Kapitel 22 - Es gibt Begegnungen, die zunächst unscheinbar und singulär sind, die aber ...

Kapitel 22 - Es gibt Begegnungen, die zunächst unscheinbar und singulär sind, die aber in der Erinnerung wachsen, und von denen eine Magie der Deutung ausgeht.

Ich entsinne mich einer Nacht in einem Hamburger Kaffeehaus, vor acht oder neun Jahren. Ein junger russischer Jude nimmt an meinem Tische Platz, und nach kurzer Weile sind wir im Gespräch. Sein Vater ist im Gefängnis gestorben, seine Brüder sind in Sibirien, seine Schwester ist bei einem Pogrom ermordet worden. Er selbst ist arm, heimatlos und flüchtig. Gefällt es der Polizei, so kann er morgen verhaftet und ausgeliefert werden. In dieser Hinsicht waren damals die deutschen Behörden sehr dienstfertig gegen Russland.


Er hat eine ungemein kühle Art zu berichten. Sein Gesicht ist weiß, kaum bewegt, seine Stirn schmal und hoch, die Augen von stumpfer Schwärze mit sorgfältig verhaltenem Feuer. Ein mönchisches Gesicht. Er beherrscht die Rede, jeder Satz hat Schliff, er äußert auch das Beiläufige wie jemand, der zu seiner Sache, die zu verschweigen ihm obliegt, unerschütterlich entschlossen ist. Deshalb nimmt er auch jeden Widerspruch mit einem halb zerstreuten, halb verwunderten Lächeln auf. Es ist ein diplomatisches Verfahren, voller Vorsicht und voller Hintergrund, doch mit stetem, tiefem, beharrlichem Eingedenken. Alle Leidenschaft ist erstickt; an ihre Stelle ist ein eisiger, in seiner Eisigkeit versengender Fanatismus getreten. Und so, als Fanatiker, mit Bewusstsein, Unerbittlichkeit, Kälte und Glut bedient er sich der Doktrin, die ihn stützt und rechtfertigt. Ich erstaune über dreierlei: seinen Scharfsinn, sein Wissen, seine Heiterkeit. Obwohl er mir wurzellos erscheint, dermaßen aufgegeben, wie nur einer, der selbst Welt und Menschheit aufgibt, fühle ich doch mit jeder Sekunde gewisser: da ist der Explosivstoff, da ist der Mensch der Katastrophe.

Sein Erlebnis: ungeheuer, das individuelle wie das symbolische; seine Weise, es zu nehmen, zu sublimieren und es zum geistigen Motor zu machen: ungeheuer. Der Zeiten Schande wird entschleiert, wie es bei Shakespeare heißt, die Gerechtigkeit senkt ihr Haupt. Desungeachtet, warum verwandelt sich mir das strenge Männerantlitz zur medusischen Fratze? Ist es die furchtbare Anmaßung, daß sich der einzelne zum Richter ernennt über die gesamte Menschheit? Sicherlich etwas von dem. Es wäre nah gelegen, daß ich das uralte Aug um Aug, Zahn um Zahn aus seinem Wesen gehört hätte. Ich hätte es lieber gehört; es hätte auf Raserei schließen lassen, Stürme des Bluts. Hätte ich ihn resigniert gewünscht, human empfindsam, philosophisch wägend? Mit nichten.

Die schneidende Logik und das wissenschaftliche Fundament des Vernichtungswillens rissen die Kluft zwischen mir und ihm auf. Er war nicht nur gesonnen, die Vergeltung dem Schicksal zu entwinden, sondern er schleuderte der Gesellschaft die Absage auch im Namen derer zu, die noch unerweckt über ihrem Leid brüteten, ja im Namen derer sogar, die vom Leiden noch gar nicht getroffen waren. Damit warf er sich auch über diese zum Richter auf.

