Kapitel 16 - Solches Zeugnis geschah sechs Jahre nach dem „Caspar Hauser“ zum zweitenmal ...

Kapitel 16 - Solches Zeugnis geschah sechs Jahre nach dem „Caspar Hauser“ zum zweitenmal im „Gänsemännchen“. Ich übergehe dabei wieder die mittleren, die Versuchs- und Erprobungswerke; etwa den „Goldenen Spiegel“ und den „Mann von vierzig Jahren“. Ich dachte in jener Zeit an eine zyklische Folge, Darstellung deutscher Welt am Anfang des Jahrhunderts. Das „Gänsemännchen“, 1911, 1912 und 1913 entstanden, wurde erst im zweiten Jahr des Krieges veröffentlicht, und es fügte sich, daß das Buch, wie keines meiner Bücher zuvor, sogleich ein herzliches und weittragendes Echo fand. Ich hatte damals oft den Eindruck, daß die Übergewalt der Ereignisse ihm eine Art von Anonymität verlieh, durch die es reiner in sich selbst ruhte, stärker aus sich selbst wirkte; ein neues, wohltuendes Gefühl für mich.

Es enthält und gibt ein charakteristisches Stück bürgerlicher deutscher Geschichte, deutscher Zustände um 1900, doch nicht in der Schilderung, sondern in der Zusammenfassung, wobei das Entscheidende in die Gestalt und ihre seelische Wandlung verlegt wird. Das Musikerschicksal ist nur Behelf und Vorwand; es war nötig, für alle Klänge und Widerklänge ein intensiv empfangendes Membran zu gewinnen, das zitterndste, zarteste, genaueste Instrument, an dem abzulesen war, wie es um den deutschen Alltag stand, wie die Wirklichkeit sich zur Idee, das Allgemeine zum Besonderen verhielt. Das Buch ist in dem Sinn, wie ich es oben entwickelt habe, provinziell. Es war vielleicht nicht so geträumt; aber um die Mauer niederzureißen, die mich gefangen hielt, hätte ich mich zuerst an ihr verbluten müssen, und während der Arbeit zeigte sich das Sonderbare, daß ich eine verhältnismäßige Breite nur erringen konnte, wenn ich nicht töricht wider die Mauer anrannte, sondern, im Gegenteil, mich mit dem mir verstatteten Raum beschied und wie ein guter Architekt aus der Beschränkung ein Mittel zur Entfaltung machte.


Freilich lief damit viel Schnörkelhaftes unter, viel Skurrilität, Enges, Grelles, Kunterbuntes, aber auch dies gehörte zum Weg, und der Weg wies mich ins Urbane, in den Bezirk, wo das Geschaffene unmittelbar zum Menschen spricht, ihn anrührt, ihm dient, ihm befiehlt, sowohl durch das, was an ihm offenbar wie durch das, was Geheimnis ist und Geheimnis zu bleiben hat. Alles Gewachsene ist ja so, alles, was von der Natur ausgeht, offenbar und geheimnisvoll zugleich. Ob Daniel Nothafft als eine deutsche Gestalt gelten kann, ist viel erörtert worden. Die Frage hat Interesse nur im Hinblick auf mein persönliches Problem. Manche haben sie bejaht, manche zweifelnd erwogen, manche verneint. Ich erlebte Kundgebungen des Erstaunens und wie Leute stutzig wurden in beharrlich verfochtener Meinung, weil sie zwischen dem Urheber und dem Produkt keine Verbindung mehr gewahrten. Am Gesetzhaften meiner Stellung zur Gesellschaft und zur deutschen Öffentlichkeit änderte sich so gut wie nichts. Für dieses Gesetzhafte gibt es ja nur ein untrügliches Regulativ, und das ist das eigene Innere, die wiederkehrende, vom Blut erzeugte, den Sternen gehorchende Welle des inneren Lebens.

