Abschnitt. 1 - Der folgende Morgen führte, ...

Der folgende Morgen führte, bei wieder etwas hellerem Himmel, die Reisenden aus der Grossherzoglichen Residenz der uralten Hauptstadt des Thüringerlandes zu. Otto zeigte den Freunden zur Linken in friedlicher Niederung die Wallendorfer Mühle, die einst Schauplatz einer gar romantischen Liebe des Grafen Wilhelm von Orlamünde zur schöuen Meta, der Müllerstochter, war, und zur Rechten den 1459 Fuss hohen Ettersberg mit dem Jagdschlösschen Ettersburg, welcher bei gutem Wetter eine ausgedehnte Fernsicht gewährt, und der Umgegend als Wetterverkündiger, wie überall hohe Einzelberge, dienen muss. Er hatte bereits den Hut gelüftet; die Wolken, die seine Stirne umlagert hielten, verzogen sich, und so prophezeihte er den Reisenden günstig. Die Heerstrasse war äusserst belebt; Landleute in reinlicher Tracht, meist Mädchen und Frauen, mit Körben aller Art auf den Rücken, eilten dem Wochenmarkt in der Residenz zu, um die Erzeugnisse ihres Fleisses und ihrer Feldwirthschaft zu verwerthen, aber auch Wagen voll Gemüse und sonstige Victualien flogen, von starken Ackerpferden gezogen, dem Auge rasch vorüber; darauf sassen oft noch ganze Gesellschaften gemischten Geschlechts, fröhlich durch einander plaudernd in allen Variationen des hier ziemlich breiten und singenden thüringischen Dialektes.

„Wir haben auf unsrer Reise,“ nahm Lenz das Wort: „viel des Schönen gesehen, das Natur oder Kunst dem Auge gefällig darboten, aber vom eigentlichen Leben des Volkes, dessen Brauch, Sitte und Wesen, haben wir nur wenig erblickt; wie kommt das?“


„Das hat einen sehr natürlichen Grund, und kann für mich kein Vorwurf sein,“ erwiederte Otto. „Um Studien jener Art zu machen, bedarf es eines längern Verweilens in Städten und Dörfern, als eure Zeit und Eile vergönnt. Vom Vogelschiessen, in Thüringen allbeliebt, habt ihr in Ilmenau eine Vorstellung erhalten: Weimar, Gotha, Erfurt, Rudolstadt halten neben jenem die berühmtesten, besuchtesten; vielleicht führt unser Reiseglück uns auch in ein Kirmsedorf; diese beiden noch in aller Aechtheit erhaltenen und vom Volke mit Vorliebe festgehaltenen Volksvergnügungen sind besonders geeignet, Anschauungen des thüringischen Volkslebens zu geben. Um festliche Gebräuche von Einzelorten wahrzunehmen, die oft originell genug sind, muss man zu günstiger Zeit und Stunde anwesend sein, es giebt deren manche, und ich will euch, den ziemlich einförmigen Weg zu kürzen, einige nennen. Naumburg hat sein Kirschenfest, von dem ich euch erzählte, Mühlhausen sein Brunnenfest, wo eine dankbare Erinnerung die Jugend zur Freude leitet, an der alles Volk Theil nimmt. Das Dorf Günstedt, im Königlich Preussischen Amte Weissensee, feiert ein Fest, der Ablass oder die Spende genannt, auf einer unabsehbaren Wiese, zu welchem Tausende strömen; Querfurt hält auf seiner berühmten Eselswiese einen berühmten Jahrmarkt, Erfurt, dem wir uns nahen, hat noch seinen grünen Montag mit Waldeslust und Waldesjubel, seine Peter- und Hospitalkirchweihen; in frühern Zeiten zog sein Frohnleichnamsfest die Bevölkerung der ganzen protestantischen Umgegend zur Theilnahme herbei, und diese vergass bei dessen Glanz, dass es ein katholisches Kirchenfest sei. Eine Menge früherer Feste wurden eingestellt, oder beschränkt, so in vielen Städten der beliebte Gregoriustag, in Erfurt der Walperzug nach der Wagdweide, eine Erinnerungswallfahrt an einen errungenen Sieg der Städter über die Burggrafen von Kirchberg. Im uneigentlichen Sinn kann man auch Volksfeste die festlichen Tage von Himmelfahrt, Pfingsten, Trinitatis und Johanni nennen, wo das Waldvolk den Berggipfeln zuströmt, und sich in den kräuterreichen Waldungen verbreitet, um hochlodernde Feuer die Nächte durchschwärmt, sich wacker zutrinkt, und zum Theil auch sich wacker prügelt. Orgien dieser Art mögen wohl noch späte Nachklänge vorzeitlichen heidnischen Hain- und Bergkults sein. Namentlich am hochgehaltnen Dreifaltigkeitstage muss jede Arbeit ruhen, muss spazieren gegangen werden; an diesem Tage vornehmlich blüht auch nach dem Volksglauben die Wunderblume an gesegneten Stellen in grüner Waldesnacht.“ –

