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 Zum 200. Geburtstag von Heinrich Hoffmann: Wie ein Kinderbuch die Welt erobert hat.

Vor 200 Jahren wurde Heinrich Hoffmann geboren. Als Hoffmann, der Neurologe und Psychiater von Beruf war, an Weihnachten 1844 kein geeignetes Weihnachtsbuch für seinen dreijährigen Sohn finden konnte, entschloß er sich stattdessen, ein Notizbuch zu kaufen – und einige Kindergeschichte zu malen. Geboren war der Struwwelpeter. Seitdem hat er die Grenzen der Sprachen und Kulturen durchbrochen – und ist zu einem weltweiten Hit geworden. Jeder hat seinen Struwwelpeter.


Struwwelpeter – die Geschichten

Die Geschichten des Struwwelpeters sind weit bekannt: Der Struwwelpeter mit seinem wilden Haar – die Nägel schnitt er nicht ein Jahr!- , Paulinchen, das Mädchen mit den Streichhölzchen –„miau, mio – nun brennt sie lichterloh“-, Konrad, der Daumenlutscher, der Suppenkaspar –„er fing an zu schrei´n: Ich esse keine Suppe. Nein!“-, der Zappel-philipp und all die anderen Charaktere, die Klassiker der Kinderliteratur geworden sind.

Sowohl die Namen der Charaktere als auch die Geschichten selbst sind untrennbar mit der deutschen Kultur verbunden, mit deutschen Werten und deutscher Folklore, aber auch mit allgemeineren Motiven, wie Aufmerksamkeitsstörungen und Magersucht, deren Ursprung in der Medizin und Psychologie – Hoffmanns Disziplinen- liegt. Für den israelischen Kinderbuchautor Yehuda Atlas (“Struwwelpeters Abenteuer im Heiligen Land”, in: Struwwelpost. Herausgegeben durch den Freundeskreis des Heinrich-Hoffmann-Museums, 2004) sind Urängste in diesen Geschichten verankert: Schuld und Sühne, Krankheit und Tot, Sünde und (meist drakonische) Strafe. Jedoch haben diese Geschichten gleichzeitig auch immer etwas anziehendes, verführerisches, und manchmal auch einen Hauch an Ironie und Humor.

Es ist die Ironie der Struwwelpeter-Erfahrung: Einerseits läuft es einem kalt den Rücken herunter und man hat noch als Erwachsener Albträume von abgeschnittenen Daumen, verbrannten Mädchen und verhungerten Suppen-Verweigerer. Andererseits hat man trotzdem ein Lächeln auf den Lippen, wenn man an diese Geschichten zurückdenkt.

Struwwelpeter, Struwwelhitler und der Krieg: Auf allen Frontlinien


In Heinrich Fassbenders Film „Lili Marleen” geht es um ein Lied, dass auf allen Fronten des Zweiten Weltkrieges gesungen wurde: Sowohl Wehrmachtssoldaten als auch britische Soldaten hatten „Lili Marleen“ auf ihren Lippen bevor sie in den Tod gingen. Marlene Dietrich, die aus Deutschland geflohen war, übersetzte das Lied auf englisch und sang es vor amerikanischen Truppen.

Beim Struwwelpeter verhielt es sich ähnlich: Egal, ob Nazi, englischer Soldaten oder jüdisches Kind deutscher Einwanderer im Britischen Mandatsgebiet Palästina – jeder hatte seinen Struwwelpeter.

Für die deutschen Leser war es der klassische “Struwwelpeter”, der den Kindern vorgelesen wurde. In England hingegen arbeiteten zwei Brüder, Robert und Phillip Spence, die beide in Newcastle Kunst studiert hatten, an einer Struwwelpeter-Parodie, die sich über die Nazis lustig machen würde und gleichzeitig Geld für die Kriegsbemühungen der Engländer sammeln würde: Das Ergebnis war ein Buch mit dem Titel „Struwwelhitler – a Nazi Story Book by Doktor Schrecklichkeit”, das 1941 im „Daily Sketch“ erschien. Die Einkünfte wurden benutzt, um Opfer der Luftangriffs mit Kleidung, Bettbezug und Essen zu versorgen. Im Buch selbst wird aus „Struwwelpeter“ „Struwwelhitler“, aus dem mit Streichhölzern spielenden „Paulinchen“ wird „Gretchen“, ein BDM-Mädel, das mit Bomben spielt, und auch Göring, Goebbels und von Ribbentropp kommen vor. Historisch akkurat wird von dem eigenständigen Flug des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß nach Schottland berichtet, wo er Friedensgespräche halten wollte. Im „Struwwelhitler“ liest sich das so:

“Now, it isn’t very clear
what he’s wanting over here.
Only this thing is plain
Rudolf won’t go back again

Im allgemeinen liest sich aus dem “Struwwelhitler” die Angst der Engländer vor einem Sieg der Nazis (was 1941 sehr wahrscheinlich erschien) sowie die Angst vor dem stalinistischen Rußland, die in der “story of the Nazi Boys” symbolisiert wird (die Nazis werden von „Vater Stalin“ in rote Farbe getunkt).


Struwwelpeter im Heiligen Land

Im selben Jahr wurde der „Struwwelpeter“ zum ersten Mal ins Hebräische übersetzt: Unter dem Titel „Yehoshua ha-Paruah“ (der wilde Yehoshua) gab Reuven Mass (Taltalim-Verlag) den Klassiker des deutschen Kinderbuches heraus. Übersetzer wurde nicht genannt. Es kann angenommen werden, dass sowohl der Übersetzer als auch der Zeichner, die sich beide eng an Hoffmann halten, Jeckes waren, also deutsche Juden, die nach Palästina geflohen waren. Und auch die Leserschaft waren wohl Jeckes.

Die Geschichten hingegen sind in ein sehr schönes Hebräisch übersetzt – einschließlich der Namen: Friedrich wird zu Elazar, Paulinchen zu Rachel und Hans-Guck-in-die-Luft zu Dan. Auch zensierte der Übersetzer die Geschichte etwas: Die Geschichte des vom Hasen gejagten Jägers kommt hier nicht vor, ebensowenig wie die Geschichte des Daumenlutschers. Zudem stirbt der Suppen-Kaspar zwar, jedoch hat er –aus kulturellen Gründen- kein Kreuz auf seinem Grab.

Danach dauerte es 33 Jahre, bevor der Struwwelpeter erneut ins Hebräische übersetzt wurde: Uri Sela, der eine Werbeagentur leitet, übersetzte das Buch unter dem Titel „Yiftach ha-Meluchlach“ (der schmutzige Yiftach) im Levin-Epstein & Modan-Verlag 1974 heraus. Sowohl die Namen als auch die Geschichten sind in modernerem Hebräisch als die Erstausgabe geschrieben – zu dem Zeitpunkt gibt es den Staat Israel schon seit 26 Jahren, und bereits eine ganze Generation, die mit Hebräisch als Muttersprache aufgewachsen ist. Auch zeigt die Übersetzung von dem Selbstvertrauen dieser Generation: So ist der Suppen-Kaspar klüger als das Original: Er ist letztendlich seine Suppe und stirbt nicht.

Zehn Jahre später kommt eine weitere Übersetzung auf Hebräisch heraus: “Shua ha-Paruah”, übersetzt von Uriel Ofeg (Machbarot Lesifrut Publishers, 1985). Die Geschichte von Konrad, dem Daumenlutscher, wird hier zum ersten Mal ins Hebräische übersetzt. Im Hintergrund der Intifada und des Libanonkrieges kann die Jugend wohl durch die Brutalität dieser Geschichte nicht mehr geschockt werden.

Heute

Und heute? Frau Beate Zekorn-von Bebenburg, die das Struwwelpeter-Museum in Frankfurt leitet, erwähnte mir gegenüber, dass in den letzten Jahren 30 Millionen Kopien der deutschen Version verkauft wurden. Zudem wurde der „Struwwelpeter“ in 40 verschiedenen Sprachen und 70 verschiedenen deutschen Dialekten übersetzt. Auch eine Theater-Adaption, “Shockheaded Peter-Musical” der “British Tiger Lilies” war sehr erfolgreich. Der „Hoffmann-Sommer“ läuft noch bis zum September und erfreute sich großer Beliebtheit.

Und so kann gesagt werden, dass nicht nur der Struwwelpeter erwachsen geworden ist, sondern auch seine verschiedenen Versionen, Übersetzungen und Interpretationen.

Oder, in den Worten des Struwwelpeters selbst:

„Wo der Wind sie hingetragen –
Ja, das weiß kein Mensch zu sagen...“

Bildquelle: Benjamin Rosendahl

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