Naturwissenschaft und Glaube

Ueber die Grundlagen der exakten Naturwissenschaften

Autor: Frenzl, Carl Dr. (1871-1945) Professor der technischen Hochschule in Brunn, Erscheinungsjahr: 1905
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Naturwissenschaften, volkstümliche Hochschulkurse, Erfahrungen, Kausalität, Hypothesen, Fortsetzung, Erkenntnis, Teufelsaustreibung, Hexenprozesse, Missbräuche, Thomas Carlyle, Quacksalber, Scharlatane, Spiritismus, Don Quixote, Torheiten, Irrtümer, Aufopferung, Erfahrungen, Geschichte, Astronomie, Astrologie, Alchemie, Goldmacherkunst, Göttersagen, Mythen, Wahrheit, Kreuzzüge, Reformation, Religionskriege, Vulkanist, Neptunist, Hebungstheorie, Kosmos, Naturphilosophie, Hegel, Identitätsphilosophie
Der Verfasser hat die nachstehenden Vorlesungen auf Veranlassung des Vereines zur Abhaltung volkstümlicher Hochschulkurse ausgearbeitet und hierbei an ein Publikum gedacht, das sich aus Gebildeten aller Stände, insbesondere aber Lehrern zusammensetzt. Er ist sich wohl bewusst, nichts wesentlich Neues gebracht zu haben, glaubt aber der Erwartung Ausdruck geben zu dürfen, dass die Veröffentlichung dieser Vorträge Fernerstehende zum Studium der so interessanten Bewegung auf dem Gebiete der Naturwissenschaften anregen wird.

Brunn, im November 1904.
I. Allgemeine Betrachtungen zu den Grundlagen der Naturwissenschaften

V. A. Wer hätte sich nicht bei der Lektüre des Don Quixote, dieses Meisterwerkes der Weltliteratur, an den tollen Streichen des Helden ergötzt, wer nicht mit überlegenem Hohn den Kampf des Junkers mit den Windmühlen belächelt? Und doch, wenn wir aufrichtigen Sinnes der Menschheit geistiges Leben beobachten, zeigt sich uns nur zu bald, dass wir keine Ursache haben, das wahnwitzige Gebaren des Ritters als einen ergötzlichen Einzelfall anzusehen, dass es sich vielmehr um etwas durchaus Typisches handelt. Wir brauchen gar nicht lange in den Annalen der Geschichte zu blättern, um zu sehen, dass die Menschheit sich nicht selten den abenteuerlichsten Gedanken und Vorstellungen hingibt, dass sie nicht selten mit Windmühlen kämpft und diese Kämpfe aller Mühe und Opfer für wert erachtet.

Wir halten es heute kaum für möglich, dass Vertreter der mittelalterlichen Kirchengelehrsamkeit jahrelang allen Ernstes über die abgeschmacktesten Fragen diskutieren konnten: Warum hat Adam im Paradies von einem Apfel und nicht von einer Birne gegessen? Wie viel Engel haben auf einer Nadelspitze Platz? In welcher Sprache hat die Schlange zu Eva geredet? etc.*) Wir sprechen heute nur mehr mit Abscheu von den Gräueln der römischen Kaiserzeit, von den Hexenprozessen und Inquisitionen des Mittelalters und können es kaum begreifen, dass z. B. ein so hochstehender Mann, wie der Satiriker Fischart, der sonst so bereit war, gegen Missbräuche zu Felde zu ziehen, mit aller Entschiedenheit für Teufelsaustreibungen und Hexenprozesse eintritt. Wie fremd sind uns heute die Kreuzzüge und Religionskriege, in welchen sich Europa zur Hälfte aufgezehrt hat, wie wenig Sinn haben die diesen Unternehmungen zugrunde liegenden Fragen noch für uns. Wie sehr staunen wir darüber, dass noch um die Mitte des vorigen Jahrhunderts zwischen den Nord- und Südstaaten Amerikas ein Krieg zur Abschaffung der Sklaverei geführt werden mußte und dass ein so wunderbarer Mann wie Thomas Carlyle sich während desselben offen für die Beibehaltung dieser Einrichtung erklärte, mit der Begründung, dass Gott die Neger mit der Bestimmung, als Sklaven zu dienen, erschaffen habe. Und blicken wir um uns, so können wir uns nicht verhehlen, dass Aberglaube aller Art — es sei an die tragikomischen Bocksprünge des Spiritismus erinnert — üppig wuchert, dass Quacksalber und Scharlatane sich noch gelegentlich eines glänzenden Daseins erfreuen und gerade Mitglieder der gebildeten Klassen sich nicht selten den sonderbarsten Ärzten des Leibes und der Seele anvertrauen.

*) Scherr, Deutsche Kultur- und Sittengeschichte.

Und wie Don Quixote — gerade dadurch erhält das Buch seine allgemein menschliche Bedeutung — den Kelch der Torheit bis zur Neige leert und erst am Abend seines Lebens zu klarer Einsicht gelangt, so ist es auch der Menschheit beschieden, auf ein Quäntchen dauernder Wahrheit erst nach lange vergeblichem Suchen und Streiten Anspruch erheben zu dürfen; die Geschichte zeigt uns, dass falsche Anschauungen, Torheiten und Irrtümer, die pns heute ganz durchsichtig als solche erscheinen, niemals nur vorübergehend herrschten, sondern dass ihre Überwindung immer Jahrzehnte, ja Jahrhunderte aufrichtigen Bemühens und angestrengter geistiger Arbeit bedurfte.

Die eben angestellten Betrachtungen gelten natürlich nicht nur für die Entwicklung des geistigen Lebens im allgemeinen, sondern sind auch sehr wohl geeignet, uns speziell in der Beurteilung der Geschichte der Naturwissenschaften und insbesondere ihrer Grundlagen zu fördern. Wir werden Gelegenheit haben zu sehen, wie auch hier irrige Vorstellungen und Begriffe ihr Unwesen getrieben haben, vergleichbar jenen selbstgeschaffenen Plagegeistern Don Quixotes, wie mancher Forscher von unrichtigen Voraussetzungen ausgehend zu schwerwiegenden Folgerungen gelangte, deren Einfluss sich durch Jahrzehnte hindernd geltend machte, wie manches von erschöpfender Mühe und Arbeit erfüllte Leben im Kampfe mit Windmühlen vertan wurde.

