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Waldemar WeberMein Verwandter Reinhold Barthuli fuhr im Winter 1979 aus Mittelasien heim nach Tuwa. Infolge des Passagiermangels reiste er mit Komfort, hatte das ganze Abteil für sich allein. Durch das kasachische Territorium ging der Zug ausgerechnet am Tage der Allunionsvolkszählung. In den Fernzügen wurden die Fahrgäste von Sonderkommissionen registriert.

Am frühen Morgen kamen zwei Kasachen in seinen Waggon, sie hatten vorgedruckte  Personalbögen mit. Auf die ersten Punkte antwortete Barthuli automatisch. Als die Kasachen fragten: ”Nationalität?”, wurde er nachdenklich.

Er schaute auf die verblassten Kunststoffnelken in einer Plastikvase auf dem mit Einschnittspuren von Taschenmessern übersäten Abteiltisch, auf die Reproduktion der ”Jäger” von Perow an der Wand, auf die ausgeblichenen Vorhänge mit dem Stempel des Eisenbahnministeriums, sein Blick wanderte weiter aus dem Fenster hinaus auf die noch dämmrige flache Steppe mit den aus dem Schnee hervorstechenden Disteln, auf die kleinen missgebildeten Zwergbäume längs des Bahndamms, und er erinnerte sich, weiß Gott warum, an die Mutter, wie sie einen Tag vor ihrem Tod zu ihm in den Kindergarten des Arbeitslagers gekommen war, die dahinsiechende Mutter, die ihm an jenem Tag zum ersten Mal kein Brot mitgebracht hatte, er dachte an die erbitterten Schlägereien im Kinderheim eines fernen burjatischen Krähwinkels, an das hölzerne Schulhaus mit der Bibliothek, die aus einem einzigen Regal bestand, an das erste selbständig gelesene Buch mit dem Titel ”Alitet zieht sich in die Berge zurück” , das vom glücklichen Leben der Tschuktschen nach der Oktoberrevolution erzählte…
Die Kasachen warteten geduldig.
Dann war die Fachschule für Waldwirtschaft, die Arbeit als Forstwart in Ewenkien, das Heulen des Schneesturms, die 50 Grad-Fröste, später das pädagogische Institut in Tschita, wo in ihm das Interesse für seine Herkunft erwachte und er in städtischen Archiven zu wühlen begann, Bücher aus anderen Städten durch die Fernleihe bestellte, ohne zu ahnen, dass die Sicherheitsorgane dieses Interesse von Anfang an observierten und die Liste der von ihm bestellten Bücher von den Mitarbeitern der Archive zugeschickt bekamen, wohin er auch immer ziehen mochte. Schließlich wurde er wegen der Verbreitung eines Manuskripts über die Geschichte der russländischen protestantischen Freikirchen verhaftet. Fünf Jahre hat er abgesessen, Geschichte durfte er nicht mehr unterrichten, und so nahm er seinen früheren Beruf wieder auf, fand eine Stelle als Forstwart in der Nähe von Kysyl, lebte zurückgezogen und allein. Weder über seine Vorfahren noch über seine im Gulag umgekommene Familie hatte er etwas Vernünftiges in Erfahrung bringen können.
Und Reinhold Barthuli antwortete: Sumerer
So wurde es auch in das Protokoll eingetragen, die Kasachen baten ihn nur, die Rechtschreibung zu überprüfen.
Auf die Frage nach der Muttersprache antwortete Barthuli ohne zu zögern: Deutsch. Diesbezüglich hatte er keine Zweifel. Er kannte diese Sprache zwar dürftig, als Kind an der Wolga hatte er aber nur sie gesprochen. Dass die Mutter oder die Verwandten eine andere Sprache gesprochen hätten, daran konnte er sich nicht erinnern.
Nach einer Weile kamen die Kasachen zurück.
„Der Chef  lässt nachprüfen, von einer solchen Nation – Sumerer – hat er nie gehört... Wo lebt sie?”
„Im Zwischenstromland.”
„Wo ist das?”
„In Mesopotamien.”
„Und wo ist das?”
„Na, dort, wo die Araber sind, südlich von den Armeniern”
„Also leben die Sumerer auch dort?”
„ Ja, die auch.”
Reinhold Barthuli hat rotblondes Haar, blaue Augen, die Haut eines Albinos.
„Sind die Sumerer alle rothaarig?” fragen die Kasachen.
„Ich weiß es nicht, ich habe mit Ausnahme von mir noch nie einen Sumerer gesehen, bin ja im Kinderheim groß geworden. Weiß nur, dass ich Sumerer bin.”
„Wofür sind die Sumerer berühmt?”  
„Was heißt berühmt? Wofür sind die Kasachen berühmt?”
„Die Kasachen haben den Kumyss erfunden.”
„Und die Sumerer das Rad.”
„Welches  Rad?”
„Das, auf dem wir gerade rollen.“
Zum ersten Mal tauchte auf den Gesichtern der Kasachen eine Art Erstaunen auf.
Sie gingen weg, kamen aber nach einer Stunde wieder.
„Der Chef lässt nochmals nach deiner Muttersprache fragen.“
Barthuli wiederholte: „Deutsch.“
Keine Reaktion.
„Na, was ist?”
„Wenn du Deutscher wärst“, sagt der Chef, „und Deutsch oder Russisch als Muttersprache hättest, dann könnte er das verstehen, aber Sumerer und deutsch. Das passt nicht zusammen.”
„Passt es mit Russisch zusammen?”
„Russisch können ja alle.”
„Na gut, schreibt Russisch, wenn es für euch einfacher ist.”
Die Kasachen atmeten auf, änderten das Protokoll.
Bevor sie gingen, sagten sie an der Türschwelle von einem Fuß auf den anderen tretend: ”Eigentlich sind wir keine Kasachen, wir sind Uiguren.”
Sie kamen nicht mehr zurück.

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