapitel 09 - Es erwies sich, daß der Freund ebenfalls in bedrängter Lage war; mit seinem Stellungsgeber ...
  10. Kapitel 10 - Die Gespräche mit dem Freund, ein unaufhörliches Duell der Meinungen in den ...
  11. Kapitel 11 - Allmählich wurde ich dem Freund lästig. Ich wusste nichts mit mir anzufangen, ...
  12. Kapitel 12 - In sozialer Hinsicht mußte ich mich als Geächteter fühlen; ich war es auch, denn ...
  13. Kapitel 13 - Als ich im Alter von dreiundzwanzig Jahren die „Juden von Zirndorf“ schrieb, ...
  14. Kapitel 14 - Elf Jahre nach den „Juden von Zirndorf“ schrieb ich den „Caspar Hauser“. ...
  15. Kapitel 15 - Ich rekapituliere, denn es ist nun einmal wichtig, durch die klare Beweisführung ...
  16. Kapitel 16 - Solches Zeugnis geschah sechs Jahre nach dem „Caspar Hauser“ zum zweitenmal ...
  17. Kapitel 17 - Aber ich will von einem Gespräch zwischen mir und dem Freund berichten. ...
  18. Kapitel 18 - Ich war schon um die Mitte des Jahres 1898 von München weggezogen und hatte ...
  19. Kapitel 19 - Ein Umstand machte mich bereits nach kurzem Aufenthalt in Wien stutzig. ...
  20. Kapitel 20 - Wenn mir die Frage gestellt würde: bei welchen Männern und Frauen hast du ...
  21. Kapitel 21 - Ich fürchte aber bisweilen, daß die Blüte dieser Entwicklung vorüber ist. ...
  22. Kapitel 22 - Es gibt Begegnungen, die zunächst unscheinbar und singulär sind, die aber ...
  23. Kapitel 23 - Diese Umstände, in Verflechtung mit den früher berührten, haben die Feuersbrunst ...
  24. Kapitel 24 - Bei der Erkenntnis der Aussichtslosigkeit der Bemühung wird die Bitterkeit ...
  25. Kapitel 25 - Übrigens enthält dieses „die Deutschen“ in seiner Wiederholung und Fixierung ...
  26. Kapitel 26 - Was sollen aber die Juden tun? Diese Frage ist schwieriger zu beantworten. ...
Heikel war das Thema stets, ob es nun mit Scham, mit Freiheit oder Herausforderung behandelt wurde, schönfärbend von der einen, gehässig von der anderen Seite. Heute ist es ein Brandherd.

Es verlangt mich, Anschauung zu geben. Da darf denn nichts mehr gelten, was mir schon einmal als bewiesen gegolten hat. Auf Beweis und Verteidigung verzichte ich somit überhaupt, auf Anklage und jede Art konstruktiver Beredsamkeit. Ich stütze mich auf das Erlebnis.

Unabweisbar trieb es mich, Klarheit zu gewinnen über das Wesen jener Disharmonie, die durch mein ganzes Tun und Sein zieht und mir mit den Jahren immer schmerzlicher fühlbar und bewusst worden ist. Der unreife Mensch ist gewissen Verwirrungen viel weniger ausgesetzt als der reife. Dieser, sofern er an eine Sache hingegeben ist oder an eine Idee, was im Grunde dasselbe besagt, entringt sich nach und nach der Besessenheit, in der das Ich den Zauber des Unbedingten hat, und Welt und Menschheit kraft einer angenehmen und halbfreiwilligen Täuschung dem gebundenen Willen in den Transformationen der Leidenschaften zu dienen scheinen. In dem Maße, in dem die eigene Person aufhört, Wunder und Zweck zu sein, bis sie zuletzt ein kaum gespürtes Zwischenelement wird, gleichsam Schatten eines Körpers, den man nicht kennt, noch erkennen kann, in dem Maße wächst die Schwierigkeit und Gefährlichkeit des Lebens mit und unter den Menschen, sowie der geheimnisvolle Charakter alles dessen, was man Realität und Erfahrung nennt.

Weg- und Merkzeichen bleiben letzten Endes wenige, auch bei der genialsten Rezeption. Es hängt von der Breite des Schicksals ab, wie viel unvergess- und unverwischbare Spuren es in der Seele hinterlässt.