Abschnitt. 2 - Bevor wir, den Haupt-Sehenswürdigkeiten Erfurts uns zuwenden...

„Bevor wir, den Haupt-Sehenswürdigkeiten Erfurts uns zuwendend,“ nahm Otto wieder das Wort, als die volkbelebte Brücke überschritten war: „dem Friedrich-Wilhelms-Platze nahen, ersuche ich euch, mir auf einem kleinen Umwege rechts ab in die Michelsstrasse zu folgen; in dieser, einst von den vornehmsten Patrizierfamilien bewohnten Strasse erblickt ihr neben manchem noch vorhandnen Hause, das sich durch Wappen, Bildwerk oder Inschrift vor andern auszeichnet, noch sonstige Gebäude von geschichtlicher Bedeutung für diese Stadt. So lässt selbst die Sage in diesem ersten Eckhause zur Linken einen Templerhof gewesen sein, wiewohl sich in der Geschichte dafür keine Bestätigung findet. Dort gegenüber der mit Epitaphien äusserlich geschmückten Michaelskirche steht noch wohlerhalten mit Inschriften und gothischen Fensterverzierungen späterer Zeit grau und steinern das ehemalige Universitätsgebäude, in ein städtisches Arbeitshaus umgewandelt. Nahe dabei in dem ehemaligen Kloster Pfortaischen Hofe befindet sich das Königliche Inquisitoriat. Thürme verschiedener nicht mehr vorhandener Kirchen werden in dieser Gegend erblickt, und wenn wir jetzt uns links in die schmale Pergamentergasse wenden, erinnert, aus winkelvoller Seitengasse vortretend, des Turnierhauses alterthümlicher Bau an die kampfliebende Belustigung des Mittelalters, und an Albrecht, den unartigen Landgrafen, der seine letzten Jahre darin verlebte.“

Jetzt aus der Pergamenter-Gasse getreten, lag vor den Augen der staunenden Fremden der grosse, zur Rechten mit den anmuthigsten Gartenanlagen und Baumreihen geschmückte Friedrich-Wilhelms-Platz, mit seinen langgedehnten Häuserreihen, seiner Fontaine, seinem Obelisk, einem Denkmal der Erinnerung an den Kurfürsten Friedrich Karl Joseph, und dem ehrwürdigen Dom, neben dessen hohem und stumpfem Thurmkegel die schlanken Spitzen der Thürme des Severistifts in den blauen Himmel aufragen. Bald auch wurden über terrassenförmig aufgeführten Mauern und grünen Erdwällen die Werke und Gebäude des Petersberges erblickt, und den Platz erfüllten in glänzender Parade mehre Bataillone des 31. und 32. der Königlichen Infanterie-Regimenter sammt ihrem Stabe, deren vortreffliche Musik zugleich die Reisenden mit langentbehrtem Genuss erfreute. Ungemein viel trägt zur Belebung Erfurts das Militär bei, indem ausser dem erwähnten noch vier Fusscompagnien der dritten Artilleriebrigade, drei Garnison-Compagnien, ein Commando Pionniere und drei Bataillone Landwehr-Infanterie, im Ganzen aber 3000 Mann in den beiden Festungen und in der Stadt vertheilt sind. Als der schönen Musik eine Zeitlang wohlgefällig zugehört war, führte Otto seine Freunde die breiten Stufen zum Dom empor, welche von ihrem lateinischen Namen Gradus früher dem ganzen, in altern Zeiten durch viele Häuser weit mehr eingeengten Platze die Benennung: der Graden, verschafften. Schon oben von der Cavate, der breiten, geplatteten Balustrade, welche die vordere Seite des Domes ganz umzieht, gewährte sich eine reizvolle Aussicht auf den grossen Platz, die nahen Strassen und ansehnlichen Gebäude. Aber zum herrlichen Panorama entfaltet, lag vom Domthurm überblickt, das Häusermeer der Stadt mit den ragenden Felszacken ihrer immer noch schwer zu zählenden Thürme, mitten in dem grünenden Gefilde, von Bergen umfangen, und wie ein Stern nach allen Richtungen hin die weiss in die Ferne leuchtenden Strassen ausstrahlend. Rundum erstrecken sich, freundlicher wie ehedem graue Mauern und trotzige Thürme, die gediegenen Werke der Fortification, und schliessen in ihren weiten grünen Ring schirmend und sichernd die Stadt, die vielen und weitläuftigen Vorstädte, zahlreiche Gärten, Wiesen und Vergnügungsorte mit ein.


