Fortsetzung

V. A. Die zuletzt zitierten Worte Ostwalds werden in der Tat durch die Geschichte der Naturwissenschaften vollkommen gerechtfertigt. Newton stellte eine Hypothese über das Wesen des Lichtes auf, die sogenannte Emissionshypothese, nach welcher die leuchtenden Körper die Eigenschaft besitzen, kleine Partikelchen eines nicht näher bekannten Stoffes mit großer Geschwindigkeit nach allen Richtungen auszusenden; treffen dieselben das Auge, so rufen sie in ihm die Lichtempfindung hervor. Diese Hypothese erklärte die geradlinige Ausbreitung des Lichtes, die Erscheinungen der Reflexion und Brechung usw. Als aber das Phänomen der Interferenz bekannt wurde, welches darin besteht, dass zwei Lichtstrahlen sich gegenseitig beeinflussen, und unter Umständen auslöschen können, dass also Licht zu Licht addiert gegeben falls Dunkelheit gibt, versagte die Emissionshypothese, da sie hiervon nicht Rechenschaft zu geben imstande ist. An ihre Stelle trat eine andere von Huyghens herrührende, sehr geistvoll und feinsinnig durchgearbeitete Annahme: die Undulationshypothese, nach welcher das Licht in Schwingungen eines überall verbreiteten und mit verschiedenen rätselhaften Eigenschaften — unter anderen der Unwägbarkeit und vollkommener Elastizität — ausgestatteten Stoffes, des Äthers besteht. Trotzdem sie sich als einer der glänzendsten und fruchtbarsten Gedanken erwiesen hat — sie vermochte Jahrhunderte hindurch nicht nur von den Tatsachen Rechenschaft zu geben, sondern erlaubte auch neue Tatsachen vorherzusehen — ist auch ihr schon das Grablied gesungen worden. Wenn sie sich noch ziemlich allgemeiner Benutzung und Anerkennung erfreut, so stellt das nur ein Übergangsstadium dar. Im Grunde genommen ist die Huyghenssche Hypothese endgültig aufgegeben worden.

Die elektrische Fluidumtheorie konnte von einer Menge von Erscheinungen Rechenschaft ablegen; sie machte das Phänomen des elektrischen Stromes verständlich, sie erklärt den Ausgleich der elektrischen Spannungen, die elektrischen Anziehungs- und Abstoßungserscheinungen, die Elektrisierung durch Influenz usw. Den komplizierten Verhältnissen der elektrischen und magnetischen Induktion gegenüber aber erwies sie sich als unhaltbar und mußte verlassen werden; ganz ebenso erging es einer später von Ampere ersonnenen Hypothese, welche übrigens nie recht ernst genommen wurde.


Immer begegnet uns derselbe Vorgang, der zwei ganz charakteristische Merkmale an sich trägt; immer glaubt man fürs erste durch Zurückführung des uns nicht Verständlichen auf mechanische Erscheinungen, und zwar speziell Bewegungen tiefer in die Geheimnisse der Natur einzudringen und trachtet fürs zweite zu substanzieren, d. h. die zu erklärenden Erscheinungen als Ausfluss der Eigenschaften irgendeines Stoffes, irgendeiner wenn auch noch so sonderbaren und rätselhaften Materie hinzustellen. Bewegte Materie ist das Grundwort aller der Hypothesen, die wir bis jetzt besprochen haben und die wir dementsprechend als mechanistische bezeichnen können. Sie sind mit ihrem Grundgedanken für eine lange Periode der Entwickelung der Naturwissenschaften, die materialistisch-mechanistische, durchaus kennzeichnend.

Die Anschauung, dass sich alles auf bewegte Materie zurückführen lasse, hat wahre Triumphe gefeiert und es kann nicht geleugnet werden, dass unter ihren Auspizien die Naturwissenschaften einen ganz ungeahnten, ja glänzenden Aufschwung erfahren haben. Und so darf es uns nicht Wunder nehmen, wenn man, durch Erfolge ermutigt, diese Anschauung bis in ihre äußersten Konsequenzen verfolgte und schließlich dazu kam, auch die Erscheinungen des geistigen Lebens auf bewegte Moleküle zurückführen zu wollen. Immer hatte man eines vergessen, dass die Schwingungen der Moleküle, des Äthers, die Bewegungen des Wärme- und elektrischen Fluidums usw. im Grunde genommen gerade so rätselhaft sind wie die Erscheinungen, die durch sie erklärt werden sollten. Alle die besprochenen Hypothesen gingen zugrunde, weil sie nur Bilder der Wirklichkeit sind, die schließlich und endlich einmal von der letzteren verschieden sein müssen.

Von allen wichtigen Hypothesen haben wir bisher nur eine außer acht gelassen, diejenige, welche, seit Chemie in einem höheren Sinne als Wissenschaft betrieben wird, ihr als Grundlage dient, die Molekular- und Atomhypothese. Sie kann wohl unter ihren Schwestern als die glänzendste, als diejenige bezeichnet werden, welche bis jetzt den Stürmen der Zeit getrotzt hat, welche mit ihrer Wissenschaft immer zugleich gewachsen ist und an Bedeutung und Ansehen zugenommen hat. Aber wir sehen, dass auch an ihr der Wurm der Zerstörung nagt, derselbe Wurm, welcher allen Hypothesen von ihrer Geburt an im Fleische sitzt.

Wir wollen uns mit dieser Hypothese etwas ausführlicher beschäftigen, weil sie uns in ihrer Entstehung und in ihrem Werdegang das Wesen dieser Art von wissenschaftlichen Gebilden auf das deutlichste enthüllen wird, aber auch aus dem Grunde, weil sie mit dem so interessanten Stoffproblem auf das innigste verknüpft ist und uns daher wichtige Aufschlüsse über unser wissenschaftliches Denken im allgemeinen verspricht.

Verfolgt man die Entstehung und Entwicklung der wichtigsten für uns in Betracht kommenden Grundbegriffe bei den einzelnen Völkern, so zeigt sich, abgesehen von individuellen Zügen und Eigentümlichkeiten, immer dasselbe Bild. Die in der Natur sich abspielenden Vorgänge, der Lauf der Gestirne und der damit verbundene Wechsel von Tag und Nacht, der Wechsel der Jahreszeiten mit seiner für das Leben des Menschen tief einschneidenden Bedeutung, die atmosphärischen Erscheinungen, Wind, Regen und Gewitter, das Wachsen und Absterben von Pflanze, Tier und Mensch usw. haben, wo immer wir auch hinblicken mögen, das ursprüngliche Gemüt in poetischer Hinsicht angeregt und zunächst zu einer Naturauffassung geführt, die wir bereits als Animismus kennen gelernt haben und die darin besteht, dass die einzelnen Vorgänge als der Ausfluss eines Willens, als das Ergebnis der Lebenstätigkeit eines menschenähnlichen Wesens angesehen werden. Die ganze Natur wird beseelt gedacht und es ist augenscheinlich, dass das ursprüngliche, naive Gemüt sich in dieser Umgebung seinesgleichen am wohlsten und glücklichsten fühlte:

„Jener Lorbeer wand sich einst um Hilfe,
Tantals Tochter schweigt in diesem Stein,
Spbinx' Klage tönt aus jenem Schilfe,
Philomelas Schmerz aus diesem Hain.
Jener Bach empfing Demeters Zähne,
Die sie um Persephonen geweint,
Und von diesem Hügel rief Cythere —
Ach, umsonst! dem schönen Freund.“


Doch diese primitive Auffassung konnte, so sehr sie dem Bedürfnis nach Schönheit Rechnung trug, einer zunehmenden kulturellen Entwicklung nicht standhalten; sie erwies sich als biologisch unzulänglich, da sie es nicht ermöglichte, die gesteigerten Ansprüche, die der Mensch an die Natur stellen mußte, zu befriedigen. So sehen wir, dass überall diese Periode, die das „Entstehen und Vergehen“ unter dem Bild einer Göttergeschichte darstellt, allmählich von einer andern abgelöst wird, welche von einer viel nüchterneren, der unserigen viel näherstehenden Auffassung beherrscht wird. Auf das Zeitalter der Theogonie folgt ein solches der Kosmogenie und Philosophie, in welchem die den Menschen interessierenden Vorgänge nicht mehr als Begleiterscheinungen der Lebenstätigkeit von menschenähnlichen Wesen angesehen, sondern um ihrer selbst willen betrachtet werden, und das bedingt sofort einen ganz ungeheueren und tief einschneidenden Unterschied in der Naturauffassung. Früher eine Unzahl von Göttern, Halbgöttern und gottähnlichen Wesen, alle gerade so wie der Mensch ausgestattet mit individuellen Besonderheiten, mit eigenen Wünschen und Neigungen, welche der jugendlichen Phantasie den freiesten Spielraum gewährten und endloses Fabeln gestatteten; jetzt eine nüchterne Auffassung der Tatsachen, um ihrer selbst willen, der Phantasie werden die Flügel immer mehr und mehr gestutzt und immer unbestrittener macht sich das Bestreben geltend, die Natur in einer vollkommeneren Weise intellektuell zu beherrschen, als dies früher möglich war. Mit diesem Bestreben bricht auch der Einheitsdrang des menschlichen Geistes, sein synthetischer Grundzug, mächtig hervor, der in der früheren Periode nur sehr verwaschen in einer Rangordnung der Götter und in einem über ihnen allen stehenden letzten Etwas, einem unerbittlichen Geschick zum Ausdruck kommt.

