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Koserow auf Usedom

Der Winter hat nicht allein seine Leiden, er hat auch seine Freuden. Dies empfand ich so recht, als ich im bequemen Strohschlitten, bespannt mit zwei nur kleinen, aber desto rascheren und ausdauernderen acht litauischen Zuchtpferden in schnellem Trabe aus der mit Schnee bedeckten Eisfläche des Oderstroms dahin fuhr. Es war eine prächtige Fahrt bei klarer kalter Lust, die Körper und Seele neu belebte, bei guter Bahn, heiterer Gesellschaft und raschem Gespann, und wohl konnte man hier die Reize des Sommers auf Stunden vergessen.

Ein sehr belebtes Bild zeigte die Stromfläche der Oder, besonders in der Nähe von Stettin, dem Hauptsitz des Ostseehandels. An zahllosen größeren und kleineren Schlitten, häufig mit kräftigen Rossen, mitunter aber auch nur mit schwer ziehenden Menschen bespannt, fuhr unser schnelles Gespann vorbei. Dieselben waren meist hoch mit Getreidesäcken beladen, die nach der noch nicht zugefrorenen Reede von Swinemünde, wo mehrere Schiffe in Ladung nach Frankreich lagen, geführt wurden. Andere Fahrzeuge hatten mehr Unglück gehabt und waren auf der Fahrt zwischen Stettin und Swinemünde vom schnell eingetretenen Frost ereilt worden und im Fahrwasser der Oder eingefroren. Wir sahen über ein Dutzend so unfreiwillig gefesselter Schiffe, und darunter einige große Dreimaster. Mit eben nicht sehr muntern Gesichtern blickten die wenigen Leute, die am Bord der Kauffahrer geblieben, unserem lustig klingelnden Schlitten nach, der jetzt so sicher auf der Bahn dahin glitt, die noch vor wenigen Tagen die Kiele der Schiffe im raschen Segeln hatten durchschneiden können. Ist der Winter anhaltend, und es hat bis jetzt allen Anschein dazu, so müssen diese Schiffe mehrere Monate auf derselben Stelle liegen, während sie, nur einen Tag früher abgesegelt, in derselben Zeit die Küste Südamerikas längst erreicht hätten. Eben der letzte Dreimaster, den wir hier eingefroren liegen sahen, war nach Brasilien bestimmt, und mehrere Neger, deren glänzend schwarze Gesichter und Kraushaar scharf von der Schneelandschaft um sie herum abstachen, blickten mit ziemlich verblüfften Mienen vom Verdeck herunter.

Swinemünder Osternothafen mit LeuchturmIn Swinemünde, das wir mit untergehender Sonne erreichten, spannten wir um, und sofort brachten uns neue Rosse beim bleichen Lichte des Mondes schnell nach dem Ziel unserer Reise auf Usedom. Mit Wonne verlebte ich einige gemütliche Tage in einem gastlichen Gutshaus, einige Stunden von der Hafenstadt gelegen, von dessen oberen Fenstern man die Aussicht auf die Meeresfläche hat. So ein Landaufenthalt hier oben an der äußersten Nordspitze Deutschlands hat auch im Winter viel Anziehendes. Es liegt etwas still Behagliches im Leben daselbst, und besonders wenn man aus dem lärmenden und aufregenden Weihnachtsgewühl Berlins dahin versetzt wird, fühlt man sich wohltuend angesprochen. Wenn auch der Sturm vom Meere her oft so wild herantobt, als wollte er das Gebäude aus seinen Fugen reißen, die starken Eichenbalken bieten ihm Trotz, und diese schlimme Witterung draußen trägt noch dazu bei die Behaglichkeit im bequem eingerichteten und wohldurchwärmten Zimmer zu steigern. Auf dieser Insel ist man der Kälte und des scharfen Ostwinds genugsam gewöhnt, und das Sprüchwort sagt ja: „Wer ist ein Mann von guter Art, trägt seinen Pelz bis Himmelfahrt.“ Man hat aber auch alle möglichen praktischen Mittel angewendet, um das Eindringen der Kälte in das Innere der Wohnungen zu verhindern. So fest schließende Türen und Doppelfenster, so dicke Mauerwände, so wohlgezimmerte Balkenlagen und gut heizende Öfen wie in den alten wohlhäbigen Gutshäusern der Inseln Wollin und Usedom findet man nirgends in den modernen Häusern unserer deutschen Städte. Auch die kleinen Häuser der Taglöhner und Fischer sind gegen die Kälte trefflich geschützt. Das dichte Stroh- oder Rohrdach derselben reicht weil herunter, so dass nur eine niedrige Außenwand übrig bleibt, und diese ist noch mit aufgestapeltem Holz oder Torf dick versetzt. Das Brennmaterial ist sehr wohlfeil, die Insel enthält noch sehr bedeutende Tannenwaldungen und unermessliche Torflager, und der Gutsherr muss seinen Gutsinsassen das nötige Feuerungsmaterial fast umsonst geben. So findet der Fischer, wenn er durchnässt und steifgefroren von seiner gefährlichen Fahrt zurückkommt, stets eine fast übermäßig geheizte Stube, und trotz der sehr strengen und anhaltenden Winter leiden die Menschen hier viel weniger von der Kälte, als in manchen viel wärmeren Teilen Süddeutschlands, ja selbst Italiens und Frankreichs.