Nach solchem mannichfachen, von ganz hell gewordenem Himmel begünstigten Aussichtgenüss wurde nun das Innere des Domes besehen, doch vorher auch die berühmte grosse Glocke, Maria Gloriosa, nicht unbetrachtet gelassen, da einmal der Thurm erstiegen war. Mit dem 11 Ctr. schweren Klöppel wiegt dieselbe 286 Ctr., und wird bei hohen Festen angeschlagen. Sie zu läuten wagt man nicht mehr; ihr mächtiger Umschwung würde den Thurm allzusehr erschüttern, dessen Gemäuer durch einen Brand in Folge eines Wetterschlages litt, der ihn des Daches und die Kirche noch zweier Nebenthürme, wie mehrer Glocken im Jahr 1717 beraubte.

Das Dom-Innere wirkt überraschend auf den Beschauer. So Vieles erscheint nach den Verwüstungen, die es in den unglücklichen letzten Kriegsjahren erlitt, novantik, so Vieles restaurirt, Manches davon im guten und besten Geschmack, wie die Sculpturen der Seitenaltäre, die Kanzel, das Orgelchor, Andres im schlechten und verwerflichen, wie die unhaltbare theilweise Firnissmalerei der Fenster, eine trübselige Vertreterin der glühenden Farbenpracht, die sie ersetzen sollte. Dazwischen tritt wieder Hochalterthümliches in unentstellter Einfachheit hervor. Ein schönes Lukas Kranachisches Gemälde ziert wohlerhalten den einen der acht Pfeiler, und zog sogleich Wagners Kennerblick auf sich; nicht minder lockte an der Mauer das riesengrosse St. Christopsbild, dann ein uralter Gobelin und der merkwürdige Grabstein jenes durch seine sagenhafte Doppelehe so berühmten Grafen von Gleichen, zwischen seinen beiden Frauen dargestellt, zur nähern Betrachtung hin. Vom ehemaligen Kloster auf dem Petersberge, wo des Grafen Geschlecht sein Erbbegräbniss hatte, ward dieser Stein herab in den Dom gerettet, und selbst die Gebeine des Gatten will man neben seinen Weibern aufgefunden haben, und zeigt sie in einer bretternen Kiste als langes Gerippe hinter dem Hochaltar des hohen Chores.
Wenn das Domschiff, der Kreuzesform entbehrend, auch in seinem Totalanblicke die architektonische Schönheit vermissen lässt, die andre Gebäude dieser Art in der Regel auszuzeichnen pflegt, und dafür nur anziehende Einzelheiten zeigt, so wirkt der hohe Chor um so imposanter, mächtiger. Seine durchaus mit Glasmalerei gezierten Fenster tragen, mit Ausnahme weniger Ausbesserung, noch den Stempel der Aechtheit, sein hohes pfeilerloses Gewölbe verdient alle Bewunderung, nicht minder die schöne, mit Geist restaurirte Schnitzerei an den Chorstühlen, wie ein acht gothisch gearbeiteter Kronleuchter eines noch lebenden Künstlers. Mitten im Chor steht eine metallene männliche Statue, von alter Arbeit, ein büssender Kerzenträger, der Wolfram genannt, nach Angabe der Schliesserin ein Bild aus grauer Heidenzeit, nach richtigerer Lokalsage aber Stiftung eines zu quälender Kirchenbusse verdammten Patriciers, der das Bild zum Gedächtniss seiner Busse gab und Mönch wurde.

Vom Dom aus wandten sich die Schaulustigen zur Kirche des nahen St. Severi-Stifts, in welcher vornehmlich ein gothischer Taufstein aus dem fünfzehnten Jahrhundert, in hoch aufstrebenden, kunstvollsten Laubwerkverschlingungen durchbrochen gearbeitet, sehenswerth ist. Ein Wunder, dass dieses Kunstwerk alle drangvollen, den beiden Nachbartempeln oft äusserst bedrohlichen Zeiten glücklich überstand! Noch während der Blokade 1813 wurde der Dom und dieses Stift mit seiner schönen Kirche in den Bereich der Feste Petersberg gezogen, und hatten gänzliche Zerstörung zu gewärtigen.

Zur ohnedies erschwerten Besichtigung der nahen Festung Petersberg keine Lust bezeigend, wandten sich die Freunde wieder abwärts nach der Stadt, da bereits die Mittagsstunde herbei gekommen, und wandelten durch die Marktstrasse an der Allerheiligenkirche, deren äussere Zierde, gleich der des Domes, manche Zertrümmerung erlitt, vorüber, um zum Fischmarkt und Rathhause zu gelangen. Mit Bedauern aber musste Otto den ältern Theil desselben ganz abgetragen erblicken, welcher eine Fülle von Erinnerungen aus der Stadtgeschichte in seinem Innern bewahrt hatte, und konnte sich nicht enthalten, seinen Begleitern in Bezug auf diese Umwandlung aus der Ballade eines jungen Dichters, der sich Ludwig von Erfurt nennt, folgende Strophen vorzusagen.