Unter solchen und ähnlichen Mittheilungen kamen die rasch des Wegs Fahrenden bis zu dem Punkt, von welchem aus Erfurt in seiner ganzen Grösse am Fusse nicht hoher Berge mit vielen Thürmen und Thürmchen in der höchst fruchtbaren, weit zu überschauenden, mit friedlichen Dörfern geschmückten Thalebene der Gera liegt. Ueber die Höhen des Steigerwaldes blickte neugierig der ferne Inselsberg herein, und nicht allzufern zur Linken ragten über Duftschleiern die Gleichischen Bergschlösser, herüberschauend nach den stattlichen Vesten der Neuzeit: Petersberg und Cyriaksburg. Sanfte, vielfach verzweigte, grösstentheils aus Kalkstein bestehende Höhenzüge und Plateau’s, zwischen denen kleine Flüsschen und Bäche sich winden, bilden, mit Nadelholz- und Laubwaldungen untermischt, den Charakter dieser Gegend, in einem Umkreis mehrer Meilen, und in ihr, der lachenden, freundlichen, ergiebigen, in Thüringens Mitte günstig gelegenen, wurde in der Urzeit dieses Landes die grösste und beste Stadt desselben gegründet. Otto nahm von der Gegend Veranlassung, dieser Gründung zu gedenken.

„Das Erfurter Gebiet,“ sprach er: „ist mir immer merkwürdig, weil in ihm die vielleicht älteste deutsche Sage haften blieb, die von einer Zeit, in welcher noch alles Flachland unter Wasser stand, wo mithin noch nicht einmal von den undurchdringlichen Wäldern und Wildnissen des alten Germaniens die Rede war. Dieser Sage nach verliefen sich aber die Gewässer, als die Riesen den Felsendamm an der Schmücke, unter der nachherigen Sachsenburg, jenem Unstrutpass, den ich euch zeigte, durchgestochen. Von der Gründung der Stadt weiss nur die Sage zu erzählen, die bald einen Müller Erf an einer Gerefurt (Erefurt), bald den mythischen König Merovig als erste Erbauer nennt. Das alte Erphesford tritt jedenfalls schon früh fertig in die Geschichte; so fand es Bonifacius, und hielt es eines daselbst zu begründenden Bisthums werth; Klöster erhoben, Ansiedler mehrten sich; Karl der Grosse machte Erfurt zu einer Stapelstadt; die spätem Kaiser hielten hier Reichs- und Kirchenversammlungen, und verliehen nach und nach Mauern, städtische Ordnungen, Stiftungen, Freiheiten, während das Bisthum wieder erlosch und die Stadt unter den Krummstab von Mainz kam. Die thüringischen Landgrafen haben sich nie dauernder Herrschaft über die Stadt erfreut, deren erwachender Bürgertrotz sich den Reichsstädten gleich achtete. Hader, Kampf und Fehde nach allen Richtungen hin ziehen sich durch die ganze Geschichte Erfurts wie ein blutiger Faden, und nichts, was in der Frühzeit allgemeines Interesse erregen konnte, fand Erfurt ohne Theilnahme. Anhängerin des Grafen Adolph von Nassau, Erzbischofs von Mainz, traf die Stadt der päpstliche Bannstrahl und die Reichsacht; sie trug beides standhaft, und Adolphs Dankbarkeit, half ihre Universität gründen, die dazu beitrug, ihr die höchste mittelalterliche Städteblüthe zu verschaffen; auch dem Bunde der deutschen Hansa schloss Erfurt sich an.“