Vom Verkehr mit der Außenwelt ist man während des Winters in den meisten Orten der Inseln Usedom und Wollin fast völlig abgeschnitten. Landstraßen sind noch nicht vorhanden und die Wege sind fast grundlos. Zwar hat Swinemünde als wichtiger Hafenort eine tägliche Postverbindung mit Stettin und auf der andern Seite mit Stralsund, obgleich, wenn die Oder mit Eis geht, auch dieser Verkehr häufig auf mehrere Tage unterbrochen wird, aber die übrigen Dörfer und Gutshöfe sind völlig abgeschnitten. Nur zweimal wöchentlich bringt der Postbote seine Ledertasche mit Briefen und Zeitungen angeschleppt, und man kann sich denken, mit welcher Spannung die Ankunft desselben erwartet und wie hastig der Inhalt seiner Tasche durchmustert wird. Sind die Wege gar zu schlecht oder das Schneetreiben allzu heftig, so verzögert sich die Ankunft desselben um Stunden, ja um mehrere Tage.

 

Mein angenehmster Zeitvertreib in diesen rauen Wintertagen war es, mich mit der Lebensweise und den Sitten und Gewohnheiten der unteren Volksklassen in den Stranddörfern bekannt zu machen. Die höheren Stände sind in ganz Deutschland in allen ihren Neigungen und Gewohnheiten einander so ziemlich gleich, und wo noch hin und nieder provinzielle Eigentümlichkeiten bestehen, werden diese mehr und mehr in rascher Steigerung ausgeglichen. Des Volkes Eigentümlichkeiten sind nur noch in den Schichten zu studieren, die in täglicher Arbeit von ihrer Hände Fleiß leben. Auf den Inseln Usedom und Wollin wohnt nun ein fester, tüchtiger Menschenschlag, der ein lebhaftes Interesse einflößt. Die Natur ist mit ihren Gaben hier karg, und was sie gibt, lässt sie sich nur durch harte, unverdrossene Arbeit abgewinnen. Wer hier nicht arbeitet, nicht täglich mit tüchtiger Anstrengung arbeitet, der muss bald verkümmern. Das süße Nichtstun des Südländers ist dem Bewohner dieses äußersten deutschen Nordens fremd. Wer aber hier fleißig sein will, der braucht nicht in Not und Elend zu leben, sondern kann sich sogar eines mäßigen Wohlstandes erfreuen. Handel und Schifffahrt in Swinemünde beschäftigen viele rüstige Arme, und wo der häufig karge Boden nicht ausreicht die Menschen zu ernähren, da tritt das Meer mit seinem Fischreichtum ein. Fischerei auf dem Meere bildet in den meisten Stranddörfern die Hauptbeschäftigung der Familienväter, während die jungen Burschen als Matrosen auf den preußischen Kauffahrteischiffen in allen Erdteilen kreuzen. Dieser Fischfang auf der tückischen Ostsee ist aber ein sehr beschwerliches, mit den größten Mühseligkeiten, oft mit Lebensgefahr verbundenes Gewerbe. Im Februar, wenn das Meer von den Eisschollen so weit frei zu werden ansängt, dass man eben mit den Booten durchkommen kann, werden die großen Heringsnetze ausgesetzt. Noch vor Tagesanbruch fahren die Fischer, gewöhnlich vier bis fünf Mann zusammen, in einem offenen, starken Boote, oft sechs und sieben Seemeilen weit hinaus, um die Netze aufzustellen, die dann am andern Morgen wieder eingezogen werden. Dieser regelmäßige Verlauf der Arbeit ist zwar sehr beschwerlich und anstrengend, aber nicht gefährlich. Anders aber, sobald das erfahrene Auge der Fischer bemerkt, dass ein Sturm in Anzug ist, denn dann gilt es, die großen, an fünfzig Klafter langen und zwei und ein halb Klafter breiten Netze, die mehrere hundert Thaler wert sind, hereinzuholen, bevor sie vom Winde gefasst und zerrissen oder aus das hohe Meer geschleudert werden. Furchtbar wird dann von den Fischern gearbeitet und so lange als nur irgend möglich dem Sturme Trotz geboten, weil es gilt die Netze zu retten, die oft ihr ganzes Vermögen sind. Häufig ist ihr Bemühen vergebens, sie müssen zuletzt nur darauf denken, den Strand wieder zu erreichen, um das Leben zu retten, und die Netze sind für immer verloren. An den Küsten Schwedens, oder selbst an den Wällen der russischen Festung Kronstadt wirst sie das Meer vielleicht nach Wochen oder Monden als einen wirren, zerzausten Klumpen wieder aus. Der Verlust der Netze, die immer drei bis vier Familien zusammen gehören, kann diese in Einer Sturmnacht in ihrem Wohlstand auf Jahre zurückbringen. Mitunter ergeht es den