Auf diese Weise gelangt man sehr bald zu der Frage: Welche Bewandtnis hat es mit den Stoffen, die wir entstehen und vergehen sehen; das Wasser verschwindet, wenn es von der Sonne bestrahlt wird, die Gesteine verwittern, die Pflanze verbraucht Stoffe aus dem Boden, aus der Luft, diese Stoffe vergehen, dafür aber wächst die Pflanze, das Tier verzehrt Pflanzen und baut damit seinen Leib auf; ist das ein wirkliches Vergehen und ein Entstehen der Stoffe oder handelt es sich nur um eine Umwandlung, bei welcher die Stoffe ihrem Wesen und ihrer Menge nach gleich bleiben? Wenn wir speziell die griechische Philosophie, die in dieser Hinsicht wohl vorbildlich genannt werden darf, zu Rate ziehen, so zeigt sich, dass in den ältesten Zeiten, über die wir Nachricht haben, diese Frage bald in dem einen, bald in dem anderen Sinne beantwortet wird. Eine Antwort zu geben wird auch in der Tat nicht leicht, denn die Frage stellt den Menschen vor ein beängstigendes Dilemma: Erledigt man sie im ersten Sinne, so steht der Mensch einem ewigen Vergehen und Entstehen, einem Chaos, einem unentwirrbaren Knäuel von Tatsachen gegenüber, deren er niemals Herr zu werden hoffen darf. Beantwortet er sie im andern Sinne, so ist diese Schwierigkeit zwar vollständig überwunden, das Werden und Vergehen ist nur Schein und die Stoffe bleiben ihrer Art und Menge nach erhalten, aber der Mensch ist zu einem empfindlichen Zugeständnis gezwungen, er muss das Zeugnis seiner besten Freunde und Berater über die Außenwelt, seiner Sinne verleugnen. Das Verdunsten des Wassers durch Hitze ist dann kein Vergehen, das Stoffliche bleibt qualitativ und quantitativ erhalten, nur unsere Sinne sind an dem Irrtum schuld. Tatsächlich hat man sich immer mehr und mehr für diese Auffassung entschieden und damit war ein prinzipiell äußerst wichtiger Schritt getan. Wir selbst sind in derselben aufgewachsen und unser ganzes Denken ist von ihr so sehr durchdrungen, dass wir ihre Tragweite kaum richtig abzuschätzen imstande sind; wir würden uns, nochmals vor die Wahl gestellt, schwerlich für die andere Auffassung entscheiden.

Dieses Verlassen einer ganz und gar auf die Angaben der Sinne aufgebauten Naturanschauung, wie wir sie etwa in homerischen Zeiten finden, trägt einen mehr oder weniger aprioristischen oder besser gesagt dogmatischen Charakter. Denn die Summe positiven Wissens, das zu jener Zeit zur Verfügung stand, war äußerst gering und es waren nur wenige und sehr unzusammenhängende Beobachtungen, die mehr als nachträgliche Bestätigungen denn als Ausgangspunkt für die Ansicht herangezogen werden konnten. So gab man das Zeugnis der Sinne auf, man opferte sie dem Einheitsgedanken und der Möglichkeit, die Vorgänge der Natur von einem gemeinsamen Gesichtspunkt aus zu überschauen. Man traut den Sinnen schließlich so wenig, dass man sogar so weit geht, alles, was uns die Sinne zeigen, nicht nur Farben, Töne, sondern auch alle Bewegung, alles Werden, Wachsen und Absterben für einen bloßen Trug“, ein Schemen, zu erklären, hinter dem etwas für uns nur schwer oder gar nicht Erkennbares steckt (die Eleaten). Das allerdings sind die äußersten Konsequenzen, die sich aus der besprochenen Grundauffassung ergeben haben und nur von wenigen anerkannt wurden. In der Tat ist es für einen Bekenner dieser Lehre schwer, sich selbst treu zu bleiben, denn schließlich ist er auf den ihn umgebenden Schein ganz und gar angewiesen, er ist so gezwungen, entweder zugrunde zu gehen oder auf Schritt und Tritt seine Lehre zu verleugnen.

Lange bevor man zu diesem letzten Ausläufer des einmal gefassten Gedankens gekommen war, hatte sich eine Reihe von ausgezeichneten Männern von derselben Auffassung ausgehend mit dem Problem beschäftigt und war dem Einheitsdrange folgend zur Anschauung gelangt, es müsse einen einzigen Urstoff geben, aus welchem alle übrigen entstehen. Als solchen sah Thales das Wasser an, während Anaximenes diese Rolle der Luft und Heraklit dem Feuer zuschrieb. Auch über die Art und Weise, wie aus diesen Urmaterien die anderen uns bekannten Stoffe hervorgehen, hatte man sich bestimmten Vorstellungen hingegeben; so nahm Anaximenes an, dass dies auf Verdichtung und Verdünnung seines Urstoffes, der Luft, zurückzuführen sei und der letzte der genannten Philosophen lehrte in seiner mystischen Weise, dass das Urfeuer durch eine Art Degradation zu den anderen uns „bekannten Gestalten herabsinke und aus diesen wieder zu seiner Urgestalt emporsteige“. „Das Feuer wandelt sich in Wasser um und dieses kehrt zur Hälfte unmittelbar als Feuerhauch zur Himmelshöhe zurück, zur Hälfte wandelt es sich in Erde um, welche wieder zu Wasser und auf diesem Wege schließlich zu Feuer wird.“ Überaus merkwürdig und interessant ist es, dass Dinge, welche wir als die glänzendsten Ergebnisse moderner Wissenschaft zu feiern gewohnt sind, von diesen kühnen Denkern nicht nur geahnt, sondern ganz bestimmt ausgesprochen worden sind, so der Kreislauf der Stoffe, der außer von Heraklit auch von anderen behauptet wird, so das Gesetz von der Erhaltung der Materie, das erst um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert von Lavoisier neu entdeckt wurde. Tatsächlich darf uns das nicht wundern, da ja offenbar die genannten Gesetze in der ganzen Art, wie diese Philosophen über das Stoffliche dachten und wir auch heute noch darüber denken, bereits vorgebildet liegt.

Wir wissen beispielsweise, dass zwei gasförmige Stoffe, Wasserstoff und Sauerstoff, sich zu Wasser vereinigen und da uns anderseits die Erfahrung lehrt, dass wir aus letzterem auf mehrfache Art die erstgenannten Körper zurückgewinnen können, so ziehen wir daraus, ganz wie jene griechischen Naturphilosophen, den scheinbar selbstverständlichen, in Wirklichkeit aber ganz willkürlichen Schluss, dass Wasserstoff und Sauerstoff in dem Wasser weiter fortexistieren und nur die Unvollkommenheit unserer Sinne es uns nicht gestattet, die Komponenten in der Verbindung wiederzuerkennen. Jedenfalls ist in dieser vorgefassten Meinung der Fortexistenz das Gesetz von der Unzerstörbarkeit und Unerschaffbarkeit des Stoffes schon enthalten ebenso wie die Notwendigkeit, dass bei den Vorgängen in der Natur die Stoffe immer neue Verbindungen eingehen, ohne dabei ihrer Art und Menge nach irgendeine Änderung zu erfahren.

