Kapitel 24 - Bei der Erkenntnis der Aussichtslosigkeit der Bemühung wird die Bitterkeit ...

Kapitel 24 - Bei der Erkenntnis der Aussichtslosigkeit der Bemühung wird die Bitterkeit in der Brust zum tödlichen Krampf.

Es ist vergeblich, das Volk der Dichter und Denker im Namen seiner Dichter und Denker zu beschwören. Jedes Vorurteil, das man abgetan glaubt, bringt, wie Aas die Würmer, tausend neue zutage.


Es ist vergeblich, die rechte Wange hinzuhalten, wenn die linke geschlagen worden ist. Es macht sie nicht im mindesten bedenklich, es rührt sie nicht, es entwaffnet sie nicht: sie schlagen auch die rechte.

Es ist vergeblich, in das tobsüchtige Geschrei Worte der Vernunft zu werfen. Sie sagen: was, er wagt es aufzumucken? Stopft ihm das Maul.

Es ist vergeblich, beispielschaffend zu wirken. Sie sagen: wir wissen nichts, wir haben nichts gesehen, wir haben nichts gehört.

Es ist vergeblich, die Verborgenheit zu suchen. Sie sagen: der Feigling, er verkriecht sich, sein schlechtes Gewissen treibt ihn dazu.

Es ist vergeblich, unter sie zu gehen und ihnen die Hand zu bieten. Sie sagen: was nimmt er sich heraus mit seiner jüdischen Aufdringlichkeit?

Es ist vergeblich, ihnen Treue zu halten, sei es als Mitkämpfer, sei es als Mitbürger. Sie sagen: er ist der Proteus, er kann eben alles.

Es ist vergeblich, ihnen zu helfen, Sklavenketten von den Gliedern zu streifen. Sie sagen: er wird seinen Profit schon dabei gemacht haben.

Es ist vergeblich, das Gift zu entgiften. Sie brauen frisches.

Es ist vergeblich, für sie zu leben und für sie zu sterben. Sie sagen: er ist ein Jude.

In den verzweifelten Tagen meiner Münchener Not hatte ich die wunderliche Gewohnheit, jeden Morgen zum Kirchhof zu wandern und die in der Leichenkammer zur Schau gestellten Toten zu betrachten. Ich wurde ihres Anblicks nicht müde. Die wächsernen Stirnen, Augen und Lippen sprachen zu mir; es kam mir vor, als seien es im Grunde lauter Gemordete, irgendwie durch Missverständnis und überflüssige Leiden Gemordete. Sie erwachten mir bisweilen mysteriös und drängten sich in meine Träume. Wenn ich nicht mehr aus noch ein wusste, trieb mich die Sinnesverwirrung und -verfinsterung zu ihnen, und ich klagte die Lebendigen bei ihnen an.

So ist mir auch heute oft. Es ist mir, als wäre nur bei den Toten Gerechtigkeit zu finden gegen die Lebenden. Denn was diese tun, ist ganz und gar unerträglich.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mein Weg als Deutscher und Jude