Fischern noch schlechter, und der Sturm verschlägt ihre offenen Boote so weit in das Meer, dass sie ganze Tage mit Kälte und Hunger zu kämpfen haben, bevor sie oft mit erfrorenen Gliedern das Ufer wieder erreichen. Jährlich kommen in den stürmischen Monaten Fälle vor, dass Boote mit ihrer ganzen Bemannung verunglücken, und Witwen und Waisen, die auf solche Weise das Haupt und den Ernährer der Familie verloren haben, findet man in allen Stranddörfern. Auch von den jungen Burschen, die als Matrosen auf den Kauffahrern dienen, bleiben, wie man es nennt, jährlich mehrere, und oft erst nach Jahren gelangt die Nachricht von ihrem Tode in irgend einem fernen Meere in das heimatliche Haus. Dieser ungewöhnliche Abgang von kräftigen Männern macht auch, dass in den Stranddörfern das weibliche Geschlecht ungleich zahlreicher ist als das männliche, und dass auch die Bevölkerung im Allgemeinen nicht zunimmt. — Trotz dieser steten Mühseligkeiten und Gefahren in den Wintermonaten ist die Heringsfischerei nur selten ein sehr lohnendes Gewerbe. Die Heringe, die in eigenen Salzereien an der Küste verpackt und eingesalzen werden, stehen niedrig im Preise, da die besseren Sorten aus Holland und Norwegen den Wert der pommerschen Fische sehr herabdrücken. Frische, ungesalzene Heringe sind daher in den Stranddörfern mitunter so wohlfeil, dass man sechzig bis achtzig Fische um einen Silbergroschen kaufen kann. Historisch ist erwiesen, dass schon in der Mitte des zwölften Jahrhunderts der dänische König Waldemar von den Heringsfischern auf Usedom täglich den dritten Teil ihres Fanges zum Unterhalt seiner Flotte erhob. Auch die alten pommerschen Herzoge besteuerten bereits den Heringsfang, und der Bischof Otto von Bamberg, der 1128 die heidnischen Wenden dieser Inseln zum Christentum bekehrte, soll dieselben zugleich in der Kunst des Einsalzens der Heringe unterwiesen haben. Von einer Abnahme dieses Fisches ist trotz der ungeheueren Mengen, die jährlich gefangen werden, nicht das Mindeste zu verspüren. — Lange nicht so gefährlich und dabei doch einträglicher als die Heringsfischerei in den Monaten Oktober und November und dann wieder im Februar, März und April, ist der Fang der Schollen, hier „Flundern“ genannt, der im Sommer mit kleinen Handnetzen geschieht. Die Schollen sind eigentümlich geformte, breite Fische mit zartem, wohlschmeckenden Fleisch, die mit Kienholz geräuchert und bis nach Berlin und Posen auf der Eisenbahn versendet werden. Aus der Insel selbst ist ihr Preis sehr gering; für einen Silbergroschen erhält man mitunter sechs bis acht Stücke, die eine reichliche Mahlzeit für zwei Personen geben. Diese große Wohlfeilheit der Seefische macht auch, dass dieselben nebst Kartoffeln die Hauptnahrung aller ärmeren Bewohner der Stranddörfer bilden. Geräuchert, gesalzen, gedörrt, frisch in Seewasser gekocht, erscheinen Fische täglich mindestens einmal auf dem Tische. Selbst die Schweine werden hier häufig mit Seefischen gemästet, obgleich der Speck derselben einen etwas weichlichen und tranigen Nebengeschmack bekommen soll. Den Menschen muss aber diese Fischnahrung gut bekommen, denn wenige Gegenden Deutschlands werden einen so großen, wohlgewachsenen und kräftigen Menschenschlag aufzuweisen haben, wie man ihn hier fast durchgängig findet. Die jungen Männer strotzen förmlich von Gesundheit und Kraft. Fast eben so hübsch und kräftig sind die Mädchen, und man findet unter ihnen so herrlich gewachsene, wirklich plastisch ausgebildete Figuren, wie man solchen in den Salons unserer Residenzen sehr selten begegnet. Auch die Gesichtszüge, der jungen Mädchen sind oft sehr regelmäßig, ja sogar edel, wie sie auch häufig frische blaue Augen, wunderschöne weiße Zähne und reiches blondes Haar besitzen. Die harte Arbeit in Kälte und Feuchtigkeit — denn auch die Mädchen müssen beim Ausladen der Fischerboote helfen und oft viele Stunden bis an die Knie im Wasser stehen — lässt übrigens Männer wie Weiber sehr frühzeitig altern und gibt ihren Gesichtern ein hartes, scharfes Gepräge. Nur das helle, blitzende, sehr fernsichtige Auge behalten sie meist bis in das höchste Lebensalter.

