Kapitel 23 - Diese Umstände, in Verflechtung mit den früher berührten, haben die Feuersbrunst ...

Kapitel 23 - Diese Umstände, in Verflechtung mit den früher berührten, haben die Feuersbrunst des Hasses hervorgerufen und geschürt, deren Schauplatz zur gegenwärtigen Stunde Deutschland ist.

Nicht überraschend für den, der auf den Kompass zu blicken gewohnt war und bisweilen die Leute am Steuer von Angesicht zu Angesicht sah. Nicht überraschend für mich.


Wer eine Geschichte des Antisemitismus schriebe, würde zugleich ein wichtiges Stück deutscher Kulturgeschichte geben.

Es wäre interessant, den lockenden Köder zu untersuchen, der hier und da aus ministeriellen Kabinetten und junkerlichen Meinungsbrauereien auf die Straße flog, und auf den der hungrige Michel wahllos und gierig anbiss.

Es wäre interessant, die vielfältigen und in ihren Folgen verhängnisvollen antisemitischen Machenschaften aufzudecken, mit denen in den siebziger und achtziger Jahren die eingeschworenen Wagnerianer in einem seltsamen Zustand von Bezauberung und geheimnisvoller Unruhe die deutsche Welt über das Missverhältnis zwischen Wagner, dem expressiven Deutschen, und Wagner, dem Musiker, hinwegzutäuschen wussten; denn dort war die Zentralhexenküche.

Es ist nicht meines Amtes.

Leider steht es so, daß der Jude heute vogelfrei ist. Wenn auch nicht im juristischen Sinn, so doch im Gefühl des Volkes.

Leider steht es so, daß man den beauftragten wie den freiwilligen Hetzern einen Grund nicht absprechen kann. Bei allem Bildersturm, allem Paroxysmus oder sozialen Forderung waren Juden, sind Juden in der vordersten Linie. Wo das Unbedingte verlangt, wo reiner Tisch gemacht wurde, wo der staatliche Erneuerungsgedanke mit frenetischem Ernst in Tat umgesetzt werden sollte, waren Juden, sind Juden die Führer.

Juden sind die Jakobiner der Epoche.

Wäre irgend Billigkeit zu erwarten, so müsste freilich zugestanden werden, daß diese Juden fast ohne Ausnahme von ehrlicher Überzeugung beseelt waren, Idealisten, Utopisten, Heilbringer, als welche sie sich in der Welt empfanden; so müsste zugestanden werden, daß in ihrem Tun eine vielleicht unsinnige und schuldvolle, vielleicht aber auch weit in die Zukunft deutende Folgerichtigkeit liegt: die Überpflanzung der vom Judentum empfangenen Messiasidee aus dem Religiösen ins Soziale. So müsste ferner zugestanden werden, daß bei genauer Prüfung, wer aus der Verwirrung Vorteil gezogen, wer sein Schäfchen dabei ins Trockne gebracht, wer in die Flamme geblasen, solange es unbemerkt und ungefährdet geschehen konnte und sich zu bergen wusste, als die gute alte Polizei sich ins Mittel legte, keinesfalls sie die Belasteten wären. Zugestanden müsste werden, daß sie die Kastanien aus dem Feuer geholt haben, und, da die Kastanien verbrannt sind, wie es den Anschein hat, man ihnen dafür die Hände abzuhacken beschließt.

Zugestanden müsste auch werden, daß Juden ebenso die Bewahrer und Hüter der Tradition sind, Kundige und Diener des Gesetzes.

Aber Billigkeit ist nicht zu erwarten. Auf Billigkeit ist es auch nicht abgesehen. Auf den Hass ist es abgesehen, und der Hass lodert weiter. Er macht keinen Unterschied der Person und der Leistung, er fragt nicht nach Sinn und Ziel. Er ist sich selber Sinn und Ziel.

Es ist der deutsche Hass.

Ein vornehmer Däne sagte zu mir: Was wollen eigentlich die Deutschen mit ihrem Judenhass? In meinem Vaterland liebt man die Juden fast allgemein. Man weiß von ihnen, daß sie die verlässlichsten Patrioten sind; man weiß, daß sie ein ehrenhaftes Privatleben führen; man achtet sie als eine Art Aristokratie. Was wollen die Deutschen?

Ich hätte ihm antworten müssen: den Hass.

Ich hätte ihm antworten müssen: sie wollen einen Sündenbock. Immer, wenn es ihnen schlecht ergangen, nach jeder Niederlage, in jeder Klemme, in jeder heiklen Situation machen sie die Juden für ihre Verlegenheit verantwortlich. So ist es seit Jahrhunderten. Drohende Erbitterung der Massen wurde stets in diesen bequemen Kanal geleitet, und schon die Kurfürsten und Erzbischöfe am Rhein hatten, wenn ihre Waffengänge misslungen und ihre Schatzkammern geleert waren, eine sicher funktionierende Regie in der Veranstaltung von Judenmetzeleien.

Ich antwortete aber: Ein Nichtdeutscher kann sich unmöglich eine Vorstellung davon machen, in welcher herzbeengenden Lage ein deutscher Jude ist. Deutscher Jude; nehmen Sie die beiden Worte mit vollem Nachdruck. Nehmen Sie sie als die letzte Entfaltung eines langwierigen Entwicklungsganges. Mit seiner Doppelliebe und seinem Kampf nach zwei Fronten ist er hart an den Schlund der Verzweiflung gedrängt. Der Deutsche und der Jude: ich habe einmal ein Gleichnis geträumt, ich weiß aber nicht, ob es verständlich ist. Ich legte die Tafeln zweier Spiegel widereinander, und es war mir zumute, als müßten die in beiden Spiegeln enthaltenen und bewahrten Menschenbilder einander zerfleischen.