Ich hatte inzwischen, während eines Aufenthaltes in Nürnberg, den Freund wiedergetroffen, den ich viele Jahre vorher unter so hässlichen Umständen in Zürich verlassen hatte. Er war nun ein Mann Mitte der Vierzig, ich Anfang der Vierzig; die Jugendstürme lagen weit hinter uns, und der lange Zeitverlauf machte, daß man kaum noch das Gefühl hatte, derselbe Mensch trete einem entgegen; die Erinnerung war etwas für sich Bestehendes, und die Gegenwart mußte mit ihr paktieren. Der Freund von ehemals beobachtete eine Zurückhaltung, die mich bisweilen wunderte, bisweilen still erheiterte, denn ich konnte die Ursache ungefähr ahnen. Der Mentor und Führer aus den Jahren der Entwicklung kann sich nicht zufrieden zeigen mit der Richtung, die man eingeschlagen, schon mit dem Tag, wo man sich seinem Einfluss entzogen hat. Was man auch tut, wie man sich auch hält, wohin man auch strebt und wo man anlangt, er hat es immer anders gedacht und gewollt. Ihm scheint alles Irrtum und Verrat, denn er war nicht dabei, er hat seinen Segen nicht dazu gegeben, und es erbittert ihn, daß er entbehrlich gewesen ist. Dass er selbst in entscheidender Stunde versagt hat, ist aus seinem Gedächtnis hinweggewischt, muss auch hinweggewischt sein; wer kann sich anderthalb Jahrzehnte lang einem andern als geistigen und seelischen Schuldner verdingen? Das würde ihn zugrunde richten. Er beharrt also lieber dabei, daß er einst für das Wohl und Wehe des Kameraden verantwortlich war, und daß mit dem Tag, wo seine Macht und seine Verantwortlichkeit zu wirken aufgehört haben, das Übel begonnen hat. Im Verborgenen bewahrt er wohl auch eine unbeglichene Dankbarkeitsrechnung, deren er sich schämt, die aber doch seinen Groll vermehrt. Kommt dann noch hinzu, daß sein eigenes Geschick den gehofften Aufstieg nicht genommen hat, daß er noch an alten Lasten schleppt, in alten Ketten seufzt, indes der Leidensgenosse von ehedem ein Ziel erreicht hat, wenn schon nach seiner Ansicht ein falsches und verwerfliches, so wird die Situation so peinlich, so hintergründig, wie sie eben zwischen uns war.

Ich hatte ähnliche Begegnungen öfter. Eine vom gröbsten Zuschnitt, wo die Dankbarkeitsrechnung brutal hingehalten wurde, will ich in Einschaltung erzählen: Eines Tages traf ich in Fürth einen früheren Schulkameraden, in dessen elterlichen Haus ich als Fünfzehn- und Sechzehnjähriger verkehrt hatte. Man hatte mich freundlich aufgenommen, obschon, da die Leute vermögend waren und ich demnach von geringerem Stande, mit einer Herablassung, die ich damals gerechtfertigt fand. Der junge Mensch, der über reichliches Taschengeld verfügte, hatte mir dann in den Nürnberger Notjahren hier und da mit einem Goldstück ausgeholfen; er wusste um meine literarischen Bemühungen, gab sich mir gegenüber als Gönner, und um ihn bei guter Laune zu erhalten, las ich ihm bisweilen meine Versuche vor. Er war mit meinem Garrick befreundet, und dieser hatte ihm, als er die Stadt verließ, um nach England zu gehen, ganze Berge von meinen Manuskripten und Briefen zur Aufbewahrung übergeben. Als ich ihn nun, mehr denn zwanzig Jahre danach, auf der Straße sah und wiedererkannte, hielt ich ihn an, begrüßte ihn arglos und fragte, ob er sich der Handschriften erinnere, und ob sie noch in seinem Besitz seien, es lockte mich, sie einmal durchzusehen. Ich habe selten einen derartigen Ausdruck von Hass, philisterhafter Bosheit und beleidigtem Dünkel in einem Gesicht vereinigt gesehen. Er antwortete: Wie, du wagst es, eine Sache zurückzufordern, auf die ich nach allem, was ich für dich getan habe, ein Eigentumsrecht geltend machen kann? Du wagst es, einen Menschen wegen dieser Makulatur zu behelligen, der dich mit Wohltaten überschüttet hat, und um den du dich zweiundzwanzig Jahre lang nicht gekümmert hast? Solche Undankbarkeit schreit zum Himmel. Damit drehte er mir den Rücken. Es ist keine Übertreibung, er gebrauchte genau diese Worte und sprach von Wohltaten und Undankbarkeit.