 

Swinemünde, SeestegDer schönste Zug im Charakter der Bewohner der Stranddörfer ist Rechtlichkeit und Ehrliebe. Betrug oder gar Diebstahl gehört zu den größten Seltenheiten, und man findet noch viele Häuser, die an keiner Tür ein verschließbares Schloss haben. Sollen doch selbst im harten Hungerjahr 1847 aus ganz Usedom bei einer Bevölkerung von 10.000 Seelen nur vier leichte Vergehen gegen das Eigentum zur Untersuchung gekommen sein. Die untern Stände sind etwas phlegmatisch und langsam, äußerlich geradezu und derb und fern von jeglicher Kriecherei. Selbst der geringste Knecht wird seinen Gutsherrn nur mit einem flüchtigen Abziehen der Mütze und einem treuherzigen „Goden Dag“ begrüßen. Vom Hang zum Wirtshausleben, der eine so charakteristische Eigentümlichkeit von ganz Süddeutschland bildet, findet man hier fast keine Spur. Es gibt ganze große Dörfer, in denen kein einziger „Krug“ zu finden ist, und auch wo es solche gibt, muss der Wirt sich mehr von der Landwirtschaft ernähren, als von dem, was seine sparsamen Gäste bei ihm verzehren. Höchstens am Sonntag in den langen Winterabenden kommen die älteren Männer auf ein paar Stunden in der Krugstube zusammen, während „die jungen Kierls und Dierns“ einen Tanz machen. Wer, außer auf der Reise, am Werkeltag sich viel in der Krugstube sehen ließe, käme bald in den Ruf eines liederlichen Wirtes.