Doch wir können nicht mit Recht sagen „vertan“. Geradeso wie wir unserem Junker von la Mancha eine gewisse Anerkennung nicht versagen — er hat seiner Idee mit aller Aufopferung, mit allem Ernst gedient, deren ein Mensch überhaupt fähig ist — so zeigt sich, dass selbst aus dem scheinbar ergebnislosen Arbeiten, selbst aus dem Irrtum immer doch ein Gewinn, bisweilen sogar ein sehr erheblicher Gewinn für die Erkenntnis hervorgegangen ist. Die Wege der Forschung führen eben notwendig über sehr bergiges Terrain und die Erfahrung lehrt, dass wir uns oft auf den seltsamsten Um- und Irrwegen befinden, aber eines wissen wir, dass wir uns einem Ziele immer mehr und mehr nähern, wenn wir auch zugeben müssen, dass wir es niemals ganz zu erreichen imstande sind; auch in der Geschichte der Naturwissenschaften offenbart sich jener hohe Glauben, der seit jeher das Bekenntnis gerade der hervorragendsten Geister gewesen ist, der Glaube an den ewigen Fortschritt der Menschheit, der zwar langsam aber stetig vor sich geht.

Diese Erkenntnis erlaubt uns, das Verhältnis von Wahrheit und Irrtum besser, ja gerechter gegen die Vergangenheit aufzufassen, als sonst geschieht. Man pflegt einem allgemeinen Sprachgebrauch zufolge Wahrheit und Irrtum einander gegenüberzustellen und gibt dadurch der Auffassung Raum, dass der Irrtum einem nebelhaften Gebilde gleicht, welches die Wahrheit verschleiert, welches aber sofort in nichts zerfließt, wenn es von dem auf Erkenntnis gerichteten Verstand des Menschen beleuchtet wird. Diese Gegenüberstellung ist jedoch durchaus schief und das ergibt sich sofort, wenn wir die Sache vom historischen Standpunkt betrachten. Da zeigt sich, dass Wahrheit und Irrtum sich nicht ausschließen, dass sie sich vielmehr gegenseitig bedingen, dass sie organisch zusammenhängen, sich durchdringen und in mannigfacher Weise verschmelzen. Ein Fortschritt, eine neue Idee stützt sich in ihren ersten Anfängen sehr häufig auf die Irrtümer ihrer Zeit, ja scheint aus denselben geradezu hervorzuwachsen. Es ist gewiss, dass es sehr viele Menschen gegeben hat, welche weder an die Goldmacherkunst glaubten noch auch von einem Zusammenhang der Geschicke des Menschen mit dem Lauf der Gestirne überzeugt waren, aber nicht diese Menschen waren es, welche die heutige Astronomie und Chemie begründeten, sondern diese Wissenschaften sind gerade aus der Astrologie und Alchemie hervorgegangen, haben sich aus denselben langsam entwickelt und ursprünglich auf dieselben gestützt. So zeigt sich uns das Schauspiel, dass die Begründer neuer großer Gedanken durch dieselben den Boden untergraben, in welchem sie selbst wurzeln.

Die geschichtliche Auffassung, der heute mit vollstem Recht das Wort geredet wird, vermittelt also eine geläuterte Beurteilung der einschlägigen Verhältnisse. Sie verhindert einerseits eine kleinliche Überschätzung der Leistungen und Kenntnisse unserer Zeit und erlaubt anderseits die unscheinbaren Anfänge vergangener Perioden trotz ihrer zahlreichen Missgriffe zu würdigen; insbesondere aber zeigt sie die Unrichtigkeit der landläufigen Meinung, als bedürfe es in allen Dingen nur des gesunden Menschenverstandes, um den richtigen Weg zu gehen, als seien Irrtümer nur nebelhafte Gebilde, die denselben vorübergehend verdunkeln. Sehr richtig weist einmal Lange *) auf das Verkehrte dieser Meinung hin und illustriert sie durch die Worte, mit denen in Geschichtswerken für Kinder die finstere Periode des Mittelalters beendet zu werden pflegt: „Da trat Luther auf —.“ Die Geschichte weist nirgends einen krassen Gegensatz zwischen Irrtum und Wahrheit auf, immer nur allmähliche Übergänge, ja ersterer erscheint gewöhnlich als die Puppe, aus der der Schmetterling geboren wird.

Wir können in dieser Richtung noch weiter gehen. Eine Vertiefung in die geistige Entwicklung des Menschen zeigt, dass der Begriff der Wahrheit nur ein relativer ist. Was zu einer Zeit eine Wahrheit und für diese Zeit fördernd und gewinnbringend war, kann sich für eine spätere Zeit als unrichtig herausstellen. In diesem Sinne sprachen für unsere Vorfahren ihre Göttersagen und Mythen die Wahrheit und auf diese Bezeichnung dürfen auch die Grundsätze aller großen Bewegungen (Kreuzzüge, Reformation, Religionskriege etc. etc.) Anspruch erheben. Es lässt sich also sagen, dass dasjenige, was wir anstreben oder anstreben sollen, nur relative nicht absolute Wahrheit ist, dass wir trachten müssen, uns Anschauungen zu bilden, die für das jeweilige Stadium unserer geistigen Entwicklung die zweckmäßigsten sind. Absolute Wahrheit ist ein unendlich fernes Ziel, dem wir uns beständig nähern und in dieser Annäherung, Fortentwicklung, Anpassung usw. liegt aller Fortschritt, alles dasjenige, was wir geistiges Leben nennen; hätten wir jenes Ziel erreicht, so würde das unseren geistigen Tod bedeuten.

*) Geschichte des Materialismus.

