Kapitel 10 - Die Gespräche mit dem Freund, ein unaufhörliches Duell der Meinungen in den ...

Kapitel 10 - Die Gespräche mit dem Freund, ein unaufhörliches Duell der Meinungen in den Formen des gegenseitigen liebevollen Interesses, hatten weitreichende Bedeutung für mich und stellten meine Gedanken- und Empfindungswelt auf eine viel breitere Basis. Es kam mir bisweilen vor, als ob ich mit der ganzen Menschheit Frieden schlösse, wenn ich mit ihm Frieden schloss, doch es war schwer, die Bedingungen eines derartigen Friedens festzusetzen, ja sie nur unmissverständlich zu umschreiben.

Die Entscheidung, vor die mich der Freund, weniger in Worten als durch seine Haltung stellte, war: bist du Jude oder bist du Deutscher? Willst du Jude oder willst du Deutscher sein? Und mir war es damals gerade um diese Entscheidung zu tun; ich fand es zwingend, mich nach der einen oder andern Richtung zu entscheiden, obwohl ich den Weg nicht sah, den ich dann nach der einen oder der andern Richtung gehen sollte. Was wurde für mich besser oder schlechter nach der Entscheidung? Und war das Wort allein, der Beschluss allein, die Richtungsänderung allein maßgebend? Ich suchte nach Vorbild und Beispiel, nach Ermunterung und Bestätigung bei denen, die mir vorangegangen waren, nach der einen oder andern Richtung, aber das Suchen war ergebnislos.


In meiner Jugend war Heinrich Heine in den geistig interessierten Kreisen Deutschlands noch ein mächtiger Name. War von jüdischer Leistung, jüdischem Vollbringen, jüdischem Ruhm die Rede, so wurde auf Heine hingewiesen. Durchaus nicht bloß Juden waren für Heine Feuer und Flamme; die Wirkungen und der Einfluss dieses Poeten gingen in die breitesten Schichten, über das Künstlerische und Poetische hinaus ins Politische und Soziale. Und wie man weiß, gehört er zu den wenigen Deutschen, die in Frankreich Ansehen und Bewunderung genossen haben. Aufgeklärte und gebildete Menschen lasen Heine, zitierten ihn, beriefen sich auf ihn, und der Bogen der Verehrung spannte sich etwa von meinem kleinen studentischen Freund in München, der Dutzende von Heineschen Gedichten auswendig kannte und in witzigen Heineschen Wendungen schwelgte, bis zur Kaiserin von Österreich, die diesem ihren Abgott einen Tempel bauen ließ. Es war mir unbegreiflich. Heute sehe ich darin den charakteristischen Ausdruck einer ganz bestimmten Zivilisationsverfassung, einer solchen nämlich, in der das Talent über das Menschentum prävaliert. In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wurde sozusagen der Altar des Talents errichtet, so wie in der zweiten Hälfte des achtzehnten der des Genies; der Begriff des Genies umfasste aber damals auch die Menschlichkeit, in allen ihren Äußerungen, selbst den unerfreulichen, während der Talentkultus, unter dessen merkwürdigen und nicht leicht zu analysierenden Wirkungen unsere Welt noch heute steht, der isolierten geistigen Leistung gilt. Heinrich Heine ist geradezu das Schulbeispiel dafür.

Ich befand mich von Anfang an im Verhältnis des Widerstrebens, ja der heftigen Abneigung gegen Heine. Seine Lyrik erschien mir, gemessen an der von Goethe, Hölderlin oder Mörike, süßlich, spielerisch und roh sentimental; seine Prosa erregte meinen Hass durch ihr Bestreben nach geistreicher Pointe, durch ihre Mischung von Frivolität und rohester Melancholie; seine kritischen, polemischen, politischen Schriften fand ich zum Teil seicht und von oberflächlicher Brillanz, zum Teil unwahrhaftig und eitel. Für das Satirische, das ihre stärkste Qualität ausmacht, hatte ich wenig Verständnis, und die sogenannten letzten Gedichte, in denen aufrichtige und ergreifende Töne sind, waren mir verdächtig durch ein gewisses Sichgefallen im Schmerz.

