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Kriegsende in Warnemünde

In Warnemünde endete der zweite Weltkrieg am 1. Mai 1945 mit dem Einzug der Roten Armee, acht Tage vor der endgültigen Kapitulation des Deutschen Reiches. Es war ein ganz besonders schöner und sonniger Frühlingstag. Die Kronen der Lindenbäume in den Straßen waren schon dicht mit freundlichem, hellgrünen Laub gefüllt. 
In allen Straßen, und besonders unten am Hafen herrschte ein vollkommenes Durcheinander, und alle wussten es: „Die Russen kommen!“

Glückliche JahreVor den Russen hatten alle panische Angst. Das mag zum Teil an den offiziellen und inoffiziellen Berichten gelegen haben, die geschildert hatten, was alles in den bereits von der Roten Armee eroberten Gebieten geschehen war. Sicher bestand diese Angst auch deshalb, weil man gehört hatte, was von Deutschen besonders in Russland an Verbrechen begangen worden war. Zwar sagten alle Erwachsenen später immer wieder, sie hätten nichts davon gewusst, und nur einige wenige hätten sich schuldig gemacht. Das ist jedoch so nicht ganz richtig. Es waren natürlich nicht alle beteiligt gewesen, aber die meisten haben etwas gewusst oder geahnt. Und nun hatten auch alle schreckliche Angst.
Wie jedoch die Einzelnen darauf reagierten, war sehr unterschiedlich. Viele versuchten im Hafen noch schnell ein nach Westen auslaufendes Schiff zu erwischen, besonders solche, die schon von Osten kommend bis hierher vor der Roten Armee geflohen waren. Und auch der eine oder andere Warnemünder sprang noch kurzentschlossen ohne jede Planung mit auf ein Schiff, das ihn nach Westen brachte.
Viele befanden sich einfach nur in hilfloser Panik. Von einem alten Warnemünder wird berichtet, der sich seine Schaufel aus dem Keller holte und dann in Richtung auf die Dünen lief mit den Worten: „Ick gå an’n Strand, ick buddel mi in.“
Die Pension „Haus Anita“ in der Wachtler-Straße 1 wurde von zwei älteren Damen betrieben. Sie beide wollten die Ankunft der Russen nicht erwarten, sahen aber wohl auch keine Möglichkeit zur Flucht, und so nahmen sie sich – wie manch anderer in Warnemünde – kurzentschlossen das Leben. Da das damals – im Gegensatz zu heute – sehr schöne Haus dann leer stand, wurde es wenige Tage später die russische Kommandantur.
Meine Mutter erlebte diesen Tag als 25jährige. In ihrer Lebensgeschichte, die sie später für ihre Kinder und Enkel aufgeschrieben hat, schildert sie auch diese letzten Stunden in Warnemünde bevor die Russen kamen. Aus ihrem Bericht möchte ich hier zitieren:

Der 1. Mai 1945 war ein wunderschöner Frühlingstag. Wir hatten wieder einmal in Trainingsanzügen geschlafen und wurden sehr früh durch eine allgemeine Unruhe im Haus und auf der Straße geweckt. Nach den letzten Meldungen waren die Russen nicht mehr weit und die ganze Bevölkerung war auf den Beinen. Wie alles werden würde und was zu tun sei, das wusste keiner genau. Viele gerieten in Panik und versuchten zu Wasser oder zu Land in Richtung Westen zu fliehen. Wir trauten unseren Augen nicht, als wir später zum Hafen kamen und nicht ein Fischerboot mehr sahen. Selbst das kleinste Schiff war zur Flucht benutzt worden.
Dann rollte Lastwagen auf Lastwagen mit Soldaten durch den Ort, alle nach Westen. Sie nahmen sich nicht einmal die Zeit, anzuhalten, und die um Mitnahme bettelnden Zivilisten aufsteigen zu lassen.
Nun waren wir also ganz schutzlos unserm Schicksal überlassen, ich wusste in diesem Augenblick nicht, ob wir es richtig machten. Aber mein Vater riet zu diesem Zeitpunkt von einer Flucht ab, und er hatte recht. Wir hofften jetzt, dass die Stadt kampflos übergeben würde.
Aber was auch geschehen würde, man musste jetzt vor allem für Lebensmittelvorräte sorgen. Es sprach sich schnell herum, dass alle Geschäfte ihre Läger räumen sollten, alles, was es auf Lebensmittelkarten gab, wurde gekauft, und wenn man Glück hatte, bekam man auch noch etwas mehr.
Meine Schwester war mit ihren Kindern auch zu den Eltern gekommen, weil ihre Nachbarn alle geflüchtet waren, und weil das Haus außerdem am Stadtrand lag. Die beiden kleinsten Kinder blieben nun in der Obhut unserer Mutter und alle übrigen Familienmitglieder waren als „Besorger“ unterwegs.
Vor den Geschäften standen lange Schlangen und aus Furcht und Hoffnung geboren kursierten hier die wildesten Gerüchte.
Hin und wieder trafen wir uns zu Hause, um die erstandene Ware abzuliefern, erfuhren dabei von neuen Möglichkeiten und stürmten wieder los, denn es war keine Zeit zu verlieren. Man hörte schon den Donner der Geschütze, als wir noch zum Marinehafen liefen, um einen Sack Mehl zu organisieren. Hier lagen noch einige Torpedoboote zum Auslaufen bereit, und auch hier sprangen einige Menschen, so wie sie gerade unterwegs waren, auf die Boote und fuhren einem ungewissen Schicksal entgegen. Für manche war es die letzte Fahrt, viele kehrten auf Umwegen und nach langen Irrfahrten in die Heimat zurück und für andere wiederum war es der Beginn eines neuen Lebens.
Wir brachten unseren Sack Mehl nach Hause und wollten gerade wieder zu neuen Taten aufbrechen, als ein etwa 20jähriges Mädchen auf uns zutrat, uns ihr abgerissenes SS-Abzeichen vor die Nase hielt und uns nach der Adresse des Ortsgruppenleiters fragte. Sie wollte, dass der Missetäter für seine frevelhafte Tat bestraft würde. Wir sahen uns fassungslos an. Gab es das wirklich, so verschiedene Probleme nebeneinander? Alle Schranken waren gebrochen, jeder wollte nur noch über die letzten Stunden dieses Krieges kommen in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Dieses Mädchen aber wollte die Uhren anhalten. Ich frage mich heute, was in diesem Wesen vorgegangen ist. Wenn es nur Dummheit war, dann lohnt es nicht, weiter darüber nachzudenken. Aber wenn es Fanatismus war, dann kann man nur erschaudern vor den Blüten, die er zu treiben imstande ist. Im Übrigen mussten wir ihr sagen, dass der Ortsgruppenleiter die Stadt bereits verlassen habe.