Zwischen mir und dem Freund war noch etwas anderes in der Schwebe als die erkaltete Beziehung aus vergangener Zeit, der keiner von uns mehr Wärme und Odem einhauchen konnte, obwohl wir Mühe aufwanden, uns einander glauben zu machen, es sei noch alles wie vordem. Ich arbeitete damals im städtischen Archiv; an den Nachmittagen verabredeten wir uns zu Ausflügen in die Umgegend. Das Wunderliche war, daß der Freund mit keiner Silbe eines meiner Bücher erwähnte, als hätte er nie eins gelesen, als hätte er nie davon gehört. Ich hätte ihn aber schlecht gekannt, seine Wachsamkeit, sein rege spähendes, immer argwöhnisches, immer eiferndes Interesse für alles, was in der geistigen Sphäre vorging, wenn ich nicht gewusst, mit Sicherheit hätte annehmen dürfen, daß er jede Zeile von mir, deren er habhaft werden konnte, mit Begier verschlungen hatte; nicht mit Liebe, da ich ihm ja als ein aus der Zucht, seiner Zucht Entlaufener und deshalb Mißratener erscheinen mußte, aber doch mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit, eben um die Tiefe meines Sturzes sich immer von neuem zu beweisen. Es stand ihm an der Stirn geschrieben.

Trotzdem befremdete mich dieses Schweigen sehr, und in meinem bedrückten, bedauernden Nachdenken fand ich eine Ursache, die mich freilich in seinen Augen wesentlicher hatte schuldig machen müssen als durch die Trennung der Wege und die Loslösung von gemeinsamen Zielen. Es war der Umstand, daß es in zweien meiner Romane eine Figur gab, die durch eine gewisse Konstellation von Charakterzügen und Gewohnheiten auf ihn als Modell wies. Ich leugne nicht, daß er mir bei der Zeichnung der betreffenden Person zum Vorbild gedient hatte, und daß die Verähnlichung, die aber durchaus keine Vernämlichung bedeutete, nicht gerade schmeichelhaft für den Lebendigen ausgefallen war. Ich hatte keinerlei Vertrauensbruch begangen; weder Verrat noch Bezichtigung konnte ich mir vorwerfen; es war nichts zu verraten, es war nichts zu bezichtigen; um so weniger konnte von schlimmer Absicht die Rede sein, als in die Gestalt auch viel von eigenen Leiden, Verwirrungen und Dunkelheiten übertragen war und in jenen Jahren wirklichkeitssüchtigen, wirklichkeitsbangen Schaffens dieser Mann, dieser Freund, dieser Feind, wenn man will, wie ein Bruder - Ich vor mir gestanden war. Feind und Bruder, wie nah ist das oft. Ich hatte in der Figur etwas Neuartiges darzustellen versucht, das mich bis zur Angst beunruhigt hatte: den Juden-Christen, den Deutschen von zweifelloser Reinheit der Abstammung, der aber vermöge einer merkwürdigen Chemie des Schicksals oder der Elemente unverkennbare jüdische Eigenschaften besitzt, jüdische Glut, jüdische Verschlagenheit, jüdische Labilität, jüdische Augenblickhaftigkeit.
Da ist etwas vorausempfunden und -geformt, eine Verwandtschaft des äußeren Loses und inneren Seins zwischen Deutschtum und Judentum, das seitdem sogar an die Oberfläche öffentlicher Diskussion gedrungen ist, und worauf ich auch werde zurückkommen müssen.

