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Waldemar WeberIch wuchs in Karabanowo auf, einer kleinen mittelrussischen Stadt, die unauffällig war wie ein staubiger Stein am Wegrand. Sie nahm ihren Anfang bei dem mit rotbrauner Mennige angestrichenen Holzgebäude des Bahnhofs. Hinter einem winzigen Schalter schimmerte das verschlafene Gesicht der Kassiererin. Ab und zu erschien auf dem Bahnsteig der Stationsvorsteher mit einer Signalflagge, wartete düster die Abfahrt des Zuges ab, gähnte und zog sich  wieder zurück.

Von Karabanowo bis Moskau sind 101 Kilometer. Wer nach dem Absitzen seiner Haft in Lagern und Gefängnissen nicht nach Moskau zurück durfte,  ließ sich hier nieder. Die für Stalinlager typische Kombination aus politischen Häftlingen und Kriminellen war  die Eigenart unserer Stadt. Hier siedelten sich auch Aufseher an, die in den Ruhestand getreten waren.
Das Textilkombinat, die Hauptsehenswürdikeit des Städtchens, produzierte Baumwollstoffe. Zwischen den Hügeln schlängelte sich der Fluß Seraja*, der  hinter dem Kombinat  von den Abfällen der Färberei tintenblau wurde.
Mein Vater, Ingenieur und Lehrer an einer Berufsschule, war  mit der Erfüllung und der Übererfüllung des Planes beschäftigt, fuhr jeden Herbst mit den Arbeitern aufs Land zur Kartoffelernte, die Mutter unterrichtete an der Abendschule Weber und Weberinnen in Deutsch, die während der Stunde vor Müdigkeit einschliefen.
Es gab in der Stadt ein großes Lenin-, ein kleineres Stalindenkmal und viele andere Denkmäler aus Gips, die in der Mitte von Blumenbeeten standen. Drei große Fabrikschornsteine rauchten Tag und Nacht, aber man nahm von ihnen kaum Notiz.
Im Frühsommer wurden Volksfeste veranstaltet, die mit Fußball, trunkener Ausgelassenheit und Schlägereien endeten. Vom Stadion ging die Menschenmenge nach Hause an den Ruinen der zerstörten Kirche  vorbei und urinierte tausendfach auf deren Trümmer und die zerschlagenen Grabsteine.
In der Schule hatte ich einen Kameraden., den Sohn des Stadtmalers. Zu den Pflichten seines Vaters gehörte es,  zu den Festtagen große Ölporträts der führenden Funktionäre des Landes anzufertigen. Zu jedem Feiertag die neuen. Als Modell dienten Bilder aus der Illustrierten „Ogonek“. Er malte auf Leinwand. nach einem Raster.
Ich war häufig bei meinem Freund zuhause. Mein Interesse galt  einer Enzyklopedie, in der beinahe die Hälfte der Photographien mit Tusche überstrichen war. „Feinde des Volkes“ erklärte  mein Freund. An einer Wand hing ein Porträt seiner Mutter, an der gegenüberliegenden ein Plakat mit den Bildern von Politbüromitgliedern. In einem Winkel der Isba hing eine kleine Ikone,  vor ihr leuchtete ein Öllämpchen. „Hat dein Vater die Mutter auch nach einem Raster gemalt? - fragte ich. - „Nee, die Mutter hat er einfach so gemalt. Die Mutter darf  man ohne Raster malen, unsere Führer nicht. Daß sie nicht unähnlich geraten!„ Er sprach wie ein altes Männlein, langsam und schulmeisterlich, betonte  jede Silbe.  „Die Mutter wird verzeihen. Die Regierung nie. Kommst ins Kittchen“ Die Großmutter des Freundes, die auf dem Ofen lag, bekreuzigte sich. .
Als die Großmutter die Nähe des Todes spürte, rief man  einen Geistlichen aus der Nachbarstadt Alexandrow. Der eingetroffene Pope bekeuzigte sich von der Schwelle aus zuerst in Richtung der Porträts der Politbüromitglieder,  dann in Richtung der Ikone.
Von unserem Haus aus begannen drei Sraßen. Eine führte zum Kombinat. Die zweite zum Stadion. Die dritte zum Friedhof. Die Straße der III.Internationale. Die Straße des Sieges. Die Gorki-Straße. Außerdem gab es in der Stadt viele andere Straßen, sie trugen die Namen von Revolutionären, Gelehrten, Poeten und Kindern, die den Heldentod gestorben waren.. Sie führten in den Wald, in verwilderte Parks, in Bachschluchten, stießen auf Monumente, Obeliske, krochen unter Hoftore, verloren sich im Sande...

1993
* russisch heißt „seraja„ grau

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