Es ist überaus merkwürdig, dass die scheinbar einfachsten Dinge Jahrhunderte brauchen, um richtig erkannt zu werden und auch, wenn sie von einzelnen klar erfasst und begriffen werden, deswegen noch lange nicht Eingang in die Wissenschaft finden. Manche Erkenntnis, die uns heute als etwas ganz Selbstverständliches gilt, war es unseren Vorfahren durchaus nicht; wenn wir heute von einem Gesetz der Erhaltung des Stoffes sprechen, welches aussagt, dass bei allen chemischen Umsetzungen das Gesamtgewicht aller beteiligten Stoffe erhalten bleibt, so dämmerte diese Erkenntnis in einzelnen Köpfen bereits früher, aber trotzdem die Menschheit seit den ältesten Zeiten chemische Umsetzungen absichtlich herbeiführt, geschah es erst zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts, dass Lavoisier dieses Gesetz klar und deutlich zum Ausdruck brachte. Wie viel Enttäuschungen, wie viel Arbeit und Mühe hätte diese Erkenntnis den Vorgängern dieses berühmten Forschers erspart.

Die eigentümlichen Verhältnisse laden dazu ein, länger bei diesem Gegenstand zu verweilen. Wir können ganz allgemein sprechen, da ja die Naturwissenschaften, besonders in früheren Jahrhunderten, in ihren Grundlagen von den jeweilig herrschenden philosophischen und religiösen Anschauungen auf das deutlichste beeinflusst gewesen sind. Wir fragen also, welche Momente sind es, die der Entwicklung des geistigen Lebens hemmend entgegentreten?

Vor allem scheint der Umstand von großer Bedeutung zu sein, dass der Mensch durchaus nicht ausschließlich ein Vernunftwesen ist, d. h. sich in seinen Handlungen, in seinem Tun und Lassen ausschließlich durch Vernunft leiten lässt. Gerade die neuere Philosophie — insbesondere Nietzsche — hat es klargelegt, dass das Instinktleben, dem man früher so gut wie gar keine Beachtung geschenkt hat, eine ganz außerordentliche große Rolle spielt. Das Verhältnis, in dem Vernunft und Instinkt, diese beiden Triebfedern menschlichen Handelns, zueinander stehen, wechselt nicht nur mit Zeit und Volk, sondern ist auch von Individuum zu Individuum verschieden und es lässt sich wohl sagen, dass ein großer Teil unserer geistigen Entwicklung darauf hinausläuft, unsere Instinkte verkümmern zu lassen und unser Leben ausschließlich zu einem durch Vernunft geleiteten zu gestalten. Wenigstens sehen wir diesen Prozess im Verlaufe wachsender Zivilisation immer weiter um sich greifen und betrachten solche Völker und Menschen, welche gleich den Tieren sich ganz von ihren Instinkten leiten lassen, als auf einer niederen Stufe stehend.

Zunächst ergibt sich daraus, dass im allgemeinen die Menschen, solange ihre Instinkte noch intakt sind, gar nicht den Heißhunger empfinden, die Natur auf dem Wege der Erkenntnis durch Vernunft beherrschen zu lernen, wie dies ja gerade von unserem Zeitalter so lebhaft angestrebt wird. Erst in dem Maße, als die Instinkte verkümmern, tritt dieses Bestreben immer deutlicher zutage.

Aber weiteres resultiert aus diesen Verhältnissen, die natürlich hier nur ganz skizzenhaft behandelt werden können, ein weiteres sehr wichtiges Moment. Dasselbe ist gegeben, wenn das Gleichgewicht zwischen Vernunft und Instinkt durch neue Ideen, durch große Gedanken gestört wird, welche nicht nur eine theoretische, sondern eine eminent praktische Bedeutung haben — und das ist ja eben das Kennzeichen aller hervorragenden geistigen Leistungen, dass sie den Ausgangspunkt für eine durchgreifende Änderung der Lebensgestaltung des Menschen bilden. Es ist dabei ziemlich gleichgültig, ob es sich um politische, ökonomische, philosophische oder naturwissenschaftliche Dinge handelt, ob wir von Kant oder Darwin, ob wir von der Reformation oder den Grundgedanken der französischen Revolution sprechen. Immer kommt es zu einer Störung des Gleichgewichtes zwischen Vernunft und Instinkt und diese Störung ist dadurch charakterisiert, dass noch in voller Lebenskraft stehende Instinkte angetastet beziehungsweiße außer Kurs gesetzt werden, während gleichzeitig eine auf Vernunft, d. h. auf Erkenntnis gegründete Beherrschung der Tatsachen nicht in dem Maße Platz greift, dass sie unmittelbar die Rolle des sicheren Führers übernehmen könnte.*) Ganz besonders deutlich tritt dies dort hervor, wo solche neue Gedanken unmittelbar die Grundlage des Handelns bilden.

*) Vgl. hierzu den schönen Roman Niels Lyhne von J. P. Jacobsen. Der darin zum Ausdrucke gebrachte Grundgedanke lässt sich kurz dahin fassen, dass neue Ideen, um Allgemeingut zu werden, erst in Fleisch und Blut übergehen müssen, erst Gefühls-, Instinktwahrheiten werden müssen.

Daher kommt es, dass in derartiger Zeit die einen gegen die Neuerungen sich mit aller Macht sträuben, weil sie dieselben überhaupt gar nicht verstehen, weil sie durch dieselben aus einer ihnen lieb gewordenen und heimischen Welt in eine ihnen durchaus fremde versetzt zu werden fürchten und diese Kämpfe tragen dann oft ganz den Charakter der Abwehr gegen einen frechen Eroberer, welcher in ein glückliches ruhiges Land einfällt. Andere dagegen geben sich den neuen Gedanken willen- und kritiklos hin, schießen aber, da auch sie den wirklichen Wert derselben nicht zu ermessen vermögen, weit über das Ziel hinaus. Es folgt dann eine Zeit des unsicheren Schwankens um eine Gleichgewichtslage, auf Reformation folgt Gegenreformation, auf Revolution Gegenrevolution, bis schließlich nach einer Reihe von Jahrzehnten ein stabiler Zustand erreicht ist, der eine richtige Wertung des Gedankens und eine weitere Ausdehnung der Vernunftherrschaft mit sich bringt.