Wir erkennen in der besprochenen Anschauung eine der ältesten Hypothesen mit all den charakteristischen Zügen, die wir bereits früher zu beobachten Gelegenheit hatten. Sie geht gerade so wie die elektrischen, die Licht- und Wärmehypothesen über die Erfahrung hinaus und teilt mit ihnen folgendes hervorstechende Merkmal. Man spricht von den Eigenschaften des Lichtes, der Wärme, den elektrischen Erscheinungen und unterscheidet davon sehr scharf das eigentliche Wesen des Lichtes etc., das zu ergründen die Aufgabe der Naturerklärung ist. Ebenso sehen wir auch hier, dass die Eigenschaften der Stoffe, wie sie uns unsere Sinne vermitteln, als das Nebensächliche, das Untergeordnete angesehen werden und man das Hauptgewicht auf das Wesen alles Stofflichen legt, das man in einer beharrenden, d. h. unerschaffbaren und unzerstörbaren Urmaterie zu finden glaubt. Ja, es ist sogar wahrscheinlich, dass die Stoffhypothese aus einem tieferen, später zu besprechenden Grande für alle physikalischen Hypothesen vorbildlich gewesen ist.

Die von den ionischen Naturphilosophen ersonnene Stofflehre hat sich trotz mannigfacher Wandlungen und Umbildungen in ihrem wesentlichen Grundgedanken bis auf unsere Tage erhalten. Man ist schon im Altertum von einer Urmaterie abgekommen, hat deren zwei, auch drei angenommen, aus denen durch verschiedene räumliche Lagerung und Mengenverhältnisse die uns bekannten Körper entstehen sollen. Diese Lehre ist schließlich von Aristoteles dahin erweitert worden, dass er zu den vier schon einzeln oder gepaart angenommenen Urmaterien Wasser, Erde, Feuer und Luft noch ein fünftes Element von mehr geistiger Beschaffenheit gesellte, das etwa unserem Äther entspricht. Und in dieser Fassung hat sich die Urstofflehre infolge des ungeheueren Ansehens, das Aristoteles genoss, beinahe das ganze Mittelalter hindurch erhalten. Selbst die bedeutenden Alchemisten des 13. und 14. Jahrhunderts vermochten es nur zu einer ihren positiven Kenntnissen entsprechenderen Fassung zu bringen, indem Basilius Valentinus in Anlehnung an Geber drei Stoffe annahm, aus welchen alle übrigen in wechselnden Mengenverhältnissen bestehen sollten: der Schwefel als Prinzip der Brennbarkeit, das Quecksilber als Prinzip der Flüchtigkeit und des metallischen Charakters und das Salz als Prinzip des Starren und Feuerbeständigen.

Doch wir müssen noch einmal auf das Altertum zurückgreifen, um eine Entwicklung des Stoffproblems beziehungsweise einen Ausbau desselben nach einer bestimmten Richtung hin kennen zu lernen. Sie hält zwar an dem mehrfach genannten Grundgedanken fest, bietet uns in dieser Hinsicht also nichts Neues, aber sie ist deshalb von außerordentlicher Bedeutung, weil sie nach jahrtausendelanger Zurücksetzung erst zu Ende des 18. Jahrhunderts wieder hervorgeholt, für die Entwicklung der modernen Chemie von ausschlaggebender Wichtigkeit wurde. Wir sprechen von der Atomhypothese, die wahrscheinlich von Leukippos begründet und von seinem bewunderungswürdigen Schüler Demokritos weit ausgebaut wurde.

Wie wir gesehen haben, ist die von den ionischen Naturphilosophen aufgestellte Behauptung von der Unzerstörbarkeit und Unerschaffbarkeit des Stoffes von den Eleaten, insbesondere Parmenides, beibehalten und ebenso die zweite Annahme, die man bezüglich des Stoffes machen mußte, um das natürliche Geschehen verständlich erscheinen zu lassen, ganz konsequent weiter geführt worden, die Annahme, dass auch die Art des Stoffes einem Erhaltungsgesetz unterliegt, das uns unsere schwachen Sinne mehr ahnen als erkennen lassen. Hatten die ersteren, einem dunklen Drang nach einem einheitlichen Weltbilde folgend, diese beiden Sätze aufgestellt, so machten die letzteren aus der Erhaltung der Qualität des Stoffes (z. B. alles ist Wasser und wird wieder zu Wasser) die Unwandelbarkeit des Stoffes und sagten: Aus einem Ding kann kein anderes entstehen, der Stoff behält seine Eigenschaften bei, jede Veränderung ist daher nur Schein und Trug; es gibt nur einen Urstoff und unsere Sinne täuschen uns eine Welt von Farben, Tönen und Gestalten vor, es gibt nur ewige Ruhe und sie täuschen uns ewige Veränderung, Entstehen, Wachsen und Absterben vor. Wir gelangen auf diese Weise zu einem Weltbild, welches trotz seiner scheinbaren Erhabenheit höchst trostlos ist. Diese Art der Naturbetrachtung konnte nicht weiter führen, sie ist biologisch gesprochen der Tod. Eine Lehre, die in dem Satze gipfelt: „Wir kennen das Seiende weder schauen noch erkennen“ (Melissos) konnte sich nicht lange erhalten, zum mindesten konnte sie dem Menschen nicht nützlich sein für die gedankliche Bewältigung seiner Umgebung.

So sehen wir denn die Reaktion auf diese weltentfremdende Philosophie nicht ausbleiben und gleichsam als Rache der beleidigten Sinne, denen wir ja im Grunde genommen unsere ganze Kenntnis von der äußeren Welt verdanken, eine neue Lehre entstehen, die an dem einmal gefassten Grundgedanken von einem oder mehreren unzerstörbaren Grundstoffen festhaltend, die krassen Widersprüche der eleatischen Anschauungsweise behebt: die Atomenlehre des Leukippos. Die Eleaten hatten zwei Welten geschaffen, eine Welt des Geistes und eine äußere, die dem Menschen unerkennbar ist, die Atomenlehre stellt einen höchst geistvollen Versuch dar, diese Zweiheit, diesen Dualismus durch eine monistische Weltanschauung zu ersetzen, wenigstens eine solche anzubahnen und an diesem Versuch hält unsere Wissenschaft heutigentags noch zum großen Teil fest. Wir sehen daraus, wie außerordentlich wichtig, ja wie grundlegend das Stoffproblem nicht nur für die Philosophie, sondern auch für die Naturwissenschaften ist. „Der folgerichtige Materialismus*) und der folgerichtige Spiritualismus, diese diametralen Gegensätze im Bereiche der Metaphysik, sie sind aus derselben Wurzel erwachsen, aus dem strengen Substanzbegriffe, der zwar keineswegs eine freie Schöpfung der Eleaten ist, aber von ihnen aus den Sätzen der Urstofflehre am reinlichsten herausgeschält und gleichsam herauspräpariert worden ist.“

*) Th. Gomperz, Griechische Denker, 2. Aufl., I. Bd., S. 167. Diese glänzende Darstellung ist hier sowie im folgenden benutzt worden.

Hatte Parmenides die Welt der Dinge zum Scheinbild gemacht und in das Reich des Trugs verwiesen, so sollte sie durch die Atomenlehre dem Menschen wieder erobert und heimisch gemacht werden. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass gerade das Paradoxe und von vornherein Widerspruchsvolle der eleatischen Lehre den Anstoß zur Atomenhypothese gegeben hat und dass ihre geistvollen Schöpfer besonders an die behauptete Unmöglichkeit der Bewegung anknüpften. Die ionischen Naturphilosophen dachten im Grunde genommen so wie wir auch heute noch denken, sie sahen den ewigen Wechsel in der Natur, das Entstehen, Wachsen und Absterben, und suchten in diesem ewigen Wechsel das Beharrende, das Ruhende und fanden es in der Urmaterie, die in immerwährender Bewegung (insbesondere Heraklit) begriffen, das Weltbild hervorbringt, ohne sich dabei selbst zu ändern. Die Eleaten, vor allen Parmenides, hatten daraus einen alles durchdringenden, alles erfüllenden Urstoff gemacht, der keiner Bewegung fähig ist, letztere vielmehr in das Reich des Scheines verwiesen. Mitbestimmend für diese Auffassung dürfte wohl der Umstand gewesen sein, dass man dem Stofflichen schlechtweg, dem Beharrenden gewisse Eigenschaften zuschrieb, insbesondere die der Undurchdringlichkeit: wie sollte dann, wenn die Materie alles erfüllt und undurchdringlich ist, Bewegung möglich sein?