 

Die langen Winterabende werden von Alt und Jung, Mann und Weib gewöhnlich mit dem „Knütten“ (Stricken) der Netze verbracht. An solchen großen Netzen gibt es beständig etwas zu tun und nachzusehen, und kein Fischfang vergeht, der nicht einige Reparaturen nötig machte. Den Hanf und das Garn zu den Netzen bauen und stricken die Bewohner der Stranddörfer größtenteils selbst, und so sind die Ausgaben dafür nicht sehr bedeutend. Die jungen Mädchen aus den Nachbarhäusern besuchen sich bei diesem Netzeknütten und vertreiben sich die Zeit mit Erzählen von Geschichten oder auch mit dem Singen einförmiger Lieder. Von diesen Liedern sind manche wirklich höchst eigentümlich, und ich teile wohl bei anderer Gelegenheit einige derselben mit. Oft werden übrigens von den Mädchen — denn Männer hörten wir auf Usedom niemals singen — auch bekannte hochdeutsche Lieder im Chor von drei bis vier Stimmen gesungen.

Wenn die Männer auch nicht singen, so lieben sie es doch, mit der dampfenden Pfeife im Munde, an Winterabenden sich Sagen und Mährchen zu erzählen. Eine in den Stranddörfern der Insel Usedom allgemein verbreitete Sage ist die von der alten berühmten wendischen Stadt Vineta mit ihrer goldenen Pracht. Alle Fischer behaupten in vollem Ernste, in stillen Mondscheinnächten höre man auf dem Meere, gerade über der Stelle, wo Vineta versunken, Glockengeläute von den Türmen ihrer Kirchen. Auch soll es nicht geraten sein, die Netze auf dieser Stelle auszuwerfen; man habe dieselben stets zerrissen und verdorben und ohne einen Fisch wieder herausgezogen. Die vielen großen Klippen, mit denen der Meeresgrund an der Stelle, wo Vineta gestanden haben soll, bedeckt ist, erklären diese Erscheinung sehr leicht.

Eben diese oft seltsam geformten Klippen haben auch zu der Sage Anlass gegeben, dass man bisweilen bei ruhigem Wetter und hellem Sonnenschein die Häuser und Türme von Vineta herausschimmern sehe. Bei Gelegenheit des großartigen Molenbaues am Swinemünder Hafen hat man übrigens viele dieser Steine mit großen Zangen, die an langen Tauen befestigt waren, aus dem Meeresgrunde herausgewunden. Aber alle diese Steine waren roh und völlig unbearbeitet, und nur an einem einzigen hat man Spuren gesunden, dass er früher zum Bau verwendet gewesen. Dass übrigens an dieser Stelle, welche im Volksmunde noch die „Reede von Vineta“ heißt, in früheren Zeiten eine alte gleichnamige Stadt gestanden, ergibt sich aus mehrfachen Beobachtungen. Da die Sage von den Handelsstädten Vineta und Julien, die früher an diesen pommerschen Küsten geblüht haben sollen, durch ganz Deutschland bekannt ist, so dürften diese Beobachtungen, die ein kundiger Bewohner der Insel Usedom uns mitgeteilt hat, nicht ohne Interesse sein.