Ein vortreffliches Beispiel für die geschilderten Vorgänge, das noch den besonderen Vorzug hat, unseren Tagen anzugehören, bieten die leitenden Gedanken Darwins. Das wesentliche derselben — die Entwicklungsfähigkeit, Anpassung, natürliche Zuchtwahl, Vererbung erworbener Eigenschaften etc. — hätte an und für sich genommen niemals erheblichen oder zum mindesten keinen anderen als sachlichen Widerspruch finden können, aber die Folgerungen, die sich aus seinen Theorien ziehen lassen, waren es, die herrschende Instinkte verletzten. Wir sehen dementsprechend, dass die Gegner sich nur zum Teil aus Fachleuten rekrutieren, zum Teil aus Leuten bestehen, die über naturwissenschaftliche Dinge nur recht spärlich orientiert sind. Die Instinkte, die in Betracht kommen, sind zum größten Teil religiöse, insbesondere handelt es sich um die Stellung des Menschen der Tierwelt gegenüber; man hat den ersteren immer als eine ganz besondere Art von Lebewesen, das mit dem Tier nur die alleroberflächlichsten Dinge gemein hat, angesehen und diese Meinung, von den ältesten Zeiten bis in unsere Tage fortgepflanzt, war zum Dogma verknöchert. Es berührt beinahe schmerzlich, zwei bedeutende Landsleute Darwins, nämlich Thomas Carlyle und John Ruskin, von seinen Leistungen beinahe wegwerfend reden zu hören. Und doch merkt man es ihren Worten nur zu deutlich an, dass sie nichts als der Ausfluss verletzter Instinkte sind.

Während so von der einen Seite der Darwinismus verketzert und verfehmt wird, sehen wir auf der andern, Leute diesen Gedanken ganz kritiklos in sich aufnehmen und weit über das Ziel schießen; ohne Besonnenheit werden wertvolle ältere Anschauungen verworfen, das neue Prinzip auf alles mögliche angewendet — ganz ähnlich wie bei großen politischen und religiösen Bewegungen die ersten schönen Anfänge durch immer radikaler werdende Elemente in Misskredit kommen.

Darauf folgt, und in dieser Epoche stehen wir gerade, eine Zeit, in welcher eine mächtige Reaktion sich geltend macht. Von allen Seiten beinahe hören wir heute zum Rückzug blasen und es ist ganz deutlich vorauszusehen, dass Darwins Verdienste erst in kommenden Jahrzehnten volle und gerechte Würdigung finden werden.

Diese Verhältnisse lassen es ganz erklärlich erscheinen, dass gerade die grundlegenden Ideen der Naturwissenschaften nur so langsame Fortschritte machen, während andererseits nicht geleugnet werden kann, dass in dem Für und Wider der Meinungen eine Unmenge von Einzeltatsachen und Details zutage gefördert werden und auf diese Weise eine wesentliche Bereicherung und Vertiefung der einzelnen Fragen zustande kommt. Aber noch eine Reihe von anderen Momenten vermögen es verständlich zu machen, dass die leitenden Ideen sich so langsam entwickeln und Eingang verschaffen. Es scheint dies außer dem gerade besprochenen Grunde durch ein Gesetz der Trägheit, wenn ich mich so ausdrücken darf, bedingt zu sein, durch ein Bestreben mit so wenig Gedanken als nur irgend möglich für die geistige Beherrschung der uns umgebenden Welt auszukommen. Das führt dazu, dass einmal herrschende Gedanken, Vorstellungen und Anschauungen immer wieder benutzt und angewendet werden und schließlich zu Denkgewohnheiten werden, die sich selbst zu einer Zeit, wo sie allen Sinn verloren haben, nur äußerst schwer ausrotten lassen. Beispielsweise sei darauf hingewiesen, dass wir in medizinischen Dingen noch Ausdrucksweisen gebrauchen, die den heutigen Anschauungen nicht mehr entsprechen. Redewendungen wie: die Krankheit hat sich auf dieses oder jenes Organ geworfen, dieses oder jenes Heilmittel zieht die Krankheit heraus, die Kälte oder Hitze vertreibt das Übel etc. geben Zeugnis davon, dass wir Jahrhunderte alte Vorstellungen, nach welchen die Krankheit als böser Geist im Körper herumspukt und durch List und Geschicklichkeit ausgetrieben werden muss, nicht ganz los zu werden imstande sind. In dem angeführten Fall ist die Sache ganz durchsichtig und wir geben uns den unrichtigen Vorstellungen nur in unbedachten Augenblicken hin, wissen uns aber das Unhaltbare derselben jederzeit zum Bewusstsein zu bringen. Es kommt aber sehr häufig vor, und wir werden derartige Beispiele kennen lernen, dass längst unhaltbar gewordene Vorstellungen sich versteckt festsetzen und die aus ihnen fließende Auffassung der Wirklichkeit infolge langen Gebrauches schließlich als etwas so Selbstverständliches erscheint, dass selbst den kritischen Köpfen durchaus nicht der Gedanke kommt, sie auf ihre Berechtigung zu prüfen. Es ist dann dem Genie vorbehalten, mit der ihm eigentümlichen Kindlichkeit dieses Selbstverständliche anzutasten und der erstaunten Mitwelt zu zeigen, wie sehr sie in demselben einen selbstgeschaffenen Götzen verehrt hat.

Auf das nächste verwandt mit dieser Erscheinung ist der Dogmatismus, der ja auch in den Naturwissenschaften eine große Rolle spielt und dessen Einfluss sich wohl am besten mit Goethes*) Worten charakterisieren lässt: „Kommt einer, der etwas Neues bringt, das mit unserem Credo, das wir seit Jahren nachbeten und wiederum anderen überliefern, in Widerspruch steht, und es wohl gar zu stürzen droht, so regt man alle Leidenschaften gegen ihn auf und sucht ihn auf alle Weise zu unterdrücken. Man sträubt sich dagegen, wie man nur kann; man tut als höre man nicht, als verstände man nicht; man spricht darüber mit Geringschätzung, als wäre es gar nicht der Mühe wert es nur anzusehen und zu untersuchen; und so kann eine neue Wahrheit lange warten bis sie sich Bahn macht.“ Und ein andermal: ,,Sobald man in der Wissenschaft einer gewissen beschränkten

*) Eckermann, Gespräche mit Goethe, herausgegeben von Bartels Bd. 2, S. 196 und 218.