Hier setzt Leukippos beziehungsweise sein größerer Schüler Demokritos ein mit dem Satz: Nichts existiert als die Atome und der leere Raum, alles andere ist Meinung. In dieser These spricht sich der Grundgedanke der ganzen Atomistik im Gegensatz zu der eleatischen Lehre der Weltverleugnung aus: diese hatte den leeren Raum aus zwei Gründen verpönt; fürs erste sollte ja ihr Urstoff alles erfüllend sein und fürs zweite erklärten sie den leeren Raum für undenkbar und daher nicht seiend, ja als die ausgesprochene Negation des Seienden, d. h. der beharrenden und alles erfüllenden Materie. Mit dem leeren Raum der Atomistiker war auch die Möglichkeit der Bewegung gegeben.

Es scheint, dass der leere Raum bei der Konzeption der Atomenlehre das erste gewesen ist und der Begriff der Atome sich erst aus seiner Annahme ergab. Um Bewegung verständlich zu machen, hatte man an diskrete Massenverteilung gedacht, an kleine Stoffteilchen, die durch leere Räume voneinander getrennt sein sollten und diese Stoffteilchen wurden von selbst zu Individuen, zu selbständigen Einheiten, zu etwas nicht weiter teilbarem, kurz zu dem, was wir auch heute noch Atome nennen, und es war damit der Grund gelegt zu der ganzen materialistisch mechanistischen Weltanschauung, die heute noch die Naturwissenschaften beherrscht. Die beiden Begriffe Materie, d. h. das Sicht- und Tastbare und Bewegung, waren von jeher die geläufigsten, auf sie mußte alles zurückgeführt werden; konnte die vorausgesetzte Bewegung, welche eine Erscheinung verständlich machen sollte, nicht gesehen werden, so suchte man diese Bewegung als unsichtbar den unendlich kleinen Atomen zuzuschreiben; das hat im Prinzip Demokrit selbst ausgesprochen: „Die Atome*) sind unendlich an Zahl und von unendlicher Verschiedenheit der Form. In ewiger Fallbewegung durch den unendlichen Raum prallen die größeren, welche schneller fallen, auf die kleineren; die dadurch entstehenden Seitenbewegungen und Wirbel sind der Anfang der Weltbildung.“ Aber nicht nur in dieser Hinsicht steht er im Prinzip auf dem heutigen Standpunkt, auch sonst liegt in seiner Lehre in großen Zügen dasjenige vorgebildet, was in dem letzten Jahrhundert eine weite Ausgestaltung erfahren hat: „Die*) Verschiedenheit aller Dinge rührt her von der Verschiedenheit ihrer Atome an Zahl, Größe, Gestalt und Ordnung.“ Wie ähnlich klingt es, wenn die heutige Chemie lehrt, dass es Tausende von Verbindungen aus Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff gibt, die sich nur durch die Zahl der Atome jedes einzelnen und durch die Anordnung der Atome unterscheiden, und wir vermeinen die modernen Materialisten zu hören, wenn er lehrt: „Die Seele *) besteht aus feinen, glatten und runden Atomen, gleich denen des Feuers. Diese Atome sind die beweglichsten und durch ihre Bewegung, die den ganzen Körper durchdringt, werden die Lebenserscheinungen hervorgebracht.“

Im übrigen halten die Atomisten an dem Stoffbegriff fest, auch sie erklären wie ihre philosophischen Vorgänger: Aus nichts wird nichts; nichts was ist, kann vernichtet werden. Alle Veränderung ist nur Verbindung und Trennung von Teilen. Auch in ihrem Urteile über die Verlässlichkeit unserer Sinne für die Erkennung der Außenwelt schließen sie sich der bestehenden Ansicht an, ohne jedoch in das Extrem der Eleaten zu verfallen. Die Sinne erweisen sich als trügerisch: „Nur*) in der Meinung besteht das Süße, in der Meinung das Bittere, in der Meinung das Kalte, das Warme, die Farbe; in Wahrheit besteht nichts als die Atome und der leere Raum.“ Auch in dieser Äußerung spricht sich eine für die materialistisch-mechanistische Auffassung unserer Tage ganz charakteristische Anschauung aus, darin bestehend, dass nur gewisse Sinneswahrnehmungen, insbesondere die Wahrnehmungen des Tastgefühles und des Auges mit Bezug auf Größe und Form unmittelbare Realität besitzen, kurz, dass wir direkten Aufschluss durch unsere Sinne nur über gewisse Eigenschaften der Körper erhalten: die wir heute als die allgemein stofflichen bezeichnen, während die Eigenschaften, wie Farbe, Geruch, Wärme etc., die uns sonst durch unsere Sinne vermittelt werden — man hat sie später die sekundären Sinnesqualitäten genannt und wir werden darüber noch zu sprechen haben — nur einen sehr untergeordneten Anspruch auf Realität erheben dürfen. Damit war ein prinzipiell äußerst wichtiger Schritt getan und das Dilemma, von welchem wir sprachen, durch ein Kompromiss der beiden einander ausschließenden, extremen Anschauungen gelöst Nur in gewisser Richtung darf das Zeugnis unserer Sinne Anspruch darauf erheben, die Wirklichkeit wiederzuspiegeln, in anderer ist es leerer Schein. Die ersteren Sinnesangaben im Verein mit den Atomen, der Materie bilden das absolut Seiende, das unabhängig von uns Existierende, von dem wir bei allen Versuchen, die Natur kennen zu lernen, ausgehen, und zu dem wir behufs Kontrolle unserer Forschungen immer wieder zurückkehren müssen.

*) Zitiert aus Lange: Geschichte des Materialismus.

Die Lehre Demokrits bezeichnet wohl einen Höhepunkt, sowohl in der Behandlung des Stoffproblems als auch in der Auffassung der chemischen Erscheinungen. Es kann nicht unsere Aufgabe sein, die Entwicklung geschichtlich zu verfolgen, es sei nur soviel erwähnt, dass das spätere Altertum — wenigstens im großen und ganzen — und ebenso auch das Mittelalter auf die ursprünglichen Anschauungen der Vorläufer Demokrits zurückging oder ähnlich einfache und gleichzeitig mystisch angehauchte Vorstellungen vertrat. Selbst die großen und vielversprechenden Umwälzungen zu Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts vermochten darin keinen Wandel zu schaffen. Erst Mitte des 17. Jahrhunderts begegnen wir in dem englischen Physiker und Chemiker Robert Boyle, dessen Name uns bereits bekannt ist, einem Vorläufer der Atomhypothese, wie sie heute zur Erklärung der chemischen Erscheinungen benutzt wird. Er gelangte wohl ganz selbständig und durchaus im Gegensatz zu der damals landläufigen Auffassung zu der Vorstellung, dass die Körper aus selbständig zu denkenden kleinsten Teilchen bestehen; auch über die Natur der Verbindungen rang er sich zu demselben Grade klarer Einsicht durch wie Demokrit. Er nahm an, dass Verbindungen, durch Aneinanderlagerung der sich gegenseitig anziehenden Teilchen verschiedener Stoffe zustande kommen; Zersetzung sollte dann eintreten, wenn neu hinzugekommene Teilchen eines andern Körpers zu der einen Art von Teilchen des ursprünglichen Körpers mehr Anziehung besitzen wie die andere Art.

Auch insofern ist Boyle seinen Zeitgenossen weit vorangeeilt, als er zum ersten Male mit den aristotelischen beziehungsweise den alchymistischen Elementen brach und der Meinung Ausdruck gab, dass die nachweisbaren, nicht zerlegbaren Bestandteile der Körper als Elemente zu betrachten seien. Trotzdem hat sich der Begriff einer Urmaterie, eines Urelementes nicht nur bei Boyle erhalten, sondern auch bei vielen seiner Nachfolger und lebt auch heute noch unter angesehenen Vertretern der Naturwissenschaften fort.