Einmal haben verschiedene geognostische Untersuchungen Sachverständiger es zur Gewissheit gemacht, dass in alten Zeiten am nordöstlichen Winkel von Usedom, wo jetzt das Dorf Damerow liegt, verschiedene Erdeinstürze in das Meer stattgefunden haben müssen. Die vielen Riffe, die sich hier weit in die See hineinziehen, haben früher zum Lande gehört und sind nur durch die Gewalt eines Sturmes vom selben abgerissen worden. Eine schmale Landzunge hat von hier wahrscheinlich bis aus die Insel Rügen gereicht, und ist vom Meere fortgerissen worden. Noch in neuester Zeit sind auf Usedom ziemlich beträchtliche Landstriche vom Meer verschlungen worden. Ein zweiter Umstand, der für das alte Vineta spricht, ist, dass auf der Feldmark des Dorfes Koserow, die hier an das Meer grenzt, schon wiederholt, sogar ganz ansehnliche Mengen von Gold- und Silbermünzen gefunden worden sind. Wie sollten diese in eine jetzt so ganz abgelegene Gegend gekommen sein, wenn sich nicht früher ein bedeutender Ort in der Nähe befunden hätte? Chroniken aus dem vierzehnten Jahrhundert erzählen übrigens schon von der Handelsstadt Vineta an dieser Küste, die von den Dänen im zehnten Jahrhundert niedergebrannt worden. Bei einem gewaltigen Sturme habe sodann das Meer die Landzunge, auf der früher die Stadt gestanden, fortgerissen. Ein Weg, der vom Dorfe Loddin nach Damerow führt, heißt bis auf die jetzige Zeit noch der Vineter Weg. Da nach verschiedenen Anzeichen früher die Peene hier in das Meer gelaufen ist und sich erst nach der Versandung ihrer alten Mündung ihre jetzige neue gebildet hat, so war diese Stelle ehemals für eine Handelsstadt sehr günstig gelegen. Überhaupt hat in alten Zeiten die ganze Ostsee eine viel größere Handelsbedeutung gehabt als jetzt, und Vineta und Julien, welches letztere auf der Insel Wollin gelegen haben soll, mögen nach damaligen Begriffen ganz ansehnliche Städte gewesen sein. Was aber von den stolzen Steinpalästen erzählt wird, die selbst goldene Dächer gehabt haben sollen, wodurch Vineta zuerst die Habsucht des dänischen Königs gereizt habe, das gehört offenbar in das Gebiet des Märchenhaften. Wenn die Stadt überhaupt größere Steinbauten gehabt hätte, so müsste man viel bedeutendere Überreste derselben gefunden haben. Vineta, als ein von den alten Wenden gebauter Ort, hat wahrscheinlich nur leichte, aus Holz oder Lehm bestehende Häuser gehabt, wie man solche in den ächt wendischen Orten noch jetzt findet. Solche konnten durch irgend ein Naturereignis so gründlich zerstört werden, dass man jetzt noch mehreren Jahrhunderten auch keine Spur mehr davon findet. Um aber in dem damaligen rohen und ärmlichen Zeiten, vollends in Norddeutschland, für eine reiche, prächtige Stadt gehalten zu werden, dazu bedurfte es freilich nicht viel.