Konfession angehört, ist sogleich jede unbefangene treue Auffassung dahin. Der entschiedene Vulkanist wird immer nur durch die Brille des Vulkanisten sehen, sowie der Neptunist und der Bekenner der neuesten Hebungstheorie durch die seinige. Die Weltanschauung aller solcher in einer einzigen ausschließenden Richtung befangener Theoretiker hat ihre Unschuld verloren und die Objekte erscheinen nicht mehr in ihrer natürlichen Reinheit. Geben sodann diese Gelehrten von ihren Wahrnehmungen Rechenschaft, so erhalten wir ungeachtet der höchsten persönlichen Wahrheitsliebe des einzelnen dennoch keineswegs die Wahrheit der Objekte; sondern wir empfangen die Gegenstände immer nur mit dem Geschmack einer sehr stark subjektiven Beimischung.“

Lassen Sie uns noch auf einen Punkt eingehen, der wie es scheint von großer Bedeutung ist; es handelt sich darum, dass aus falschen Anschauungen und vorgefassten Meinungen heraus überaus häufig eine unrichtige Fragestellung resultiert, die zu sogenannten Scheinproblemen führt. Die Erörterung darüber, welche große Rolle diese Verhältnisse gerade in unserer Zeit spielen, möge am Schluss unserer Betrachtungen Platz finden. Vorläufig sei zur allgemeinen Orientierung darüber nur folgendes gesagt. Wir haben bereits solche unrichtig gestellte Fragen kennen gelernt; ich erinnere an die eingangs angeführten Gegenstände scholastischer Disputationen. Wenn auch das Sinnlose und Lächerliche nicht immer so klar zum Ausdruck kommt, wie eben dort, so können wir uns sehr leicht überzeugen, dass ähnliches auch heute noch gangbare Münze ist. Das Bedauerliche ist, dass aus solchen Fragen, die nicht selten unter der Bezeichnung Rätsel kursieren und die schlechterdings keiner eigentlichen Beantwortung fähig sind, sich endlose, vollkommen unfruchtbare Streitigkeiten entwickeln, die oft gerade die besten Kräfte nutzlos verzehren.

Um ein gerade uns interessierendes Beispiel anzuführen sei erwähnt, dass man sich seit jeher mit dem Begriff der Kraft beschäftigt hat und dieser Begriff vielfach ein Gegenstand sehr eifriger Untersuchungen der Gelehrten gewesen ist. Die Frage wurde immer formuliert: „Was ist eine Kraft?“ Die unrichtige Stellung der Frage hat der geniale Heilbronner Arzt und Naturforscher Robert Mayer, dessen Leistungen uns noch eingehend beschäftigen werden, treffend mit den seither oft angeführten Worten charakterisiert: „Formelle Kontroversen ohne materielle Basis schweben in der Luft und was insbesondere die Kräftefrage anbelangt, so handelt es sich ja zunächst nicht darum, was eine Kraft für ein Ding ist, sondern darum, welches Ding wir Kraft nennen wollen.“ Ebenso möchte ich an die endlosen Streitigkeiten der Philosophen erinnern. Die Fragen, was ist das Gute, was das Schöne sind gleichfalls nicht zu beantworten, da uns ja die Erfahrung zeigt, dass verschiedene Völker und Zeiten darunter recht Verschiedenes verstanden haben und uns schlechterdings alle Berechtigung fehlt, von etwas absolut — d. i. unabhängig von uns — Schönem oder Gutem zu sprechen. Es hat daher nur Sinn zu fragen: Was nannte man zu jener bestimmten Zeit gut und schön? oder: Was sollen wir aus Zweckmäßigkeitsgründen als gut, als erstrebenswert, als schön bezeichnen? Diese Beispiele dürften wohl zur Genüge das Wesentliche dieses Punktes und seine außerordentliche Wichtigkeit erläutern.

Wenn wir uns nun unserer Aufgabe selbst zuwenden, so ist es wohl am Platz, dieselbe zuvörderst genauer zu umschreiben und wir werden uns wohl leicht dahin einigen, dass wir es unternommen haben, uns über die Art und die Grenzen unseres Naturerkennens, über die wichtigsten Grundbegriffe der exakten Naturwissenschaften, über ihre Forschungsmethoden und Prinzipien zu orientieren; ich brauche sie wohl auf die außerordentlich große Wichtigkeit dieser Dinge nicht weiter aufmerksam zu machen, sie sind den Fundamenten eines großen Baues vergleichbar, dessen Sicherheit und dauernde Bewohnbarkeit wesentlich von der Stärke und Güte seiner Grundmauern abhängt. Wenn uns nun auch die Geschichte lehrt, dass die Anschauungen über diese Fragen im Laufe der Zeit sehr wesentlichen Wandlungen unterworfen waren, ohne dass damit ein jedesmaliger Zusammenbruch der Naturwissenschaften verbunden war, so können wir doch behaupten, dass die Entwicklung der letzteren immer von der Richtigkeit und Verlässlichkeit ihrer Grundlagen auf das deutlichste beeinflusst gewesen ist.