Wie gesagt, Boyle war seinen Zeitgenossen in vieler Hinsicht weit voran geschritten; ein eigentlicher Umschwung in den grundlegenden Ansichten ist jedoch erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu verzeichnen und wurde einerseits durch Lavoisier und anderseits durch John Dalton herbeigeführt. Lavoisier wurde dadurch ein großer Reformator auf dem Gebiete der Chemie, dass er die Gewichtsverhältnisse bei chemischen Umsetzungen genau beachten lehrte, auf welche man bis dahin gar keinen Wert gelegt hatte. Er wurde auf diese Weise zum Entdecker des Prinzips von der Erhaltung des Stoffes, das die Grundlage der heutigen Chemie bildet. Es ist für die Geschichte der Wissenschaften wohl höchst charakteristisch, dass dieses Gesetz, welches, wie wir gesehen haben, von den griechischen Naturphilosophen auf spekulativem Wege gefunden und behauptet wurde, zwei Jahrtausende später auf experimenteller Grundlage neu entdeckt werden mußte und dass man diese Entdeckung als eine der großartigsten Errungenschaften der neueren Chemie preist.

Daltons große Leistung war die Einführung der Atomtheorie, auf welche er wohl unabhängig von griechischer Philosophie gekommen ist und von der wir jetzt ausführlich sprechen wollen. Die Annahme einer diskontinuierlichen Massenverteilung wurde von ihm gemacht um zwei der wichtigsten Grundgesetze der Chemie zu erklären: das eine derselben führt den Namen: Gesetz der konstanten Gewichtsverhältnisse oder Gesetz der konstanten Proportionen und besagt, dass chemische Umsetzungen und Verbindungen immer nach ganz bestimmten Gewichts Verhältnissen erfolgen. So vereinigt sich stets 1 Gewichtsteil Wasserstoff mit 8 Gewichtsteilen Sauerstoff zu Wasser, 56 Gewichtsteile Eisen mit 32 Gewichtsteilen Schwefel zu Schwefeleisen, 12 Gewichtsteile Kohlenstoff mit 32 Gewichtsteilen Sauerstoff zu Kohlensäure usw. Nimmt man von einem Bestandteil mehr als den genannten Verhältnissen entspricht, so bleibt der Überschuss an diesem Bestandteil in unverbundenem Zustande zurück.

Das zweite Gesetz, dessen Entdeckung wir John Dalton selber verdanken, das Gesetz der multiplen Proportionen, besagt, dass Verbindung zwischen zwei Bestandteilen nicht nur in einem, sondern auch in mehreren bestimmten Gewichtsverhältnissen erfolgen kann; aber dann entstehen jedesmal andere Verbindungen und was besonderes wichtig ist, sei an folgenden Beispielen deutlich gemacht.

Es verbinden sich:

12 Gewichtsteile Kohlenstoff mit 16 Gewichtsteilen Sauerstoff zu dem giftigen Kohlenoxyd;

12 Gewichtsteile Kohlenstoff aber auch mit der doppelten Menge, nämlich mit 32 Gewichtsteilen Sauerstoff, zu Kohlensäure;

56 Gewichtsteile Eisen mit 16 Gewichtsteilen Sauerstoff zu Eisenoxydul;

112 Gewichtsteile Eisen aber auch mit 48 Gewichtsteilen Sauerstoff zu Eisenoxyd und 168 Gewichtsteile Eisen mit 64 Gewichtsteilen Sauerstoff zu Eisenoxyduloxyd, welches sich in der Natur als Magneteisenstein vorfindet;

12 Gewichtsteile Kohlenstoff mit 4 Gewichtsteilen Wasserstoff zu Gruben- oder Sumpfgas, der Ursache der schlagenden Wetter; 24 Gewichtsteile Kohlenstoff mit 6 Gewichtsteilen Wasserstoff zu einem Gas, das den Namen Äthan führt;

24 Gewichtsteile Kohlenstoff mit 4 Gewichtsteilen Wasserstoff zu dem Gase Äthylen,

24 Gewichtsteile Kohlenstoff mit 2 Gewichtsteilen Wasserstoff zu Azetylen. Sie sehen also, dass die Gewichtsmengen Sauerstoff, die sich mit einer bestimmten Menge Eisen, sagen wir mit 112 Gewichtsteilen, verbinden, sich zueinander verhalten wie 32: 48: 42-/3 oder 6:9:8. Die Wasserstoffmengen, die sich mit 12 Gewichtsteilen Kohlenstoff zu den genannten Gasen verbinden, stehen zueinander in dem Verhältnisse von 4:3:2:1 usw.

Wenn also zwei Elemente sich verbinden, so geschieht dieses immer nach ganz bestimmten Gewichts Verhältnissen, aber es ist nicht nur ein Gewichtsverhältnis möglich, sondern deren mehrere; dann erhalten wir für jedes von den möglichen Gewichtsverhältnissen immer andere Verbindungen und die Mengen des einen Elementes, welche sich mit ein und derselben Menge des andern Elementes vereinigen können, stehen im Verhältnisse einfacher ganzer Zahlen.

Durch Daltons Annahme einer diskreten Verteilung der Materie im Räume, durch die Annahme von Atomen, aus welchen die Materie zusammengesetzt ist, war die einfache und anschauliche Erklärung des Gesetzes der konstanten und multiplen Proportionen gegeben und es war mit jener Hypothese „der modernen Naturwissenschaft ein Phönix aus der Asche altgriechischer Philosophie“ entstanden. Im Sinne dieser Hypothese waren ja die beiden Gesetze etwas durchaus Natürliches. Denn wenn etwa das Eisen aus letzten Einheiten, aus Atomen besteht und ebenso der Sauerstoff, so können nur Verbindungen gedacht werden, die dadurch entstehen, dass ein oder mehrere Atome Eisen mit einem oder mehreren Atomen Sauerstoff zusammentreten; und setzen wir mit Dalton voraus, dass alle Atome eines und desselben Elementes gleich groß und schwer sind, so heißt das, dass Verbindungen nur nach bestimmten, nicht aber beliebigen Gewichts Verhältnissen zustande kommen können; gibt es deren mehrere, so müssen die Mengen des einen Elementes, die sich mit der gleichen Gewichtsmenge eines andern verbinden, in der von Dalton entdeckten einfachen Beziehung stehen.

Die Tatsachen sind also durch die Atomtheorie, wie sie sehen, im landläufigen Sinne „erklärt“. Ja man geht vielfach so weit — es wurde dieser Vorgang bereits früher angedeutet — die Atomhypothese als etwas logisch Notwendiges hinzustellen und ganz mit Unrecht zu behaupten, dass die beiden besprochenen Gesetze ganz unmöglich wären, wenn die Materie nicht aus einzelnen letzten, nicht weiter trennbaren Teilchen, den Atomen bestünde. Denn — so sagt man — wäre letzteres nicht der Fall, dann müßten Verbindungen in unendlich vielen Gewichtsverhältnissen möglich sein.

Wir erkennen in dem Dargelegten das Charakteristische aller Hypothesen wieder; vor allem begegnen wir einem Verlassen der Erfahrung, es werden kleinste Teilchen der Körper, einfache und zusammengesetzte Atome angenommen, die im Grunde genommen gerade so rätselhafte Wesenheiten sind wie der Wärmestoff, der Äther, das elektrische Fluidum etc. und wie diesen letzteren besondere, in keiner Weise durch die Erfahrung begründete Eigenschaften zugeschrieben werden mußten, um die Hypothesen mit den Tatsachen in Einklang zu bringen, so werden auch die Atome mit einer fiktiven Qualität ausgestattet, der der Unteilbarkeit, obwohl letztere uns nirgends in der Natur begegnet.

Wir finden weiter das Zurückgehen auf mechanische Dinge wieder. Gerade so wie der Wärmeübergang als ein Überfließen des Wärmestoffes angesehen wurde, so wird auch hier der die chemischen Umsetzungen begleitende Wechsel der Eigenschaften auf einen mechanischen Vorgang, auf ein einfaches Aneinanderlagern oder Trennen der Atome infolge der ihnen innewohnenden Verwandtschaftskräfte zurückgeführt. Wir gelangen dazu, das Sonderbare dieses Vorgehens einzusehen, wenn wir den einzelnen Fall betrachten. Es gibt ein Metall, das Natrium, welches Wasser sehr heftig unter Wasserstoffentwicklung zerlegt, welches sich sehr begierig mit dem Sauerstoff der Luft vereinigt etc., weiter kennen wir einen gasförmigen Körper, das Chlor, von grünlicher Farbe, stechendem, unangenehmen Geruch und höchst aggressiven Eigenschaften. Lassen wir beide zusammentreten, so entsteht ein höchst harmloser Körper von ganz anderen Eigenschaften, der uns dazu dient, unsere tägliche Nahrung zu würzen, das Kochsalz. Und dieser vollständige Wechsel der Eigenschaften sollte einfach durch Aneinanderlagerung von je einem Natrium- und Chloratom herbeigeführt werden! Man ging also auch hier, wie wir dieses bei allen anderen Hypothesen gesehen haben, in der Weise vor, dass man das Eigentümliche, das Besondere der Vorgänge, ihr Fremdartiges verwischte und etwas Bekanntes, Alltägliches an ihre Stelle setzte.