Der Däne erwiderte einfach: Ich glaube, die Deutschen haben zu wenig Liberalität, wenigstens seit der Gründung des Reiches.

Es ist wahrscheinlich so, aber es ist auch das Geringste, was man darüber sagen kann. Es fehlt auch an Phantasie, an Freiheit und an Güte. Ein wesentlicher Defekt muss da sein, wenn ein Volk so leichterdings, so gewohnheitsmäßig, so skrupellos, keine Berufung hörend, keiner redlichen Auseinandersetzung zugänglich, keiner großmütigen Regung in diesem Punkt fähig, ein Volk, das unablässig von sich selbst verkündet, in Bildung, Kunst, Forschung und Idealismus an der Tete der Völker zu marschieren, dauernd solche Unbill übt, solchen Hader sät, solch berghohen Hass häuft.

Ich versuche, mein Gleichnis von den Spiegeln zu deuten.

Dass eine Schicksals- und Charakterähnlichkeit vorhanden ist, leuchtet ein. Hier wie dort jahrhundertelange Zerstückelung und Mittelpunktslosigkeit. Fremdgewalt und messianische Hoffnung auf Sieg über alle Feinde und auf Einigung. Es wurde zu dem Behuf sogar ein deutscher Spezialgott erfunden, der, wie der jüdische Gott in den Gebeten, in allen patriotischen Hymnen figurierte. Hier wie dort Misskennung von außen, Übelwollen, Eifersucht und Argwohn, heterogene Formungen innerhalb der Nation hier wie dort, Zwietracht der Stämme. Unvereinbare Gegensätze individueller Wesenszüge: praktische Regsamkeit und Träumerei; Gabe der Spekulation im niedern und im hohen Sinn; Spartrieb, Sammeltrieb, Handelstrieb, Bildungstrieb und Trieb zu erkennen und dem Gedanken zu dienen. Überfülle der Formeln und Mangel an Form. Ein seelisches Leben ohne Bindungen, das unversehens zur Hybris führt, zu Hoffart und unbelehrbarem Starrsinn. Hier wie dort schließlich das Dogma der Auserwähltheit.

Die Berührungen haben Schürfungen erzeugt, die Schürfungen blutende, eiternde Wunden. Im schwächeren Körper unheilbare Wunden.

Was werfen die Deutschen den Juden vor? Sie sagen: ihr vergiftet unsere reine Atmosphäre. Ihr verführt unsere unschuldige Jugend zu euern Taktiken und Praktiken. Ihr tragt in unsere germanisch-strahlende Weltanschauung euer trübes Grübeln, eure Verneinung, eure Zweifel, eure asiatische Sinnlichkeit. Ihr wollt unsern Geist in Fesseln schlagen und das arische Prinzip von der Erde vertilgen.

Darauf habe ich mit allem Vorhergehenden geantwortet, und wer dann jene Anschuldigungen noch aufrechterhält, dem wäre auch nicht gedient, wenn ich mit Engelszungen redete.

Andere sagen: ihr verderbt uns das Geschäft. Diese sind aufrichtig. Die Deutschen mögen sich erinnern, wie sie beim Beginn des Krieges, knirschend über die Heuchelei, die Ausbrüche sittlicher Entrüstung, die die Engländer vorbrachten, über sich ergehen lassen mußten. Wenn ihnen aber irgendein Engländer zurief: ihr verderbt uns das Geschäft, so begriffen sie das, obgleich der Vorwurf, gegen ein ganzes Volk gerichtet, um einen Krieg zu sanktionieren, sinnlos und unmenschlich ist.

Ein junger Freund erzählte mir folgende Geschichte: Er war in Polen im Haus eines armen Juden einquartiert, der drei Söhne hatte, einen elf-, einen dreizehn-, einen fünfzehnjährigen. Einmal ließ er sich mit ihnen in ein Gespräch ein, und er fragte einen jeden, was er werden wolle. Der Elfjährige sagte voll Eifer: Ich will was Großes werden; ein Millionär. Der zweite antwortete ernst: Ich will ein Jude werden. Der dritte, der finster abseits stand und die Frage mehrmals geflissentlich überhörte, sagte endlich zu dem Bedränger: Erde will ich werden wie du.

Hier sind drei Kategorien jüdischer Menschheit in drei Repliken zusammengefasst. Das Sonderbare und Schmerzliche ist, daß die Deutschen stets und von jeher nur die eine, die erste sehen, nur von ihr reden, nur gegen sie ihre Wut richten, was auch sonst die Vorwände und Verschleierungen sein mögen.

Sie lieben es, auf das Christentum hinzuweisen, als ob das Christentum wäre und mit Christentum zu entschuldigen, was sie wider alle humane Gepflogenheit tun. Rassentheorien, philosophische Systeme sogar, den Nachweis schließlich, den ein Ekstatiker des Hasses geführt hat, daß Christus von nichtsemitischer Abkunft sei, das alles lasse ich mir gefallen, damit kann man Oberflächliche blenden und den Janhagel betören. Aber das Christentum scheint mir in keiner Weise dazu geeignet. Sind es doch gerade die edlen Juden heute, die Allerstillsten freilich da und dort im Lande, in denen die christliche Idee und christliche Art in kristallener Reinheit ausgeprägt ist, ein Verwandlungsphänomen freilich, das in die Zukunft deutet.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mein Weg als Deutscher und Jude