So zogen ganze Heerscharen von Rostockern und Warnemündern umher und versuchten genau den richtigen Zeitpunkt abzupassen, in dem man einigermaßen ungefährdet die einzelnen Lagerräume der Wehrmacht in den Häfen und in der Stadt plündern konnte. Ein schlechtes Gewissen hatte man nicht, denn alles, was liegen blieb, würde ja doch den Russen in die Hände fallen. Wenn man zu früh kam, dann lief man allerdings Gefahr, von den letzten Kettenhunden der Wehrmacht gestellt zu werden, und dann drohte einem sogar die schnell vollstreckte Todesstrafe. Kam man zu spät, dann war nichts mehr da.
In der Fritz-Reuter-Schule waren von der Marine große Vorratslager eingerichtet worden, die nun von der Warnemünder Bevölkerung geplündert wurden. Besonders interessant war dabei die U-Boot-Verpflegung aus der Turnhalle. Das waren nur Blechdosen mit einer Nummer darauf zur Kennzeichnung des Inhalts. Wenn man die Bedeutung dieser Nummern nicht kannte, dann konnte man nur auf gut Glück irgendeinen Karton mitnehmen, und erfuhr dann später beim Öffnen, ob man zum Beispiel Leberwurst, Pfirsiche oder nur Kartoffeln erwischt hatte. Das Letztere war dann nicht so erfreulich, denn Kartoffeln hatte man auch so schon.
So kamen nun einer nach dem anderen die Plünderer aus der Turnhalle, und jeder hatte einen großen Karton mit Dosen, die jeweils alle die gleiche Nummer trugen. So hatte dann eine Familie später sehr viel Leberwurst, eine andere sehr viel Pfirsich, und man konnte dann tauschen: Pfirsich gegen Leberwurst. Aber wer die schönen geschälten Kartoffeln erwischt hatte, der fand eben niemanden, der mit ihm tauschen wollte.
Mein Vater stand mit seinen beiden jungen Neffen neben dem Eingang, und da er recht groß war, konnte er in jeden vorbei getragenen Karton oben hineingreifen und sich eine Dose herausholen, ohne dass die schwer beladenen Träger sich dagegen wehren konnten. Außerdem war es ja von jedem nur eine einzige Dose. Die Dosen wurden dann in einen Sack gesammelt, den die beiden Neffen bereithielten. Trotzdem erschallte von hinten der Ruf: „Haut dem Langen eins auf den Kopp!“
Auch in den ersten Tagen nach dem Einmarsch der Russen konnten meine beiden vierzehn und sechzehn Jahre alten Vettern noch weiter im Hafengebiet räubern. Das geschah dann auch durchaus unter den Augen der russischen Soldaten. Wenn die beiden mit ihrem wohlgefüllten kleinen Handwagen am Bahnhof über die Gleise kamen, dann mußten sie immer einen kleinen „Wegezoll“ an die wachhabenden Soldaten abgeben.
Alles „Gefundene“ war irgendwie brauchbar. Im Marinelager im Hafengebiet „fanden“ sie eine große Zahl von Flaschen mit Essigessenz - schon damals an ihrer leicht bauchigen Form ganz leicht zu erkennen. Die meisten Flaschen aus diesem Fund wurden später gegen andere Nahrungsmittel getauscht.
Auf dem Flugplatz stöberten sie in einer alten Flugzeughalle große Mengen von gutem Schmelzkäse auf. Immer kleine Päckchen zu je einem viertel Pfund, und die wieder eingepackt in große Kartons, und davon ganz viele an einer Wand hochgestapelt. Das konnte man nicht alles allein aufessen, aber zum Tauschen war es bestens geeignet.
In einer alten Garage in Warnemünde fand sich ein Lager, in dem bis zur Decke Filzstiefel gestapelt waren. Konnte man natürlich nicht das ganze Jahr über tragen, aber das waren auch ausgezeichnete Tauschobjekte, und mancher Stiefel wurde später im übertragenen Sinne durchaus eßbar.
So hatte unsere Familie später ein bunt gemischtes Warenlager. In anderen Familien in Warnemünde sah es ganz ähnlich aus, nur es waren eben ganz unterschiedliche Dinge, die einem der Zufall so zugespielt hatte. Beste Voraussetzungen also für zukünftige Tauschgeschäfte! Zuerst war es dann beim Öffnen einer Dose aus der Fritz-Reuter-Schule immer sehr spannend, was der Inhalt sein würde, aber nach einigen Wochen hatte sich im Ort herumgesprochen, was die einzelnen Nummern jeweils bedeuteten.
Wie die Plünderungsaktion in der Fritz-Reuter-Schule durch den Einmarsch der Russen beendet wurde, beschreibt wieder meine Mutter in ihren Lebenserinnerungen:

Ich stand im zweiten Stockwerk (der Fritz-Reuter-Schule) mitten in einer Menschenmenge, ich konnte weder vor noch zurück und wusste auch gar nicht, ob und was es da eigentlich zu holen gab. Das ganze Gebäude wimmelte von Menschen, als es plötzlich hieß: Die Russen sind da! Alles stürzte zur Treppe und drängte ins Freie. Jeder strebte so schnell nach Hause, dass der Platz vor dem Gebäude plötzlich wie leergefegt war. Ich schien allein zu sein.
Es war alles ruhig, aber irgendetwas war anders, ich spürte irgendeine Gefahr und rannte wie gehetzt die Straße hinunter. Plötzlich - ein dumpfer Knall, und über mir rauschte es in dem frischen Laub der großen alten Linden. Ich riss mir mein Kopftuch herunter und rannte weiter, dabei fiel ich fast über einige von den heiß begehrten Konservendosen, die irgend jemand verloren haben musste, aber ich ließ sie liegen. Als ich endlich zu Hause ankam, war ich total erschöpft aber glücklich, nun in Sicherheit zu sein.
Wir hörten noch vereinzelte Schüsse, aber sonst blieb alles ruhig. Zunächst saßen wir in alter Gewohnheit noch im Keller beisammen, doch dann überlegten wir, dass uns aus der Luft nun wohl keine Gefahr mehr drohte und gingen in unsere Wohnung.
Hier ordneten wir erst einmal unsere Lebensmittelvorräte und versteckten einen Teil davon. Auch Wertsachen ließ man nicht gerade griffbereit herumliegen. Auf der Straße war es noch immer ruhig, weit und breit war kein Mensch zu sehen. An manchen Häusern zeigten sich zaghaft die ersten weißen Fahnen.
Auch die russischen Soldaten schienen kein Risiko mehr eingehen zu wollen. Sie durchkämmten gründlich und vorsichtig Straße für Straße, Haus für Haus. Am späten Nachmittag rollte dann der erste russische Panzer durch unsere Straße, und bald darauf bekamen wir auch „Besuch“. Ein riesiger Soldat in einer dunkelbraunen, ölverschmierten einfachen Uniform stand in der Tür und füllte sie fast ganz aus. Kann sein, dass meine Angst ihn größer machte, als er wirklich war.
Mein Vater hatte uns geraten, uns ganz natürlich zu benehmen, und so saß ich nun mit meinem Sohn Horst am Tisch, und wir hatten ein Bilderbuch vor uns liegen – eine absurde Situation. Der Russe sah sich diese Idylle eine Weile an, dann wandte er sich ab und durchsuchte die anderen Zimmer.


Die ersten Tage und Wochen danach waren noch gekennzeichnet von verschiedenen Übergriffen, von Verbrechen und Gewalt, aber dann begann sich langsam das Leben auf niedrigem Niveau zu normalisieren. In der Wachtler-Straße 1, im leerstehenden Haus „Anita“ wurde die russische Kommandantur eingerichtet, und samt ihrer Umgebung regelmäßig gut bewacht. Zu dieser Umgebung gehörte auch das direkt angrenzende Haus „Viktoria“ in der Heinrich-Heine-Straße 16, wo meine Großeltern und damals auch noch wir wohnten. So fiel ein wenig von der bewachten Sicherheit der Kommandantur auch für uns ab.
Von außen war nun die Kommandantur an den roten Fahnen, den Bildern von Lenin und Stalin und an vielen bunten Glühbirnen zu erkennen. Und es gab hier und an manchen anderen Straßenecken Lautsprecher, aus denen hin und wieder irgendwelche Bekanntmachungen zu hören waren, meist aber ganz stark übersteuerte Musik.
Meist war diese Musik heroisch klingende Militärmusik, nicht selten aber waren es auch Chöre oder entsprechend begleitete Solisten mit russischer Volksmusik. Ich weiß, diese ständig scheppernden Lautsprecher waren nicht sonderlich beliebt, aber mein persönliches Faible für russische Volksmusik, solistisch oder als Kosakenchöre, hat seinen Ursprung in dieser Zeit der öffentlichen Lautsprecher vor der Kommandantur im Haus „Anita“ in der Wachtler-Straße. ...

von Prof. Dr Horst D. Schulz

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