Noch auf einen Punkt wäre besonders hinzuweisen, der mit dem Stoffproblem auf das innigste zusammenhängt. Es wurde bereits früher erwähnt, dass die Atomtheorie Demokrits sich auf den von den ionischen Naturphilosophen behaupteten Sätzen von der Erhaltung des Stoffes seiner Art und Menge nach aufbaut und das gilt in gleicher Weise für die Anschauungen Daltons; ja wir können das Gesagte hier sogar deutlicher beobachten als es früher möglich war. Es ist ein ganz wesentliches Moment der Auffassung chemischer Vorgänge im Lichte der Atomhypothese, dass die einzelnen Atome sich in ihrer Art erhalten, d. h. immer als solche in den Verbindungen weiter existieren. Das aber ist offenbar eine hypothetische Annahme, die gleich vielen anderen in dem Suchen des menschlichen Geistes nach dem Beharrenden, dem Seienden, dem Ruhenden im ewigen Wechsel wurzelt, in einem Suchen, das, wie wir sehen werden, in aller erster Linie zu dem Begriffe der Materie selbst geführt hat.

Doch mit dem Begriff der Atome konnte sich die Chemie bald nicht mehr begnügen, es ergaben sich Schwierigkeiten und Widersprüche mit der Erfahrung. Es mußte die Hypothese, da sie nicht mehr genügte, erweitert werden und in dieser Hinsicht hat sich die Atomhypothese als ganz außerordentlich anpassungsfähig erwiesen. Während wir bei den früher besprochenen Theorien zwar auch fanden, dass Widersprüche mit den Tatsachen zu einer weiteren Ausbildung und Ausgestaltung führen, war die Grenze der Möglichkeit, einer derartigen Anpassung, immer außerordentlich bald erreicht, die Atomhypothese dagegen hat sich als überaus dehnbar und entwicklungsfähig erwiesen; es sind im Laufe der Zeit eine Menge von neuen Theorien an sie angeschlossen, mit ihr vereinigt worden, so dass sie uns heute als ein stattlicher Bau von reicher Gliederung und Durchbildung erscheint.

Die früher erwähnte Schwierigkeit, welcher die Atomhypothese Daltons begegnete, war folgende: Man war bei dem Studium der gasförmigen Elemente und der aus ihnen zu* erhaltenden Verbindungen zu dem Ergebnis gekommen, dass, wenn die Materie wirklich aus unteilbaren kleinsten Teilchen,, aus Einheiten besteht, diese letzteren nicht identisch sein können mit den Atomen. Man war gezwungen anzunehmen, dass z. B. die kleinsten selbständigen Sauerstoffteilchen bereits aus zwei Atomen bestehen, desgleichen die kleinsten Wasserstoff- oder Stickstoffteilchen aus je zwei Wasserstoffbeziehungsweise Stickstoffatomen zusammengesetzt sind. Solche aus mehreren gleichartigen oder ungleichartigen Atomen bestehende Teilchen nennt man Moleküle: ihr Charakteristikum ist die selbständige Existenz (Einheit), d. h. sie sollen der Annahme nach mechanisch nicht weiter teilbar, wohl aber auf chemischem Wege aufspaltbar sein. Infolge dieser wichtigen Erweiterung spricht man nicht von einer Atom-, sondern von einer Atom- und Molekularhypothese und in dieser Gestalt vermochte sie nun den Tatsachen, die zu Anfang des vorigen Jahrhunderts bekannt waren, durchaus gerecht zu werden.

Die weitere Entwicklung der Atom- und Molekularhypothese hält an dem einmal gefassten Gedanken fest und bietet uns daher für die allgemeine Beurteilung der Hypothesen kein neues Moment; wir wollen uns daher damit begnügen, ganz kurz die allerwichtigsten der notwendig gewordenen Erweiterungen anzudeuten.

In der Gestalt, in welcher wir unsere Hypothese bis jetzt kennen gelernt haben, vermag sie Verschiedenheit chemischer Verbindungen zurückzuführen entweder auf die Verschiedenheit der dieselben bildenden Elemente oder bei Gleichheit der letzteren auf ungleiche Mengenverhältnisse; so bestehen Kohlenoxyd und Kohlensäure zwar beide aus Kohlen- und Sauerstoff, aber letztere Verbindung enthält auf die gleiche Menge Kohlenstoff doppelt soviel Sauerstoff wie das Kohlenoxyd. Doch es dauerte nicht gar zu lang, so stieß man auf Verbindungen, welche nicht nur aus den gleichen Elementen zusammengesetzt sind, sondern dieselben auch in genau gleicher Menge enthalten, sogenannte isomere Verbindungen, von denen wir heute eine schier unabsehbare Zahl kennen. Es seien nur einige der bekanntesten Beispiele angeführt: isomer sind die beiden Zuckerarten, die sich in den süßen Früchten und dem Honig finden, der Trauben- und Fruchtzucker; isomer sind eine Reihe von sogenannten zusammengesetzten Zuckern: der Rohrzucker der Rübe, der Milchzucker und Malzzucker, der beim Keimen des Malzes entsteht. Der bekannte Schwefeläther ist isomer mit vier Verbindungen aus der Klasse der Alkohole, den sogenannten Butylalkoholen, von welchen drei im Fuselöl enthalten sind.

Der schwedische Chemiker Berzelius, welcher diesen Tatsachen anfangs ganz ungläubig gegenübergestanden hatte, war später an dem Ausbau der Theorie zur Bewältigung der besprochenen Erscheinungen hervorragend tätig; er nahm an, dass die Atome im Molekül, wie er sich ausdrückte, „auf verschiedene Weise zusammengelegt“ seien und dadurch die Verschiedenheit bedingt werde. Dieser Gesichtspunkt wurde in der ganzen kommenden Entwicklung der Chemie festgehalten und hat sich als ganz außerordentlich fruchtbar erwiesen. Wir können uns von demselben annähernd Rechenschaft geben, indem wir an eine häufig betriebene Spielerei denken, die darin besteht, aus mehreren Münzensorten, sagen wir 2-, 10- und 20-Hellerstücken, verschiedene Figuren zusammenzusetzen. Allerdings unterliegt die unbedingte Freiheit der Anordnung, die wir bei dieser Spielerei haben, in unserem Falle einer sehr wesentlichen Einschränkung, die eben durch das Studium der Natur und der Eigenschaften der einzelnen Atome sich ergeben hatte. Diese Einschränkung ist folgende: Man war zu der Vorstellung gekommen, dass jedem Atom eine bestimmte begrenzte Fähigkeit zukomme, sich mit anderen Atomen zu vereinigen und nannte und nennt diese Fähigkeit Valenz oder Wertigkeit und teilt die Atome je nach der Größe ihrer Valenz in ein-, zwei-, drei- und vierwertige usw. ein. Dem Wasserstoffatom mußte man Einwertigkeit zuschreiben, d. h. es besitzt nur eine Wertigkeit, vermag nur mit einem andern einwertigen Atom zusammenzutreten, dem Sauerstoff Zweiwertigkeit, d. h. die Fähigkeit, mit einem andern zweiwertigen oder zwei einwertigen Atomen sich zu vereinigen. Im selben Sinne wurde Stickstoff drei- und Kohlenstoff vierwertig genannt.

Diese Valenztheorie im Verein mit der früher gekennzeichneten Anschauung, dass die Natur einer chemischen Verbindung nicht nur von der Art der sie bildenden Elemente und deren Mengenverhältnis bedingt ist, sondern auch von der Art der Verteilung und Verkettung der Atome im Molekül abhängt, — man nennt diese Anschauung Strukturtheorie — haben die Entwicklung der Chemie ganz außerordentlich gefördert. Mit ihrer Hilfe ist man imstande, vorher anzugeben, wie viel isomere Verbindungen bei gegebener Zusammensetzung des Moleküls möglich sind. In allen einfachen Fällen, wie wir solche besprochen haben, hat man diese Isomeren auch immer aufgefunden. Bei komplizierten Molekülen allerdings war das bis jetzt nicht immer der Fall, da die Zahl der Isomerien so außerordentlich groß ist, dass man kaum daran denken kann, sie alle darzustellen. So erlaubt die Theorie von Säuren, welche im Molekül 9 Atome Kohlenstoff, 20 Atome Wasserstoff und 2 Atome Sauerstoff enthalten, nicht weniger als 211 verschiedene vorauszusehen.