Zweifellos waren sowohl mein Urteil als auch mein Gefühl ungerecht. Die Ungerechtigkeit, der ich in mir freien Lauf ließ, hatte wohl ihren Grund darin, daß etwas unantastbar, nachahmungswürdig und mustergültig sein sollte, was ich für schädlich und zerstörend hielt. Es sind in neuerer Zeit so viele Ankläger und Verächter Heines aufgetreten, mit guten und schlechten Argumenten, meist aber mit schlechten, mit reinen und unreinen Waffen, meist aber mit unreinen, daß ich nur mit Überwindung und weil dieses Stück Wahrheit eben zur ganzen Wahrheit gehört, mich entschlossen habe, das Thema zu behandeln. Dass die blinden Hasser und die böswilligen Agitatoren unrecht haben, beweist nicht, daß Unrecht überhaupt geschieht. Verschweigen und Schönfärben macht eine schwache Sache nicht stark. Was mir an Heine wider das Blut ging, war vielleicht das Blut. Seine zeitbedingte Erscheinung war im zeitbedingten Sinn jüdisch, und das Auffallendste an ihr ist das schroffe Nebeneinander von Ghettogeist und Weltgeist, von jüdischem Kleinbürgertum und Europäismus, von dichterischer Imagination und jüdisch-talmudischer Vorliebe für das Wortspiel, das Wortkleid, das Wortphantom, welch letztere Mischung man fälschlich als romantische Ironie bezeichnet hat, während sie ein Ergebnis fabelhafter jüdischer Anpassung und dabei tiefer innerer Lebens- und Weltunsicherheit ist. Aus dieser Quelle fließt dann auch die journalistische Befähigung, wie denn Heine der eigentliche Schöpfer, wenn auch nicht des Journalismus, so doch seiner Abart, des Feuilletonismus, genannt werden kann, dieses unglücklichen Surrogats von Kritik, Betrachtung, Urteil und stilistischer Form, Narkotikum für eine niedergehende Gesellschaft und Mittel, Verantwortungen zu verschleiern.

Heine war sicher in voller Naivität Jude; er war auch in voller Naivität Deutscher. Er beklagte sein jüdisches Schicksal und sein jüdisches Leid und verriet den Juden in sich. Er gab sich als deutscher Patriot, deutscher Emigrant, als Deutscher von Geblüt und Wahl und verriet den Deutschen in sich. Auch dies, wie ich überzeugt bin, in voller Naivität. Er war der Talentmensch, katexochen, ohne göttliche Bindung, ohne wahre Zusammenhänge, unheilvoll isoliert, durchaus auf sich selbst gestellt, auf sein einsames Ich, ohne Mythos, ohne Mütter, ohne Himmel und deshalb auch ohne Erde. Wenn man mir ihn pries, fühlte ich mich stets verraten; wodurch, kann ich kaum erklären, aber mir schien, daß ich am andern Pol stand und daß ich ihn, sein Tun, sein Bild, seinen Einfluss erst besiegen mußte, ehe mein Tun, mein Bild, mein Einfluss beginnen konnte. Allen Juden schmeichelte der Name Heinrich Heine; mir schien es hingegen, daß sie ihn hätten fürchten sollen, da er sie vom geraden und fruchtbaren Weg verführerisch ablenkte und auf Jahrzehnte eine entstellte Figur des jüdischen Menschen und des jüdischen Deutschen gab. Es wurde mir gesagt: Warum hältst du dich an Heine, warum blickst du nicht auf die, die deinen Widerstand weniger oder gar nicht herausfordern? Da ist Felix Mendelssohn, da ist Börne, da ist die wunderbare Rahel, da ist Disraeli, da ist Lassalle und Marx, da ist schließlich Spinoza, Menschen von großem Zuschnitt, der letzte vom allergrößten, nicht Jude mehr, herausgetreten aus dem engen Rahmen der Konfession und Sekte, Mensch an sich, Leuchte der Zeiten! Ich lernte auch auf sie hinblicken. Lockung und Gefahr war auch in ihnen, aber sie ordneten sich williger in die Folge der Gesichte und Erlebnisse. Heine schloss zunächst zuviel des Gegenwärtigen ein und aus; er war die Wunde, die ich vor kurzem erlitten hatte.

Ich heilte sie durch Geister von entgegengesetzter Prägung. Es würde zu sehr ins Breite führen, wenn ich sie hier aufzählte und von Cervantes bis Turgeniew und Dostojewski, von Dickens, Thackeray, Richardson und Balzac bis Keller, Gotthelf, Arnim und Kleist ihre Wirkungen schildern wollte; den leidenschaftlichen Anteil, die Begierde nach Leben und Lebendigkeit, Kunst und ihrer Form, das Anklammern an die gewaltigen Herzen, die Anbetung und glühende Hingabe. Ich suchte in ihnen und bei ihnen die Welt, die Zeit, die Menschheit, die Gestalt, das feurige, flüssige Unaussprechliche, das wie ein geistiger Golfstrom die Gestade der Seele umschlingt. Nebenbei beschäftigte ich mich viel mit geschichtlichen Studien, indem ich vom Allgemeinen immer mehr ins Einzelne ging, teils aus Neigung für das persönlich Schicksalhafte, teils aus Hunger nach Stoff und Lebensmaterial, und außerdem mit Astronomie, ganz dilettantisch, ja phantastisch, aus Sucht nach hohen Erschütterungen sowohl wie aus Überdruss an der verzweifelten Enge und Ausblicklosigkeit meiner Umstände.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mein Weg als Deutscher und Jude