Es ist ein heikles Ding, wie der Schriftsteller sich verhalten soll, wenn er vor die Notwendigkeit gestellt ist, Personen seines Umgangs, ja solche, die nur harmlos seine Nähe gesucht haben, in seine dichterische Welt zu transponieren. In der Jugend ist man darin ziemlich unbedenklich; ich zum mindesten war es; man nimmt es auf sich; brechen alte Bande, knüpfen sich neue; man ist stolz darauf, vor nichts zurückzuschrecken, auch vor heillosen Übergriffen nicht; alles soll die Kunst wieder gut machen, auch wo man menschlich sich vergangen hat, als ob das möglich wäre. Ich hatte einmal, in den Zigeunerjahren, einen Ehrenhandel mit einem Schauspieler, einem ganz famosen Mann, den ich in einer leichtsinnig hingeschriebenen Geschichte als komischen Hahnrei geschildert und dem Gelächter einer literarischen Kaffeehausgesellschaft preisgegeben hatte. Es war unnützes Zeug, kaum zu entschuldigen als Handwerksübung. Ich erinnere mich, daß ich eines Tages einen äußerst verzweifelten Brief von Gustaf af Geijerstam aus Schweden erhielt, worin er mir mitteilte, daß er ruiniert und verloren sei, da ihn Strindberg in den „Schwarzen Fahnen“, für alle Leser kenntlich, als den Auswurf und die Pest seines Landes gezeichnet habe. Er fürchtete, daß die Kenntnis davon auch nach Deutschland gelangt sei und bat mich, für ihn einzutreten. Das war nun aus mancherlei Gründen untunlich; wie durfte ich mich in die schwedischen Händel mischen. Übrigens starb Geijerstam kurze Zeit hernach; seine Freunde behaupteten, aus Scham und Kummer.

So weit geht es ja selten. Aber wo ist die Grenze? Wir wissen, auch Kestner konnte nicht darüber hinwegkommen, daß Goethe im Werther die befreundete Familie bloßgestellt hatte. Es wird erzählt, daß die Moskauer und Petersburger hohen Kreise, als Anna Karenina erschienen war, sich weniger mit den Vorzügen des Werkes als damit beschäftigten, die Urbilder der handelnden Figuren mit neugieriger Schadenfreude ausfindig und namhaft zu machen. Was ist erlaubt, was steht frei? Was ist verboten, was verbietet sich von selbst? Hätte der größere Künstler die größere Befugnis? Sonderrechte der Rücksichtslosigkeit und Ausschlachtung? Doch wohl kaum, da es auch in dem Bezug keinen Richtspruch von zulänglicher Kompetenz gäbe. Ich kann auf die Wirklichkeit und ihre Nahrungszufuhr nicht verzichten, wenn ich nicht mit meinen Geschöpfen ins Bodenlose geraten will. Die Farbe der Natur nicht zu überschminken, ihre Wahrheit nicht willkürlich umzubiegen, erfordert mehr Kraft und Mut als eine romantisierende, falschidealistische Erhöhung und Verallgemeinerung. Der Mangel an realer Bindung ist Schuld an der verwässerten Tragik, grundlosen Überhitzung und schematischen Zuspitzung, die die mittlere deutsche Erzählung so schwer genießbar machen. Andrerseits geht es nicht an, Schicksale und Menschen nur um des Interessanten oder Ausnahmshaften, das ihnen eigen ist, an den Pranger zu stellen; was unbedingt des andern Eigentum ist, und was er zu bewahren wünscht, darf ich ihm nicht rauben und entreißen; verkleide ichs, veredle ichs auch, für ihn verzerrt es sich, und er muß sich verarmt dünken. Dennoch gibt es Fälle, wo die äußere Verpflichtung einer gebieterischen inneren zu weichen hat; dann aber kann es sich nicht mehr um das bloß Interessante und Ausnahmshafte handeln, sondern um das Gültige und Tragende, um Vision, um Wandlung, um Erneuerung. Dann wird auch der Vorwurf des Verrats und Raubes hinfällig; bleibt missverständlicherweise ein Odium davon, so verweht es die Zeit; Menschengeschehen ist flüchtig, und Menschen sind vergänglich; sein Gesetz erhält das Schicksal erst durch den Dichter. Aber was die Abschreiber und Klitterer der Wirklichkeit aus ihr machen, ist noch viel vergänglicher als Mensch und Geschehen. Diese zufällige grobe Wirklichkeit; mit ihr ist in der Regel wenig anzufangen, wenig zu leisten; sie ist ein ungeheurer Materialspeicher, und ist kein Auge da, das das Verworrene entwirrt, im Vielfältigen das Einfache wahrnimmt, in den Schlacken das Edelmetall, unter Fratzen das Gesicht, im Stückwerk die Andeutung des Ganzen, im Abgeirrten das Gesetz, was ist sie dann nütze? Der Augenschein gehört mir, unter allen Umständen; wer dürfte ihn mir bestreiten? Wozu ich ihn umschaffe, ist Sache der Gnade.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mein Weg als Deutscher und Jude