Doch auch mit der Strukturtheorie fand man nicht das Auslangen, indem man isomere Verbindungen kennen lernte, bei welchen nicht nur die Anzahl der Atome im Molekül, sondern auch die Art ihrer Verkettung — man kann auf die letztere aus dem chemischen Verhalten der Verbindungen schließen — die gleiche ist. Es erfolgte wieder eine Erweiterung der Atom- und Molekularhypothese, die wir dem genialen Naturforscher J. H. van t’Hoff verdanken und die darin besteht, die Moleküle nicht wie man bis dahin gewohnt war als Gebilde in einer Fläche, sondern als räumliche Gebilde mit Ausdehnung nach drei Dimensionen vorzustellen. Auch diese Erweiterung — Stereochemie — hat sich als ganz außerordentlich fruchtbar erwiesen, sie hat nicht nur vorhandene Isomerien erklärt, sondern auch eine Fülle von Tatsachen vorhersehen lassen, die nachträglich durch die Erfahrung bestätigt wurden.

Wir wollen damit unsere Betrachtungen über die Molekular- und Atomhypothese abschließen. Ich bin mir sehr wohl bewusst, Ihnen von derselben nur ein dürftiges Bild, ein nacktes Gerippe gegeben zu haben, dem wir mangels an Zeit nicht Fleisch und Blut und Leben verleihen konnten. Immerhin glaube ich Ihnen gezeigt zu haben, dass es sich in der Tat um ein stolzes Gebäude handelt, um ein Gebäude, welches trotz der langen Zeit, die es zu seiner Fertigstellung benötigte, es doch nicht an Einheitlichkeit fehlen lässt. Die von Dalton erbauten Grundmauern haben sich als hinreichend stark erwiesen, um die nachträglich aufgesetzten Teile zu tragen und bilden mit denselben ein harmonisches Ganze.

Aber trotz aller Bewunderung, die wir der Molekular- und Atomhypothese zollen, können wir von unserer Behauptung, dass sie wie alle Hypothesen, nur etwas Vergängliches ist, nicht abstehen. Wir können diese Hypothese heute absolut nicht entbehren, ohne eine chaotische Unordnung heraufzubeschwören. Sie allein erlaubt es uns, die nach vielen Tausenden — gegen hunderttausend — zählenden chemischen Verbindungen einheitlich zusammenzufassen, zu beherrschen und ohne sie wäre man heute wohl nur sehr schwer in der Lage, mit so großem Erfolge zu forschen, wie dies tatsächlich geschieht.

Trotzdem mehren sich die Anzeichen, dass man in nicht gar zu ferner Zeit genötigt sein wird, von dieser Theorie Abschied zu nehmen. Ich will nur bemerken, dass die Grundannahme der diskreten Massenverteilung im Räume einem unserer wichtigsten Grundgesetze, das wir später zu besprechen haben werden, eine wesentliche mit den Tatsachen nicht vereinbare Einschränkung auferlegt, dass die Hypothese, trotzdem man sich alle nur erdenkliche Mühe gegeben hat, auf einem großen Gebiete der organischen Chemie keine richtige und eindeutige Beurteilung der Verhältnisse zulässt, und dass hervorragende Forscher, die selbst am Ausbau sehr bedeutend beteiligt waren, ihre Vergänglichkeit erkannt haben und erkennen: so Faraday, Kirchhoff, Maxwell, Planck usw.

Wir haben uns damit v. A. nicht nur über das Wesen der Atom- und Molekularhypothese, sondern der Hypothesen im allgemeinen hinreichend orientiert.

Was ihre Entstehung anlangt, so ist es, wie wir gesehen haben, in erster Linie das Streben nach Naturerklärung, jene unklare Neigung, in das Wesen der Dinge tiefer einzudringen, die zu ihrer Aufstellung drängt. Nun, es hat sich ergeben, dass sie etwas derartiges gar nicht zu leisten imstande sind, sie dringen durchaus nicht tiefer in das Wesen der Dinge ein, wohl aber geben sie ein anschauliches Bild von den Vorgängen, indem. sie dieselben in ein uns bekanntes Gewand kleiden. Dadurch erweisen sie sich uns in vieler Beziehung als äußerst nützlich, in manchen Perioden der Entwicklung vielleicht sogar als unentbehrlich. Ja es lässt sich wohl behaupten, dass die Naturmythen in diesem Sinne auch Hypothesen sind, dass ihre Entstehung auf dieselbe Quelle zurückgeführt werden kann. Denn die Neigung-, die Natur Vorgänge als Lebensäußerungen von göttlichen Wesen hinzustellen und sie anderseits als bewegte Materie anzusehen, lässt wohl eine Differenz der Standpunkte, nicht aber der Methode erkennen. Außerordentlich klar tritt letztere in der Völuspa (der älteren Edda) mit ihrer immer wiederkehrenden neckischen Frage „Wisst ihr's zu deuten?“ hervor.

Dementsprechend lässt sich Mach auch einmal vernehmen: „Die Hypothesenbildung ist also nicht das Ergebnis einer künstlichen, wissenschaftlichen Methode, sie geht vielmehr ganz unbewusst schon in der Kindheit der Wissenschaft vor sich.“

Wir haben wiederholt betont, dass eine Hypothese alle bekannten Tatsachen ihres Gebietes einheitlich zusammenfasst, gerade so, wie dieses bei den Naturgesetzen und Begriffen der Fall ist. Sie drängt dieselben gleichsam in eine einzige Formel zusammen, aus welcher für den Eingeweihten die Tatsachen hinwiederum mit scheinbar logischer Notwendigkeit sich herauslesen lassen. In dieser Hinsicht gleichen sie den philosophischen Systemen, welche ja auch das Weltgeschehen in einen einzigen Satz zusammenzufassen bestrebt sind, in eine Formel, wie sie Faust sucht und gefunden zu haben glaubt, als er das Zeichen des Makrokosmus erblickt:

Ha! welche Wonne fließt in diesem Blick
Auf einmal mir durch alle meine Sinnen!
Ich fühle junges, heiliges Lebensglück
Neuglühend mir durch Nerv und Adern rinnen.
War es ein Gott, der diese Zeichen schrieb,
Die mir das innere Toben stillen.
Das arme Herz mit Freude füllen.
Und mit geheimnisvollem Trieb
Die Kräfte der Natur rings um mich her enthüllen?
Bin ich ein Gott? Mir wird so licht!
Ich sehe in diesen reinen Zügen
Die wirkende Natur vor meiner Seele liegen.

Wie alles sich zum Ganzen webt,
Eines in dem anderen wirkt und lebt!
Wie Himmelskräfte auf- und niedersteigen
Und sich die goldenen Eimer reichen,
Mit segenduftenden Schwingen
Vom Himmel durch die Erde dringen.
Harmonisch all das All durchklingen!


So stellt eine zu einer Zeit gültige Hypothese das jeweilige Wissen, dem sie gilt, in nuce dar. Diesem Streben nach Einheitlichkeit, nach Übersicht sowohl wie auch vielleicht ästhetischen Gründen, dem Gefallen an den schönen Gebilden mag die Zähigkeit zuzuschreiben sein, mit welcher man an schon längst überlebten Hypothesen festhält. Natürlich spielt dabei auch eine gewisse Bequemlichkeit eine große Rolle, der zufolge man gerne bei dem Althergebrachten bleibt und sich schwer entschließt, Vorstellungen aufzugeben, deren Ausbildung eine große Summe geistiger Arbeit erforderte.

Wie wir mehrfach erwähnten, lassen Hypothesen in sehr vielen Fällen neue Tatsachen vorhersehen und das ist natürlich von unschätzbarem Vorteil. Mit Recht beurteilt man daher den Wert einer Hypothese nach der Menge von Unbekanntem, das sich aus ihr folgern lässt und nachträglich durch die Erfahrung Bestätigung findet. Eine gute Hypothese stellt also einen Führer ins Unbekannte vor und viele Forscher machen von dieser Eigenschaft ausgiebigen Gebrauch, indem sie sich sogenannter Arbeitshypothesen bedienen, d. h. naheliegender Annahmen, die ihnen in einem unbekannten Gebiet als Führer dienen und sie vor planlosem Arbeiten, schützen sollen.

