Abschnitt. 2 - Eine Promenade durch Weimar und seine nahen Umgebungen ...

Eine Promenade durch Weimar und seine nahen Umgebungen bietet da und dort theils dem Auge Wohlgefälliges, theils der Erinnerung Heiliges. Otto schlug den Weg über den Markt ein, führte bei dem alterthümlichen Rathhause, an welchem, wie ein Wahrzeichen, eine alte Sturmhaube aus eiserner Zeit hing, vorüber, und geleitete durch einige Strassen auf den Töpfermarkt, wo das Gymnasialgebäude nahe bei der mit einem grossen und einem kleinen Thurme versehenen, einfach erbauten Stadtkirche steht, zu Letzterer. Er berief den Küster, um das bekannte grosse Kranachische Gemälde und die sonstigen Merkwürdigkeiten des Kircheninnern zu besehen.

„Lukas Kranach,“ nahm Otto das Wort, „starb in Weimar; ein treuer Anhänger und Freund des Churfürsten Friedrich, setzte er ihm und dessen drei Söhnen hier ein würdiges Denkmal in einem Bildschrank hinter dem Altar. Man erblickte auf den jetzt abgesonderten Flügeln des Schrankes eine Taufe Christi und eine Himmelfahrt, den Churfürsten und Sybilla, seine Gemahlin, in Lebensgrösse, zur Linken die drei Söhne, in der Mitte aber ein schönes allegorisches Gemälde.“ Der grüne Vorhang rollte vor der über 11 Fuss hohen, 10 Fuss breiten Bildtafel empor. In der Mitte ist Christus am Kreuz dargestellt, zur Rechten steht der Auferstandene siegreich über Tod und Teufel. Zur Linken wird Johannes der Täufer stehend erblickt, vor ihm steht Lukas Kranach selbst, ein Blutstrahl aus der Seite des Gekreuzigten springt auf des Künstlers Haupt; neben dem Künstler, in ganz sichtbarer Gestalt, steht Dr. Luther mit aufgeschlagenem Bibelbuche; zu des Kreuzes Füssen das Agnus Dei mit der Oriflamme. Am Kreuzesstamm ist die Jahrzahl 1555 und des Meisters Monogramm angebracht. Den Hintergrund füllen kleinere Darstellungen aus der heiligen Geschichte.


„Ein herrliches Bild!“ lobte Wagner, „ohnstreitig der grössten eines von dem fleissigen und berühmten Künstler, wohlerhalten in seiner Schönheit und Farbenfrische, und durch die gewiss äusserst treuen Portraits doppelt merkwürdig und sehenswerth.“

Man wandte sich der Betrachtung der übrigen Bildnisse und mehrer Kenotaphien zu, weilte mit tiefem Ernst in der Fürstengruft, und verliess dann befriedigt die helle und geräumige Kirche, um sich nach der zu St. Jacob zu begeben, welche auf dem Kirchhof steht. Dort erinnern theils einfache, theils prangende Denkmäler an die glänzende Vergangenheit des gelehrten Weimar, und nicht ohne ein tiefempfundenes Schmerzgefühl über die Vergänglichkeit alles Irdischen wurden da und dort die gefeierten Namen gelesen, die mit Sternenschrift geschrieben im Tempel der Unsterblichkeit glänzen.

Zur trüben Stimmung passte, obwohl unwillkommen, der trübe Himmel, welcher sich im allmälig beginnenden feinen Regen ergoss, so dass die Schirme entfaltet werden mussten, wodurch der Spaziergang über die Carlsstrasse und Esplanade, an dem äusserlich nicht glänzenden, im Innern aber wohl eingerichteten Theater und an Schillers ehemaligem Wohnhause vorüber, beschleunigt werden musste. Wo die Esplanade am Frauenthor endet, bog Otto wieder zur Linken zum Markt hinab ein, doch wurde zuvor, verweilend, auch das Göthesche Haus mit Antheil betrachtet. – Es war die geeignete Stunde gekommen, die Grossherzogl. öffentliche Bibliothek mit ihren reichen Schätzen nebst den andern allbekannten Anstalten Weimars für Wissenschaft und Kunst zu besehen, und das innere Heiligthum des in einem eigenthümlichen Styl erbauten sogenannten französischen Schlösschens ward betreten. – Diese, über 140,000 Bände starke Bibliothek fand, wie die übrigen nicht unbedeutenden Büchersammlungen der Sachsenherzoge, ihren ersten Anfang in einer fürstlichen Handbibliothek. Theils durch Ankäufe, theils durch Ererbungen und Vermächtnisse glücklich vermehrt, drohender Feuersgefahr bei dem Weimarischen Schlossbrand im Jahr 1704 nicht minder glücklich entrissen, jetzt in zweckmässigen und heitern Räumen aufgestellt, bildet sie einen der grössten Schätze Weimars. Auch das bedeutende numismatische Kabinet fand in ihren Räumen seine Stelle. Alle diese Anstalten: Bibliothek, Münzkabinet, Kunstkabinet, Gemälde- und Kupferstichsammlung und die freie Kunstschule, standen unter Göthe’s unmittelbarer Leitung und Oberaufsicht, und gewannen in jeder Beziehung durch dessen wohldurchdachte, allumfassend verständige Anordnungen ausserordentlich. –