Außer der Sage vom versunkenen Vineta mit seinen stolzen Reichtümern und goldenen Dächern leben in dem Munde der Bewohner der Stranddörfer auf Usedom noch manche andere märchenhafte Überlieferungen. Wie beim Landvolk an allen norddeutschen Seeküsten, spielen aber die Geschichten vom Teufel die vornehmste Rolle. So soll derselbe die Einführung des Christentums haben verhindern wollen und aus Zorn einen großen Stein, der noch gezeigt wird, nach der ersten christlichen Kirche bei Pudagla geschleudert haben. In allen diesen Volkssagen tritt der Teufel in den verschiedensten Gestalten auf, öfters als ein zwar schlechter, aber dabei dummer Kerl, der überlistet werden kann. Jäger, Schäfer, kurz Leute, die ihr Beruf Nachts häufig allein im Holze und auf freiem Felde weilen lässt, begegnen natürlich dem Teufel am häufigsten, der dann fast immer von ihnen angeführt und mit einer tüchtigen Tracht Prügel heimgeschickt wird. Von einem uralten Schäfer, der in einem Stranddorf noch lebt und als Vieh- wie Menschendoktor weit und breit in hohem Ansehen steht, wollten die Leute wissen, dass er den Teufel einst in seiner Schäferhütte eingesperrt und dann mit einem Stock aus Kreuzdornholz unbarmherzig durchgeprügelt habe. Der Alte selbst wusste allen Fragen über diese Geschichte schlau auszuweichen. Auch an Hexen, Gespenster und Spuck aller Art glauben die Fischer noch fest, und es gibt kein Dorf, in dessen Nähe nicht irgend ein verrufener Ort sich befände, den jeder zur Nachtzeit nur ungern betritt. Kirchhöfe, Kreuzwege, enge Talschluchten stehen am häufigsten im Ruf des „Spökens.“ Von den Talschluchten, wie sie in den hohen Hügeln der Sanddünen am Meere häufig vorkommen, weiß der Volksmund auch sonst noch verschiedenes zu erzählen. So gibt es einen „Dänengrund“ unweit Koserow, in dem die Dänen gelegen haben sollen, bevor sie Vineta abbrannten, einen „Stortebeckergrund“ zwischen Heringsdorf und Ahlbeck, in dem der historisch bekannte Seeräuber Störtebecker eine Höhle gehabt hat. Ein Teil der von demselben geraubten Schätze liegt noch in diesem Grunde vergraben, wird aber Nachts von einem großen schwarzen Hund, der Feuer speit, bewacht. Da die Bewohner der Stranddörfer als Matrosen oder Fischer einen großen Teil ihrer Lebenszeit auf dem Meere zubringen, so verlegen sie auf dasselbe den Schauplatz vieler ihrer Sagen und märchenhaften Erzählungen. So glauben alle steif und fest an den sogenannten „fliegenden Holländer,“ der mit seinem gespenstigen Schiff schon seit Jahrhunderten die Meere durchjagt, ohne Ruhe finden zu können. Manche ältere Männer wollen demselben begegnet sein, wie er an ihnen vorübergesaust, und dasselbe erzählte noch in diesem Winter ein junger Matrose, der eben von mehrjähriger Fahrt in den ostindischen Gewässern zurückgekehrt war. Eben so ernstlich glaubt man an den „Klabautermann“ oder Schiffsgeist, der in jedem Schiff haust und es vor dem Untergang schützt, so lange er darauf ist. Wird der Klabautermann durch etwas beleidigt, so verlässt er das Schiff auf der Stelle und dann ist dessen Untergang auf der nächsten Reise gewiss. Noch vor wenigen! Jahren soll in Swinemünde der Fall vorgekommen sein, dass die Matrosen behaupteten, der Klabautermann habe ein Schiff, das im Aussegeln lag, verlassen, da der Kapitän am Karfreitag — der höchste Festtag in ganz Norddeutschland — nährend der Kirche Karlen gespielt habe. Trotz des großen Lohns wollte kein pommerscher Matrose auf diesem Schiff bleiben und der Kapitän musste einige französische Seeleute heuern, die zufällig ohne Beschäftigung in Stettin waren. Der Zufall wollte, dass das Schiff schon in den ersten Wochen seiner Fahrt mit Mann und Maus verloren ging, wodurch natürlich der Glaube an den Klabautermann neu befestigt wurde. Es kommen übrigens an diesen nordischen Seeküsten so abenteuerliche Ereignisse vor, dass die Quellen des Aberglaubens hier noch natürlicher erscheinen als anderswo. Es lebt in einem Stranddorfe noch eine alte Fischerfrau, die erwiesenermaßen auf einer Eisscholle von Schweden über die ganze Ostsee getrieben worden ist. Als junges Mädchen trieb sie in der Gegend von Kalmar ein Schaf über eine zugefrorene Meeresbucht, um sich den Weg zu verkürzen. Plötzlich erhebt sich ein mächtiger Sturmwind, eine große Eisscholle, auf der sie stand, löst sich ab und treibt in die See. Mehrere Tage schwimmt so die Arme in der Ostsee umher und wird der pommerschen Küste zugetrieben; Fischer, die mit ihren Booten weit in See waren, finden endlich das bereits bewusstlose Mädchen. Sie heiratete bald darauf einen ihrer Retter, ließ sich auf Usedom häuslich nieder und hat ihr Geburtsland, Schweden, das sie auf so seltsame Weise verlassen, nie wieder betreten. Es kommt mitunter vor, dass Männer, die man längst verschollen glaubte, nach dreißig, ja vierzig Jahren ganz unerwartet in ihrem Geburtsorte wieder erscheinen. So sah ich selbst in einem Stranddorfe einen alten tauben Matrosen, der über dreißig Jahre fortgewesen war, ohne dass jemand genau weiß, wo er diese Zeit zugebracht. Seine Nachbarn behaupteten, der braune Jochen, so hieß der sehr schweigsame Alte, sei bei den Wilden gewesen, und habe dort sogar Menschenfleisch gegessen.