Sie sehen also, dass man Hypothesen sehr wohl und mit Nutzen gebrauchen kann, wenn man sich ihr Wesen immer vor Augen hält, sich stets daran erinnert, dass es sich nur um Bilder handelt, die uns wertvolle Hilfsmittel bei der Erforschung und Beherrschung der Tatsachen abgeben.

Anderseits aber ist gewiss nicht zu leugnen, dass Hypothesen auch schon sehr viel Unheil gestiftet haben. Fasst man sie buchstäblich auf und erblickt in ihnen einen vollkommenen Ausdruck der Wirklichkeit, so ist das für eine gedeihliche Entwicklung der Naturwissenschaften gewiss nur hinderlich. Denn vor allen Dingen geht ja jede Hypothese über die Erfahrung hinaus und verstößt damit gegen das Grundgesetz aller Naturforschung: einmal nimmt man unwägbare Stoffe an, ein andermal konstruiert man ein Medium, welches zwar Stoff, aber weder fest noch flüssig noch gasförmig ist usw.

Es hat nicht an Verknöcherung der Wissenschaften durch die Hypothesen gefehlt. Man war und ist so an diese Krücken gewöhnt, dass man sie nicht missen kann und ihnen gelegentlich einen größeren Wert zumisst als den Tatsachen selbst, ja es fehlt nicht an Beispielen dafür, dass, anstatt die Theorie den Tatsachen anzupassen, man umgekehrt trachtet, an den Tatsachen so lange zu deuteln, bis sie sich der Theorie einpassen lassen. „So kann es geschehen, dass eine Ansicht, welche die bedeutendsten Entdeckungen herbeigeführt hat . . . ., zu einer späteren Zeit auf einem Gebiet, wo sie nicht zutrifft, ein Hemmnis des Fortschrittes wird, indem dieselbe die Menschen geradezu blind macht gegen Tatsachen, welche der beliebten Theorie nicht entsprechen.“ (Mach.)

Die ausschließliche Benutzung der Hypothesen hat eine gewisse Bequemlichkeit mit schwerwiegenden Folgen gezeitigt. Die Gewohnheit, sich die Dinge immer durch mechanische Vorgänge zu verdeutlichen und im Bilde vorzustellen, hat den Blick schließlich von den gegebenen Tatsachen abgelenkt und nur mehr das Bild sehen lassen. Man kann wohl mit Recht sagen, dass auf diese Weise sehr viel feines Empfinden für die Natur, viel Einsicht in ihre Gesetze und Unterscheidungsvermögen für ihre Erscheinungen verloren gegangen ist. In diesem Sinne äußert sich auch einmal Goethe:*) „. . . . wie es schon in meinem „Götz“ heißt, dass das Söhnlein vor lauter Gelehrsamkeit seinen eigenen Vater nicht erkennt, so stoßen wir auch in der Wissenschaft auf Leute, die vor lauter Gelehrsamkeit und Hypothesen nicht mehr zum Sehen und Hören kommen. Es geht bei solchen Leuten alles rasch nach innen; sie sind von dem, was sie in sich herumwälzen, so okkupiert, dass es ihnen geht wie einem Menschen in Leidenschaft, der in der Straße seinen liebsten Freunden vorbeirennt, ohne sie zu sehen. Es gehört zur Naturbeobachtung eine gewisse ruhige Reinheit des Innern, das von gar nichts gestört und präokkupiert ist ... . Wollte Gott, wir wären alle nichts weiter als gute Handlanger! Eben weil wir mehr sein wollen und überall einen großen Apparat von Philosophie und Hypothesen mit uns herumführen, verderben wir es.“

*) Gespräche mit Eckermann (Diederichs), Bd. II, S. 219.

Wenn wir nun zum Schlusse unserer Betrachtungen über die Hypothesen eilen, möchte ich mir erlauben, Sie noch auf eines aufmerksam zu machen, nämlich auf die Entwicklung der Elektrizitätslehre. Dieselbe hat sich — das kann man wohl mit Recht sagen — ohne Hilfe einer Hypothese entfaltet, denn die Stofftheorie, von der wir sprachen, war eine grobsinnliche Vorstellung, die nur zur Zeit der ersten Anfänge genügte und eine später von Ampere aufgestellte Theorie hat es niemals zu Ansehen und Einfluss bringen können. Die geradezu glänzende Entwicklung dieses Zweiges der Physik hindert nicht, dass sich noch immer Zweifler finden, die meinen, dass wir trotz der großen Fortschritte auf diesem Gebiete über das eigentliche Wesen der Elektrizität ebenso im Unklaren sind wie vor hundert Jahren. Ihnen wollen wir im Sinne Robert Mayers antworten, dass wir unter dem Wesen der Elektrizität nur die Gesamtheit ihrer Eigenschaften verstehen und dass, „wenn wir das Verhalten der elektrischen Erscheinungen in ihren kleinsten wie großartigsten Bekundungen so genau kennen, dass wir sie auf das feinste nach unseren Wünschen und Bedürfnissen regeln können, wir in der Tat ein recht weitgehendes Wissen über ihr Wesen haben.“ (Ostwald.) Was sollte die Elektrizität auch anderes sein, als die tausend Dinge, die wir von ihr wissen und die tausend anderen, die wir noch über sie zu erfahren hoffen.

V. A. Wir wollen damit endgültig von den Theorien und Hypothesen Abschied nehmen. Nun wir befinden uns jetzt in einer eigentümlichen Lage; wir haben ein großes Zerstörungswerk unternommen, haben die Hypothesen, die in den Naturwissenschaften eine so beherrschende Rolle spielen — ich erinnere Sie an den ungeheuren Aufwand von Zeit und Mühe, der auf ihre Ausarbeitung und Vertiefung verwendet wurde und noch wird — haben die Hypothesen entthront beziehungsweise sie zu Göttern zweiter Ordnung degradiert und könnten jetzt wohl versucht sein, über trostlose und öde Leere zu klagen und jene schönen Zeiten zurückzuersehnen, wo, wie es in den Göttern Griechenlands heißt

— der Dichtung zauberische Hülle
Sich noch lieblich um die Wahrheit wand.


Doch wir beklagen uns mit Unrecht. Es muss allerdings zugegeben werden, dass unsere Hypothesen mit ihren bewegten Molekülen, ihrem schwingenden Äther usw. die Welt belebt und bevölkert haben und dass das Bild, welches sie uns entrollen, ein schönes genannt zu werden verdient, ein schönes durch die Festhaltung an dem einen Grundgedanken, dass alles, was wir kennen, bewegte Materie sei, ein schönes aber auch dadurch, dass dieser Grundgedanke in der mannigfaltigsten Weise durchgeführt und gegliedert wird.

Aber wir brauchen den Verlust nicht zu betrauern; dadurch dass wir die Hypothesen entthront haben, gewinnen wir unendlich viel, vor allem unsere volle Unbefangenheit der Natur gegenüber, d. h. wir sehen die einzelnen Naturerscheinungen nicht mehr durch die Brille der Hypothese, sondern frei von dem vorgefassten Gedanken und damit ist sehr viel erreicht. Und weiter sind wir — frei von allen Stützen und Krücken — gezwungen, die Erscheinungsformen mit mehr Gewissenhaftigkeit in ihren besonderen Eigenschaften, in ihrem speziellen Wesen zu betrachten, sie aufmerksamer und gründlicher zu studieren als früher. Wenn die Wärme — wir wollen gar nicht näher darauf eingehen, wie geringe Ehre im Grunde genommen diese Auffassung dem menschlichen Geist macht — nichts anderes ist als Bewegung, dann haben wir wenig Ursache, auf das ihr eigentümliche einzugehen, ihre Besonderheiten von einem höheren, einem allgemeineren Gesichtspunkt aus zu erforschen, gerade dasjenige hervorzusuchen, was sie von einer Bewegung, von Elektrizität etc. unterscheidet.

Nachdem sich die Hypothesen als etwas Trügerisches erwiesen haben, kehren wir zu unseren Naturgesetzen zurück. Wir werden sehen, dass sie uns einen vollwertigen Ersatz für das Verlorene zu geben imstande sind, wenn sie auch an unsere geistige Arbeit, an unsere Ausdauer und Freude am Naturerkennen größere Anforderungen stellen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber die Grundlagen der exakten Naturwissenschaften