„Was für ein Trümmerhaufen erhebt beim Roland sich?
Das ist das alte Rathbaus, das keinem Sturme wich;
Das Roland gegenüber Jahrhunderte gethront,
Das haben seine Söhne nicht länger mehr verschont.
Die edlen Wappenschilder, die Fahnen, die im Saal,
Im hochgewölbten prangten, man nimmt sie ab zumal.
Die alte Armbrust selber, die Sechse nur gespannt,
Die weit ins Feld geschossen, verlieret ihren Stand.
Die Hallen weichen mächtig zerstörender Gewalt,
Die Decken stürzen nieder, dass weithin es erschallt.
Voll Wehmuth sieht’s der Knabe, der einst im Saal gespielt,
Dort seiner Väter Nähe wie Geisterhauch gefühlt.

„Doch, wozu,“ spottete der Sprecher hinterher: „wozu die Threnodien auf das Alte, Vergangene? Lasst sie nicht laut werden, ihr jungen vaterländischen Dichter, sonst verdächtigen Jene euch gleich des Stillstandes und der Nichttheilnahme an den Interessen der Gegenwart, die gleich der Drachenzähnesaat des Kadmus, nur Hass und Zwietracht im Busen tragen, aber weder eine Erinnerung haben, noch eine Geschichte kennen wollen. Uns lasst friedsam am Rolandbilde vorbei durch die neue und Schlösser-Strasse zum Kaiser wandeln – zu Mittag zu speisen.“ –

Der Nachmittag wurde von den Freunden theils mit Besichtigung so manches Sehenswerthen (Alles zu schauen, wurde eben so ermüdend, als überflüssig befunden), theils an Vergnügungsorten zugebracht, deren der Hirschbrühl mehre enthält, darunter Vogels Garten, wo ein Conzert, von der Militärmusik gegeben, Statt fand, das die Freuden der Geselligkeit dort auf eine edle Weise oft erhöht.

Bei einer spätem Ueberwandlung des Friedrich-Wilhelms-Platzes deutete Otto seinen Begleitern noch an, dass der Petersberg von der Sage als der Ort bezeichnet werde, auf welchem die erste Kapelle Erfurts gestanden. Dabei wurden jene auch auf ein den Platz zierendes Privathaus aufmerksam gemacht, die hohe Lilie, früher ein Gasthaus, das durch die Einkehr berühmter Männer, wie Dr. Luther, Landgraf Philipp von Hessen, Kurfürst Moritz von Sachsen, König Gustav Adolph von Schweden u. A., selbst geschichtliche Berühmtheit erlangte.

Unter den mancherlei öffentlichen Sehenswürdigkeiten und Privatsammlungen, zu welchen letztern der Zutritt durch Befreundete erwirkt, und die mit freundlichster Bereitwilligkeit den Fremden eröffnet wurden, verdient besondrer Erwähnung das evangelische Waisenhaus, im ehemaligen Augustinerkloster, welches eine recht schätzbare Naturalien- und Kunstsammlung enthält, einen gut gemalten, bekannten Todtentanz aus späterer Zeit, vielleicht der jüngste in der Reihe dieser, dem frühen Mittelalter entstammten Darstellungen, und worin endlich Luthers Zelle, die er als Mönch bewohnt, mit ernster Erinnerung betreten ward. Sie ist mit Bibelsprüchen bemalt, wodurch ihre frühere Einfachheit in etwas beeinträchtigt wurde, sonst ruft noch manches Buch, Geräth und Autographen das Andenken an ihren einstigen Bewohner lebendig hervor. – Herr Kaufmann Bellermann zeigte den Freunden das von seinem Vater theils gesammelte, theils selbst verfertigte Kunstkabinet, enthaltend in antiquarischer Mannichfaltigkeit gelungene Werke der Phelloplastik, wie der Malerei, herrliche Panoramen, eine künstliche Sammlung ausländischer Schmetterlinge und Käfer, mit täuschender Wahrheit nachgebildet, und noch so manches Interessante aus Heimath und Fremde an Produkten der Natur, wie des Kunstfleisses.

So flogen die zum Aufenthalt in Erfurt bestimmten Stunden unter stets wechselndem Genusse willkommener und belehrender Anschauungen und harmloser Geselligkeit in Otto befreundeten Zirkeln schnell dahin. Ueber die äusserst zahlreichen herrlichen altdeutschen Baudenkmäler dieser Stadt, ihre Sculpturen, Inschriften, Kenotaphe, Urkunden u. dgl. könnten schätzbare Werke ins Leben gerufen, Folianten gefüllt werden; allein noch scheinen jene ihrer gründlichen Historiographen zu harren, und es ist nur Schade, dass so Manches davon im Laufe der Zeiten untergeht, zerstört, oder verschleppt wird, was dann unwiederbringlich verloren ist, und davon höchstens eine Chronik dürftige Nachricht, oder die Mappe eines mit Sinn dafür begabten Privatsammlers leicht verlierbare Zeichnungen aufbewahrt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch Thüringen