Was die Art der Behandlung unseres Gegenstandes anbetrifft, so sei folgendes vorausgeschickt. Es liegt in der Natur der Sache, dass wir bei der Kürze der uns zur Verfügung stehenden Zeit von einer systematischen Darstellung absehen und lieber einen etwas kürzeren Weg einschlagen, der darin besteht, dass wir trachten, möglichst bald festen Fuß zu fassen und von dem Ort, von dem wir Besitz ergriffen haben, Streifzüge nach allen Richtungen unternehmen. Weiter wäre noch ein Punkt hervorzuheben. Wir stehen heute in einer Periode, in welcher auf allen Gebieten geistigen Lebens große Umwälzungen vor sich gehen und das ist auch in sehr hervorragendem Maße auf dem Gebiet der Naturwissenschaften der Fall. Allerdings ist der Weg, den die letzteren dabei einschlagen, ein besonderer; während die schönen Künste eine Epoche ungestümer Gärung verraten, ein mächtiges Ringen nach neuem Ausdruck, nach neuen Formen, tritt uns auf unserem Gebiet das Streben nach Vereinfachung und Abklärung deutlich entgegen, wenigstens soweit es sich um die Bestrebungen ausgesprochener Fachleute handelt. In den Künsten begegnen wir heute überaus häufig dem mystisch Unklaren, dem Gespensterhaften, welches hervorgerufen wird durch ein beinahe absichtliches Vermeiden, auf das Wesentliche der Dinge einzugehen und die Tendenz, den Schein, das rein Äußerliche und Inhaltsleere wiederzugeben. In den Naturwissenschaften finden wir im Gegenteil das ausgesprochene Streben, alles Unklare und Unwesentliche abzustreifen, überall nach der Berechtigung hergebrachter Meinungen und Anschauungen zu fragen, alles Grundlegende kritisch zu prüfen. Nun, alle derartigen Wandlungen haben natürlich eine sehr große Verschiebung von Einzelbewertungen im Gefolge, Dinge, auf welche früher das größte Gewicht gelegt wurde, werden gering geachtet und dem Neuen ein übergroßes Maß an Bedeutung zugeschrieben. Das äußert sich in unserem Falle ganz besonders bei der Bewertung der naturwissenschaftlichen Hypothesen, welche früher eine beherrschende Rolle gespielt, heute von einer Anzahl von Naturforschern als vollständig überflüssig, ja schädlich bezeichnet werden. Wir werden uns infolgedessen bei diesem Gegenstand etwas länger aufhalten.

Doch nachdem wir uns nun über das Wichtigste verständigt haben, wenden wir uns unserer Aufgabe selbst zu und es sei zunächst auf die Verschiedenheit in der Naturbetrachtung verschiedener Zeiten und Menschen aufmerksam gemacht; es wird sich schon hier Gelegenheit finden, die Überzeugung von der Wichtigkeit der Grundbegriffe und Anschauungen für eine ersprießliche Entwicklung der Naturwissenschaften zu erlangen und zu verstehen, dass von ihnen oft langandauernde Hemmnisse entspringen können.

Eine ganz bestimmte Art von Naturbetrachtung wollen wir von vornherein ganz ausschließen, ich meine diejenige des Künstlers, die mit der unserigen nur wenig Gemeinsames hat der Unterschied lässt sich wohl in Kürze dahin präzisieren, dass der Künstler vor allem dem Durst nach Schönheit folgt, der Naturforscher im weiteren Sinne nach Erkenntnis, nach Wahrheit strebt. Der Maler etwa begeistert sich an der Farbenpracht der untergehenden Sonne, am Farbenspiel des sich verfärbenden Herbstwaldes, der Bildhauer an dem herrlichen Gliederbau des Menschen und der Dichter an der mondbeglänzten Landschaft. Immer ist es in erster Linie die Schönheit, das Sinnenfällige, welches die Aufmerksamkeit des Künstlers vor allem anderen wachruft. Was er beim Anblick des Schönen empfindet, das können wir ihm niemals ganz nachempfinden, das ist eine Welt für sich, von der wir nur einen schwachen Abglanz in seinen Werken sehen, so können wir wohl mit Recht auf ihn das Goethesche Wort anwenden: „Anders als in anderen Köpfen malt in diesem Kopfe sich die Welt.“

Wie anders die Naturbetrachtung des Naturforschers. Ihn zieht alles an, was seine Kenntnisse zu vermehren, seinen Einblick in die Wechselbeziehungen der Dinge dieser Welt zu vergrößern, seinen Gesichtskreis zu erweitern imstande ist. Der unscheinbarste Wurm mit etwas abweichender Lebensweise kann sei Interesse im größtem Maße hervorrufen; aus dem geringfügigsten Ereignis, an dem andere achtlos vorbeigehen, kann er mehr Belehrung und Begeisterung schöpfen als aus dem glänzendsten Naturspiel. Nicht die Tatsachen an sich, sondern das intellektuelle Beherrschen der Natur bildet sein Streben, seine Aufgabe ist es, die Einzelfälle durch Denken zu Begriffen zusammenzufassen, die Gesetzmäßigkeit, den Zusammenhang alles natürlichen Geschehens bloßzulegen, „den ungeheuren Reichtum der Natur als ein gesetzmäßig geordnetes Ganze, als Kosmos, als ein Spiegelbild des gesetzmäßigen Denkens unseres eigenen Geistes zu überschauen“, wie sich Hermann v. Helmholtz gelegentlich ausdrückt. Im Gegensatz dazu muss es der Künstler vermeiden, nach allgemeinen Regeln und abstrakten Begriffen zu arbeiten, überall, wo bei ihm ein derartiges Streben bemerkbar ist, wird sein Werk kalt und tot, während gerade das intuitiv, also ohne erkennbares Gesetz Erfasste, mit ungeheurer Lebhaftigkeit und überzeugender Kraft auf uns wirkt.

Der Unterschied in der Art, wie der Künstler und wie der Forscher die Natur anschaut, tritt allerdings nicht immer in so scharfer Weise hervor, es finden sich im Gegenteil alle möglichen Übergänge. Es sei nur daran erinnert, dass moderne Dichter nicht selten gerade naturwissenschaftliche Probleme, dort, wo sie soziale Bedeutung haben, zum Gegenstand ihrer Schöpfungen machen, so hat z. B. das ursprünglich rein naturwissenschaftliche Problem der Vererbung und natürlichen Zuchtwahl durch Zola in seinen Rougon-Macquart, durch W. Jordan in seinen Nibelungen usw. Bearbeitung gefunden und anderseits finden wir auch nicht selten den Forscher durch die Schönheit der Natur zu ihrem Studium angeregt:

Nur durch das Morgentor des Schönen
Dringst du in der Erkenntnis Land.


Wohl am schönsten sich durchdringend sind beide Standpunkte vertreten durch Goethe, welcher der Natur stets als feinsinniger Künstler, als tiefempfindender Ästhetiker gegenübersteht. Auch als Forscher sieht er sie immer als ein vollendetes Kunstwerk an, das eine Idee offenbart und von derselben beherrscht wird. Von diesem Geist sind seine zahlreichen aphoristischen Aussprüche über die Natur getragen, so wenn er sie unter anderem mit einem neckischen jungen Mädchen vergleicht, das durch ihre Reize anlockt und immer wieder entschlüpft.