Es geht gegen die göttliche Idee, wenn der einzelne Mensch in dem Verhältnis zwischen Schuld und Sühne den Entscheidungsanspruch erhebt. Mit diesem Glauben stehe und falle ich. Mag er toben, mag er alles um sich her zerstören, mag er mit der Brandfackel in der Faust zum verfluchten Dämon werden; mit seiner Leidenschaft und durch sie unterwirft er sich doch der göttlichen Idee, so scheint es mir, denn er bleibt im Ring der Menschheit. Wenn er aber mit dem selbstverliehenen Rechtstitel auftritt und die mit den Gewichten von Jahrhunderten beladenen Wagschalen in ihrem unendlichen Schwanken zwischen Himmel und Hölle kraft seines als souverän verklärten Geistes aufhalten und korrigieren will, so ist er nur der Feind des Menschengeschlechts und der, den Gott verstoßen hat.

Will er das sein? Nimmt er es auf sich? Ich denke, er schreckt nicht davor zurück. Er hat alle Konsequenzen von vornherein gezogen. Dazu hat er ja seine Logik und sein Wissen.

Warum ist gerade aus dem altehrwürdigen, in heiligen Traditionen ruhenden Judentum der politische Radikalismus erwachsen? War der zermalmende Druck die Ursache? Ist die Spannung zwischen Sehnsucht und Erfüllung unerträglich geworden, so daß die Dämme brachen? War es die These nur, die die Antithese erzeugte? War der Kulturaufstieg gewisser Gruppen zu jäh und hat ihnen den Boden unter den Füßen entzogen? Ist es Herrschgier? Ist es Sklavenaufstand? Ist es Aposteltum und Märtyrertrieb oder herostratisches Gelüst?

Fragen über Fragen, die zu beantworten ich außerstande bin.

Erscheinungen von solcher Hochzucht und dynamischen Gewalt, wie ich eine dort in Hamburg kennenlernte, sind natürlich selten. Aber die Seltenheit mindert nicht nur nicht die Gefahr, sie erhöht sie im Gegenteil. Es sind späneanziehende Magneten von unwiderstehlicher Wirkung. Ihnen wohnt eine Kraft der Übertragung inne, der Entflammung, der Zerrüttung und Zersetzung, der Manifestierung, der Willensbrechung Schwächerer, der Gefolgsaufbietung, daß ihnen Widerstand nur der zu leisten vermag, der mit seinen Wurzeln fest in der Erde verklammert ist.

Es fallen ihnen mühelos zu: die Unzufriedenen; die Leugner; die Entsäfteten und Morschen; die Übersättigten; die Enttäuschten; die geborenen Verräter und die aus dem Verrat Nutzen ziehen; die Gottlosen und die Gottsucher; die am Wort hängen und ans Wort glauben; die dilettantischen Weltverbesserer; die Abenteurer; die Gelegenheitsmacher; die Piraten des öffentlichen Lebens, der Politik und der Literatur; alle, die ihr Leben mit wesenloser Opposition hinbringen – Legionen. Es fallen ihnen die in der Armut Verkommenen ebenso zu wie die aus miasmischem Luxus Flüchtenden, die Jugend, die ohne Idee ist, ohne Stern, aber mit irren, zuckenden Herzen – Legionen. Sie alle waren vielleicht einmal ein Ausdruck der Schöpfung; jetzt wird aus jedem eine lebendige Phrase.

Der Prozess ist so: um zu herrschen, braucht der Geist die Gesinnung. Gesinnung aber tilgt den Sinn, zerschlägt das Bild, entfleischt die Gestalt, daß sie zum Skelett wird, zum Phantom. Wer Gesinnung hat, sieht nicht mehr die Gestalt und löst sich los von Sein und Werden.

Der Geist gebiert die Phrase. Wodurch ist die Menschheit dahin gelangt, wo sie ist, als durch die Phrase? Die Phrase gleicht der entzündeten Zelle, die sich weiter frisst und endlich als Krebsgeschwür den Körper zerstört. Sie bläht sich und bläht sich und frisst und frisst und verfinstert die Erde und den Luftraum.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mein Weg als Deutscher und Jude