„Indessen mitten im gedeihlichen Wachsthum traf die Stadt hemmend ein furchtbarer Schicksalsschlag. Ein schändlicher Mönch steckte sie 1472 in Brand, wodurch fast die Hälfte ihrer Häuser in Asche sank. Später untergruben die wachsende Macht der benachbarten Sachsenherzoge, Leipzigs aufblühender, kosmopolitische Bedeutsamkeit gewinnender Handel, und nachlässige Verwaltung des städtischen Vermögens Erfurts Glück; letztere führte endlich zu offenbarem Aufruhr der Bürgerschaft gegen den Rath und zu Händeln, welche zu der städtischen Schuldenlast von 500,000 Gulden unermessliche neue Kosten fügten, eine grosse Anzahl Patrizierfamilien theils zur Flucht, theils zur Auswanderung zwangen, und zuletzt der Stadt die Reichsacht zuzogen. Mangel an Gemeingeist zerrüttete unheilbar Erfurts frühern Flor, doch hob es sich bald darauf in geistiger Beziehung um so mehr, durch Lehrer seiner Hochschule, wie Eoban Hesse, Johann Lange, Justus Jonas, Draconites, Camerarius, und Andere. Aber nicht lange, so brachen in Folge der Reformation so heftige Streitigkeiten aus, dass Lehrer und Schüler sich wegwandten. Unaufhörlich wechselnd sah Erfurt fortan Zeiten des Friedens, wie des Krieges über sich verhängt, es sah in seinen Mauern und in seinem Gebiete Gustav Adolph, Tilly und Banner, später Friedrich den Grossen; es lehrte dort Wieland, es glänzte in ihm der gefeierte, wissenschaftliche, kunstsinnige Coadjutor Dalberg, der nachherige Fürst Primas. Das Loos der Völker unterwarf Erfurt und sein Gebiet dem Scepter Preussens 1802, doch nur auf kurze Zeit, in der die Universität erlosch – später wogten Heere über diese jetzt so friedlichen Fluren, Frankreichs Siegesfahnen wehten von den Citadellen – Contributionen – Explosionen – Brand – Seuchen – Monarchencongresse – Napoleon mehr als einmal hier anwesend – bis endlich eine unermesslich schreckliche Zeit für Erfurt mit der des neuen Titanensturzes zusammenfiel. Doch auch dieses fast untragbare Weh ging vorüber, Erfurt sah und sieht wieder eine bessere Aera, und hat sich nach allem erlittenen Ungemach wieder zu einer Stadt von über 3000 Häusern und 21,000 Einwohnern, ohne das Militär, erhoben.“ –

Dumpf rollte über die Zugbrücke des Wallgrabens und durch das starkgemauerte, einen dunkeln Gang bildende Schmiedstädter Thor der Wagen, der die reisenden Freunde in das zum Theil noch sehr alterthümliche, merkwürdige Erfurt trug, und durch einige Strassen mit ziemlich unansehnlichen Häusern auf den schönen stattlichen Anger zu dem belebten, wie beliebten Gasthaus zum Kaiser brachte. Während die Reisenden bei einem Gabelfrühstück sich restaurirten, umgab sie ein bewegtes Leben, Posten kamen an und fuhren ab, Passagiere aller Art erschienen, die Kellner flogen flink umher. Aus dem gemüthlichen Stillleben der Reise sah man sich plötzlich in das rege Gewühl einer Grossstadt versetzt, und ergötzte sich an diesem Wechsel geraume Zeit, bis zu einer Promenade durch die Stadt aufgebrochen wurde.

„Erfurt bietet so viel des Sehenswerthen dar,“ sprach Otto im Gehen, indem er die Freunde an der einfachen alten Kaufmannskirche vorbei, in die Johannesstrasse führte: „dass ein wochenlanges Verweilen kaum hinreichen würde, die Schaulust zu begrenzen, zumal wenn dieselbe Freude am Alterthümlichen hätte. Ist auch von den Ueberresten des Mittelalters bereits unendlich Vieles zerstört, durch Feuer und Neubauten verschwunden, so ist doch noch gar Manches übrig an Bildwerk, Inschriften und Zierrathcn, der schönen Kirchen nicht zu gedenken.“ Und so fanden es auch die Freunde, sie fanden noch die Steinbilder an den ehemaligen Patrizierhäusern, nach denen diese Häuser zum Theil bis heute den Namen führen; oft Gebilde der Kunst, oft auch barocke Zeugnisse vom Ungeschmack einer spätern Zeit, immer aber nicht uninteressant. Die Chroniken der alten deutschen Städte grössern Umfanges und geschichtlicher Bedeutsamkeit sind meist mit Lapidarbilderschrift an den Häusern zu lesen. – In der Futtergasse, welche auf den Wenigenmarkt führt, bezeichnete Otto das Theater, Privateigenthum, und nur von Zeit zu Zeit durch gute ambulante Truppen belebt. Auf den Wenigenmarkt angelangt, trat ein alterthümliches gethürmtes Thor entgegen, die Aegidiikirche mit einem gewölbten Durchgang, der zur Krämerbrücke leitet. Diese beschreitend, wurden zur Rechten und Linken freundliche Häuser erblickt, deren untere Stocke Kaufladen an Kaufladen bilden.

„Ihr seht hier eine Eigentümlichkeit Erfurts,“ sprach Otto: „welche ihr nicht leicht in einer zweiten deutschen Stadt also finden möchtet; ihr wandelt nämlich, ohne es zu gewahren, auf einer steinernen Bogenbrücke. So waren, wie man auf alten Bildern findet, die Brücken von Paris einst mit Häusern dicht besetzt. Die hiesige Krämerbrücke, deren Namen sich von selbst erklärt, wurde bereits in dieser Gestalt 1321 erbaut.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch Thüringen