Wie hier geschildert, stellt sich die Naturbetrachtung des Forschers schon als das Produkt eines sehr komplizierten Prozesses der Arbeitsteilung dar und dieses zu beobachten bietet sich uns reichlich Gelegenheit, wenn wir Vergleiche anstellen über die Art, wie das Kind und der erwachsene Mensch sich den Vorgängen der Natur gegenüber verhalten und wie der Standpunkt sich mit wachsender Kultur verschiebt.

„Die Naturbetrachtung *) der wilden Völker und diejenige des Kindes haben sehr viel gemeinsames: hier wie dort geht aller Reiz zur Forschung vom Neuen, Ungewöhnlichen, von dem Unverstandenen aus. Das Gewöhnliche, dem sie angepasst sind, geht spurlos an ihnen vorbei, nur das Neue erregt ihre Aufmerksamkeit: es ist in beiden Fällen der Sinn für das Wunderbare, der in der Geschichte der Entwicklung der Naturwissenschaften eine sehr große Rolle spielt. In unserer Jugend locken uns zunächst die merkwürdigen Formen und Farben der Pflanzen und Tiere, überraschende chemische und physikalische Prozesse und erst in der Vergleichung mit dem Alltäglichen entsteht dann allmählich der Trieb nach Aufklärung. So erklärt es sich, dass die Anfänge aller Naturwissenschaft mit Zauberei verbunden sind.“ Wir finden derartiges durchwegs bei den hochstehenden Völkern des Altertums, z. B. bei den Ägyptern, den Griechen etc., und ein gleiches tritt uns in der Astrologie und Alchemie des Mittelalters entgegen, von denen die erstere das Geschick der Menschen in Beziehung setzt zu dem Lauf der Sterne, die letztere bestrebt ist, unedle Metalle in Gold zu verwandeln. Als einem letzten Ausläufer dieses Gewächses begegnen wir in unserer Zeit dem plumpen Spiritismus.

„Die geringe Scheidung der eigenen Gedanken und Stimmungen von den Tatsachen der Wahrnehmung, die wir selbst in den wissenschaftlichen Theorien der Gegenwart noch bemerken, spielt in der Naturbetrachtung jugendlicher Völker und Individuen eine maßgebende Rolle. Was in irgendeiner Weise ähnlich erscheint, wird für verwandt und auch in der Natur zusammenhängend gehalten: Pflanzen, die irgendeine Formähnlichkeit mit einem Körperteil des Menschen haben, gelten als Medizin für ein örtliches Leiden; der Löwe ist der Typus des Mutes, seinem Herzen verleiht die jugendliche Phantasie die Eigenschaft, den Mut zu stärken usw. Was wünschenswert, aber schwer erreichbar scheint, sucht man durch die wunderlichsten, schwer zu beschaffenden Mittel und Kombinationen zu erreichen. Beispiele dieser Art gibt es unzählige: die Rezepte der Alchemisten, die Vorschrift für die Herstellung der Freikugeln im „Freischütz“, die Hexenszenen in „Macbeth“, „Faust“ usw. Wer sich seiner Jugend erinnert, dem ist diese Denkweise aus eigener Erfahrung ganz vertraut.“

*) Die folgenden zwischen Anführungszeichen befindlichen Sätze sind — zum großen Teile wörtlich — den schönen Ausführungen E. Machs in „Prinzipien der Wärmelehre“ entnommen.

„Die Kinder sowohl wie die wenig kultivierten Völker sind sich vor allen Dingen ihres Willens und ihrer Muskelkraft bewusst; sie erklären daher gern jeden auffallenden Vorgang durch den Willen eines ihnen ähnlichen lebenden Wesens.“

Man nennt diese die Natur beseelende Anschauungsweise Animismus. Wohl am großartigsten ist derselbe in den Naturreligionen durchgeführt, ganz besonders deutlich tritt dieser Akt der Naturbeseelung in den so feinsinnigen und poetischen Personifikationen von Naturvorgängen und -kräften in den germanischen Mythen zutage: Es sei an die schöne Schilderung der Welterschaffung, an die des Wechsels der Jahreszeiten usw. erinnert.

„Diese Neigung, alles als uns gleichartig und beseelt zu betrachten, überträgt sich auf dem angedeuteten Weg auch auf jeden nützlichen oder schädlichen Gegenstand und führt uns zum Verständnis des Fetischismus der wilden Völker, den wir in seinem Wesen auch an den Kindern beobachten können. Der Wilde schlägt den Fetisch, der ihn betrogen, das Kind den Tisch, an dem es sich gestoßen; beide sprechen Bäume wie Personen an, beide halten es für möglich mit Hilfe eines hohen Baumes in den Himmel zu klettern. Bei beiden verschmilzt die Traumwelt des Menschen mit der Wirklichkeit in eines.“

„Wir kennen diesen Zustand ganz wohl aus unserer Kindheit. Bedenkt man, dass die Kinder jederzeit geneigt sind, derartige Gedanken zu pflegen, dass ferner ein guter Teil selbst eines hochkultivierten Volkes keine eigentliche intellektuelle Kultur, sondern nur den äußeren Schein derselben annimmt, dass es ferner immer eine beträchtliche Anzahl von Menschen gibt, in deren Vorteil es liegt, die Überreste der Ansichten des menschlichen Urzustandes zu pflegen, ja dass sich zu deren Erhaltung sozusagen Wissenschaften des Betruges ausgebildet haben, so begreift man, warum diese Vorstellungen noch immer nicht ganz ausgestorben sind.“

Ja, selbst in die Theorien der Physik und Chemie — und das ist ein Beweis dafür, wie außerordentlich schwer man einmal liebgewordene Vorstellungen ablegt — reicht ein Zug von Fetischismus hinein; gewisse Vorstellungen über die Naturkräfte, über Wärme, Elektrizität und Magnetismus, die wir als geheimnisvolle, unangreifbare Wesen betrachten, welche in den Körpern sitzen und ihnen die bekannten, wunderbaren Eigenschaften erteilen, entsprechen, wenn wir es genau nehmen, dem Standpunkt des Fetischismus. Wir werden reichlich Gelegenheit haben, zu sehen, wie gerade in den letzten Jahren eine mächtige Strömung dahin geht, die letzten Spuren dieses lang überwundenen Standpunktes aus den exakten Wissenschaften auszurotten.