Außer dem Fischfang bildet der Feldbau die Hauptbeschäftigung der älteren verheirateten Männer in den Stranddörfern. Wenn auch im Innern der Insel mehrere sehr stattliche Rittergüter mit fruchtbaren Feldern, schönen Wiesen und großen Waldungen liegen, so ist der Boden am Meere selbst, der von den kleinen Einliegerfamilien bebaut wird, größtenteils nur schlechter Flugsand. Es erfordert unausgesetzte Sorgfalt und Arbeit, wenn derselbe so viele Kartoffeln, Heidekorn und Roggen tragen soll, als die Familie zum eigenen Lebensunterhalt bedarf. An einzelnen Strichen der Küste ist aber der Flugsand so dürr, dass er keinen Anbau zulässt, ja durch seine Beweglichkeit sogar angrenzende fruchtbare Feldmarken bedroht. Diese Sanddünenberge, die das Meer auswirft, werden vom Winde hin und her getrieben und verändern beständig ihre Gestalten. Von der vorsichtigen preußischen Regierung sind eigene „Dünenplanteurs“ angestellt, welche dieselben überwachen und dafür sorgen müssen, dass sie nicht andere Felder verderben. Das beste Mittel, diese Dünen zu befestigen, ist ihre Bepflanzung mit Sandroggen und Sandhafer. Diese sonst völlig nutzlosen Gewächse gedeihen selbst auf dem Flugsand, der sonst keinem Gewächse mehr Nahrung zu geben vermag. Versäumt man solche Befestigung des Dünensandes, so richtet er oft großen Schaden an, und noch gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts wurden mehrere sonst sehr fruchtbare Feldmarken so versandet, dass sie jetzt ganz öde daliegen. Auch das Meer richtet an manchen Stellen häufig arge Verwüstungen an und reißt ansehnliche Landstrecken ab. Noch in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war bei sehr heftigen Nordostwinden, welche die ganze Wassermasse der Ostsee von der schwedischen Küste her gegen diese Ufer herangetrieben, das ganze Dorf Koserow in der größten Gefahr vom Meere völlig verschlungen zu werden. Hohe künstliche Dämme von Felssteinen oder Faschinen sind an manchen Stellen zum Schutz gegen diesen Andrang des Meeres mit nicht geringen Kosten errichtet worden. Oft halten solche Dämme mehrere Jahre aus und die Bewohner freuen sich des Schutzes derselben, dann reißt auf einmal ein einziger Sturm das ganze Werk zusammen. So hat der Usedomer selbst auf dem Lande mit dem Meere zu ringen, das ihm Nahrung und Unterhalt gibt und doch auch wieder sein gefährlichster Feind ist. Aber eben dieser stete Kampf mit dem wilden Elemente gibt den Küstenbewohnern so etwas Festes und Entschiedenes in ihrem ganzen Sein und Wesen, macht sie kräftig an Körper und gesund an Geist. Um wie viel glücklicher und beneidenswerter ist nicht so ein Seefischer in seinem einsamen Haus am Strande der brausenden Ostsee, als der Fabrikarbeiter in so vielen Binnenländern Deutschlands, oder als der hungernde Proletarier im glänzenden Berlin! Es kommt daher auch selten vor, dass so ein Fischer von der Seeküste sich im Innern des Landes ansiedelt, selbst wenn ihm die besten Aussichten geboten werden. Auch die jungen Männer von hier, die ihre Militärpflicht in den Garderegimentern erfüllen, in die man sie ihrer großen, starken Gestalten wegen größtenteils nimmt, verlassen die Hauptstadt in derselben Stunde, in der ihre Dienstzeit abgelaufen ist, Alle aber sind dennoch gute Preußen und das Bildnis des alten Fritz mit seinem Krückstock findet man fast in jeder Fischerhütte.

Mit dem wohltuenden Gefühl, eine recht gesunde, kernhafte und mit ihren bescheidenen Verhältnissen zufriedene Bevölkerung kennen gelernt zu haben, verließ ich nach achttägigem Aufenthalt die Insel Usedom. Ein rascher Eisschlitten brachte mich wieder nach Stettin und von dort die Eisenbahn in wenigen Stunden nach Berlin. Welch ein Kontrast, am einen Abend trauliches Geplauder in der niedern Wohnstube einer Fischerfamilie, Tags darauf die glänzende Vorstellung eines Feenballets in den prächtigen Räumen des Berliner Opernhauses!

Aus: Morgenblatt für gebildete Leser, Band 48, 1854

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