Besonders anziehend erscheint für den Nichtgelehrten, flüchtig Besuchenden, nur oberflächlich Beschauenden in der Bibliothek zu Weimar die reichhaltige Sammlung der Stammbücher, welche in dem Katalogzimmer aufgestellt ist, wo auch eine freistehende Treppe von besonders künstlichem Bau der Betrachtung sich werth zeigt. Bildnisse und Büsten zieren überdies die lichtvollen Räume, darunter Napoleons Büste von David, Schiller von Dannecker und Andre besonders ausgezeichnet zu nennen sind. Zum Schmuck wie zur Erinnerung aufgehängte Bildnisse lassen für eben bezeichnete Personen das Bibliotheklokal nächst den Bücherschätzen in anziehender Mannichfaltigkeit erscheinen.
Wenn auch der Himmel den Freunden erwünschte Promenaden in die reizenden Anlagen des Sternes und Parkes gewaltsam kürzte, so wurde doch das sich schön darstellende Aeussere des Grossherzogl. Residenzschlosses besehen, und dieses von einer Seite gezeichnet, wo es sich recht malerisch ausnimmt; nicht minder wurde das römische Haus und die griechische Kirche im Park nicht unbetrachtet gelassen, und dankbar an Carl August, den sinnigen Schöpfer dieser schönen, einladenden Anlagen und Gebäude gedacht. Eine Fahrt nach den berühmten, die Prachtfülle tropischer Pflanzen einschliessenden Gewächshäusern des nahen fürstlichen Lustschlosses Belvedere unterblieb, weil immer mehr und mehr der Himmel seine Schleusen öffnete.

„Es ist mit Antheil wahrzunehmen,“ sprach Lenz, als die Freunde in ihrer Wohnung wieder angelangt waren: „wie in Thüringen, dem Herzen Deutschlands, neben anderm Trefflichen, auch nicht geringe Bücherschätze angehäuft sich finden.“ Darauf erwiederte Otto: „Wohl hast du Recht, und es ist nicht uninteressant, dieser literarischen Gesammtmasse einen Ueberblick zu widmen. Freilich sind die summarischen Angaben sehr abweichend, oft zu hoch, oft zu gering; doch lässt sich mit ziemlicher Gewissheit den verschiedenen Bibliotheken in Thüringen folgende Bändezahl vindiciren:

Gotha 150.000, Herzogl. Bibliothek.
Weimar 140.000, Grossherzogl. Bibliothek.
Jena 60.000, Universitätsbibliothek.
Erfurt 40.000, Königl. Bibliothek, ehemals Universitätsbibliothek.
Meiningen 30.000, Herzogl. Bibliothek.
Rudolstadt 30.000, Fürstl. Bibliothek.
Coburg 26.000, Herzogl. Bibliothek.

Rechnet man nun noch die fast in allen Hauptstädten vorhandnen, meist beträchtlichen Gymnasial- und Rathsbibliotheken u.dgl. hinzu, welche doch auch mehr oder minder der Benutzung des gelehrten Publikums sich öffnen, so kann man eine 500+000 Bände erreichende Anzahl annehmen, welche freilich den spirituellen Werth so wenig ausmacht, als sie überall die zweckgemässe Benutzung bedingt oder zur Folge hat.“ –

Die Freunde verbrachten den Rest des Tages in heiter socialen Kreisen und bereiteten sich dann zur Weiterreise vor. –

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch Thüringen