Sehen wir nun von der Betrachtungsweise der großen Menge, welche noch vielfach auf dem skizzierten Standpunkt stehen geblieben ist, ab und wenden uns den Veränderungen zu, welchen die Anschauungen der Fachleute, der Naturforscher von Beruf, im Laufe der Zeiten unterworfen waren, so lassen sich dieselben nicht in Kürze wiedergeben. Vielmehr zeigt sich, dass die jeweiligen Vorstellungen wenigstens in früheren Jahrhunderten auf das engste mit den einschlägigen philosophischen und religiösen Anschauungen verknüpft waren. Es lässt sich dieses unschwer im einzelnen nachweisen, wir wollen uns aber damit begnügen, eine einzige Periode zu besprechen, welche uns diesen Zusammenhang auf das deutlichste zur Anschauung bringt. Es handelt sich um die Bestrebungen der sogenannte Naturphilosophie, welche von den Gedanken eines der einflussreichsten Denker, Hegel, ihren Ausgang nahm und insbesondere durch Schelling und seine Schüler gepflegt wurde. Was die Eigenart dieser Philosophenschule ausmacht, lässt sich kurz dahin präzisieren, dass sie versuchten, aus dem Denken die Erfahrung abzuleiten, sie machten es sich zur Aufgabe, aus dem Denken das Sein zu erschließen d. h. Naturgesetze aufzustellen, wie sie dachten, dass sie richtig sein müßten. Wir können uns vielleicht noch etwas verständlicher ausdrücken, indem wir sagen, dass diese Schule von dem Grundsatze ausging, dass Denken und Sein identisch sei, — von diesem Grundsatze rührt der Namen Identitätsphilosophie — dass die Gesetze des Denkens mit denjenigen der Natur so konform sind, dass wir uns die Welt durch reines Denken konstruieren und aus einigen wenigen Begriffen aufbauen können. Oder vielleicht noch deutlicher gesprochen, gingen die Naturphilosophen von der Annahme aus, dass die Natur das Ergebnis der Gedanken eines Schöpfers sei, welcher seinem innersten Wesen nach dem Menschen gleichartig ist. Daraus wurde gefolgert, dass es dem Menschen möglich sein müsse, auch ohne äußere Erfahrung die Gedanken dieses Schöpfers nachzudenken oder mit anderen Worten die Wirklichkeit aus Gedanken allein zu konstruieren. Dass es dabei zu argen Missgriffen gekommen ist, lässt sich wohl leicht einsehen. Es wurde, um das Vorgehen dieser Schule zu charakterisieren, den Deutschen, welche im Gegensatz zu den Franzosen und Engländern derselben besonders zugetan waren, eine wenig schmeichelhafte Geschichte aufgebunden. „Es*) handelt sich um die Frage, wie sich ein Engländer, ein Franzose und ein Deutscher verhalten würden, wenn ihnen die Aufgabe gestellt würde, das Wesen des Kamels zu kennzeichnen. Der Engländer, so lautet die Antwort, würde nach Afrika gehen, ein Kamel schießen, es ausstopfen lassen und in ein Museum stellen. Der Franzose würde in den Jardin d'acclimatation zu Paris gehen und dort das Kamel studieren und wenn er dort keines fände, so würde er geneigt sein, seine Existenz überhaupt in Zweifel zu ziehen und würde ihm jedenfalls nur eine sehr geringe Bedeutung zubilligen. Der Deutsche dagegen brauchte nur auf seine Studierstube zu gehen und würde sich das Wesen des Kamels aus der Tiefe seines Gemütes konstruieren.“

*) Aus Oswald, Vorlesungen über Naturphilosophie.

Es kann übrigens nicht geleugnet werden, dass diese Schule auch gelegentlich Erfolge zu verzeichnen hatte und ihr sehr bedeutende Forscher angehörten, welchen die Naturwissenschaften erhebliche Förderung verdanken, so Schönbein, der Entdecker des Ozons. Auch Goethe gehört in gewissem Sinne dieser Schule an. Auch für ihn spricht sich, wie er dieses in seinen Reden und Gesprächen des öfteren betont, in der Wirklichkeit die Idee, der Gedanke aus, den der beobachtende Mensch zu ergründen trachten muss. Aus dieser Anschauung erklärt sich auch seine entschiedene Abneigung gegen alle komplizierten Experimente. Die Natur ist für ihn ein eine Idee zum Ausdruck bringendes Kunstwerk, das keinen äußeren Eingriff durch das Experiment verträgt, ohne zum Zerrbild zu werden:

Geheimnisvoll am lichten Tag
Lässt sich Natur des Schleiers nicht berauben
Und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag,
Das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben.


Wenn es nun auch an Erfolgen nicht gefehlt hat, so war im großen und ganzen das Zeitalter der Naturphilosophie doch eine Periode des Niederganges der Naturwissenschaften. In Frankreich und England hat sie niemals festen Fuß fassen können und bei uns wurde sie schon nach verhältnismäßig kurzer Blütezeit durch die aus Frankreich stammende materialistisch-mechanische Natur- und Weltauffassung abgelöst, welche bis auf unsere Tage sich unbestrittener Anerkennung erfreut, deren Herrschaft aber nun ein Ende erreicht zu haben scheint. Auf das Wesen derselben jetzt näher einzugehen ist überflüssig, da ein großer Teil unserer Betrachtungen sich mit diesem Gegenstande, mit ihrer Unzulänglichkeit und den Vorzügen ihrer präsumtiven Nachfolgerin beschäftigen wird. Es sei nur erwähnt, dass auch sie durch die mannigfachsten Fäden mit der Philosophie, insbesondere dem französischen Materialismus des 18. Jahrhunderts auf das engste verknüpft ist.