Kausalität, Hypothesen

V. A. unsere bisherigen Betrachtangen haben uns dazu geführt, die Wege kennen zu lernen, auf welchen wir zu einer intellektuellen Beherrschung des natürlichen Geschehens gelangen, zwei Fragen in einer für unsere Zwecke entsprechenden Weise zu beantworten: die Fragen was geschieht und wie geschieht es. In ganz ungezwungener Art gliedert sich daran eine dritte Frage, die Frage warum, die Frage nach dem Grunde, nach der Ursache eines Geschehnisses, deren Beantwortung wir als Erklärung dieses Geschehnisses bezeichnen.

Gerade diese Frage hat merkwürdigerweise seit jeher das Interesse des Laien in weit höherem und nachhaltigerem Grade beansprucht als die beiden anderen und es ist ja wohl die Meinung ganz allgemein verbreitet, dass die Hauptaufgabe der Naturwissenschaften darin besteht, das Wesen der Dinge zu erklären, jedem „Warum“ sein „Darum“ gegenüberzustellen, für jedes Ereignis in der Natur die Ursache anzugeben; ja Schopenhauer nennt in einer seiner schönsten Schriften die Frage „Warum“ geradezu die Mutter der Naturwissenschaften. Und jeder einzelne erinnert sich wohl des Gefühles der Befriedigung, das er empfand, als er die Ursache für das Fallen der Körper in der anziehenden Kraft der Erde kennen lernte und ihm die Erklärung gegeben wurde, die Wärme sei eine Art von Bewegung — ein abschließendes, beruhigendes Gefühl, das in seiner Art lebhaft an dasjenige erinnert, welches aus den Worten des Schülers spricht:


Denn, was man schwarz auf weiß besitzt.
Kann man getrost nach Hause tragen.


Nun, wir stoßen damit auf einen Punkt von großer Bedeutung, auf eine prinzipiell sehr wichtige Angelegenheit, deren Besprechung uns die Rechtfertigung der eingangs angestellten Betrachtungen ergeben wird. Es sei zunächst auf den merkwürdigen Gegensatz hingewiesen, in welchem die landläufige Meinung und die früher zitierten Worte Schopenhauers mit den Aussprüchen zweier genialer Naturforscher stehen, von denen der eine, Robert Mayer, sich vernehmen ließ: „Die wichtigste, wenn um nicht zu sagen einzige Regel für die echte Naturforschung ist die, eingedenk zu bleiben, dass es unsere Aufgabe ist, die Erscheinungen kennen zu lernen, bevor wir nach Erklärungen suchen oder nach höheren Ursachen fragen mögen. Ist einmal eine Tatsache nach allen ihren Seiten hin bekannt, so ist sie eben damit erklärt und die Aufgabe der Wissenschaft ist beendigt.“ Ein anderer, Kirchhoff, gebraucht die Worte: „Die Aufgabe der Physik sei es, die Tatsachen in möglichst einfacher und vollkommener Weise zu beschreiben.“ Wir finden in diesen beiden, seither unzähligemal zitierten Aussprüchen nichts von Erklärung erwähnt; wenn man bedenkt, wie sehr dieselben den Anschauungen der damaligen Naturforscher widersprechen, wird es erklärlich, dass sie großes Aufsehen erregten, und wohl auch heute noch sich mancher Fernestehende zu der Äußerung hinreißen lässt, die Naturwissenschaften hätten von ihrem Glanz, von ihrem Ansehen durch eine solche Auffassung sehr viel verloren.

Doch wir wollen unserer Frage nähertreten und zunächst genau anzugeben trachten, um was es sich eigentlich handelt. Fassen wir irgend ein Geschehnis in der uns umgebenden Natur ins Auge, etwa die Ablenkung einer Magnetnadel durch den elektrischen Strom, das Rosten des Eisens, das Verwittern der Gesteine, das Schmelzen eines Metalls in der Hitze usw., so drücken wir uns im Sinne jener Gegenüberstellung von warum und darum dahin aus, dass die Ursache für die Ablenkung der Magnetnadel in dem elektrischen Strom, die Ursache für das Eintreten der genannten chemischen Prozesse in den entsprechenden chemischen Verwandtschaftskräften zu suchen, das Schmelzen eine Wirkung der Hitze sei usf. Ebenso nehmen wir als Ursache unserer Lichtempfindungen die Schwingungen eines rätselhaften Stoffes des Äthers an und nennen als Ursache unserer Gehörsempfindungen die Schwingungen der uns umgebenden Luft. Diese Gesetzmäßigkeit, dass jede Wirkung eine Ursache habe, dass nichts ohne zureichenden Grund geschieht, dass sich jeder Frage warum ein weil entgegensetzen lässt, führt den Namen des Kausalgesetzes *) und man bezeichnet den geschilderten ursächlichen Zusammenhang wohl auch als kausale Verknüpfung oder Kausalnexus. Insoweit liegen die Verhältnisse ganz klar, als wir ja damit nichts weiter tun, als einer Gesetzmäßigkeit Ausdruck geben, deren Richtigkeit uns durchaus evident erscheint. Worauf es jedoch ankommt, ist, uns selbst genau zu beobachten und dasjenige auszusprechen, was wir bei einem Satze: die Ursache für die Ablenkung der Magnetnadel ist das Vorhandensein eines elektrischen Stromes, eigentlich denken und fühlen, dasjenige auszudrücken, was in einem solchen Satze unausgesprochen versteckt ist. Im einzelnen mag das von Mensch zu Mensch bis zu einem gewissen Grade verschieden sein, im großen ganzen wird man jedoch nicht fehlgehen, wenn man annimmt, dass damit versteckt die Empfindung verknüpft ist, als stehe in dem stromdurchflossenen Drahtstück ein kleiner Kobold, ein Tyrann, der, mit eigenem Willen ausgestattet, die Ablenkung der Magnetnadel befiehlt; dieser Tyrann ist zwar durchaus nicht so launisch, wie man sonst den Tyrannen nachzusagen pflegt, aber er befiehlt immerhin der Magnetnadel unwiderruflich, eine Schwingung in einer bestimmten Richtung auszuführen. Ganz ähnlich mit dem Fallen, auch hier haben wir das Gefühl, dass die Erde mit unsichtbaren Händen die Gegenstände an sich zieht und der fallende Gegenstand zu ihr in dem Verhältnisse des gehorsamen Untertanen zu seinem Gebieter steht. Es verbirgt sich also hinter dem Kausalgesetz, wie es gewöhnlich gebraucht wird, etwas Übersinnliches, etwas Metaphysisches, dessen man sich vielleicht nicht immer bewusst ist. Ganz ähnlich wie die selbstgeschaffene Mode, Sitten und Gebräuche durch den Einfluss der Zeit etwas Heiliges, Überirdisches erlangen oder wie das Stück Holz, das der Wilde schnitzt, durch seine Selbsterniedrigung zum anbetungswürdigen Götzen wird. Diese eigentümliche Stellung, in welche das Kausalgesetz durch eine im menschlichen Gemüte tief eingewurzelte Eigentümlichkeit — seine eigenen Gedanken und Empfindungen in die Außenwelt zu verlegen und sie dann als etwas aus einer fremden Welt Kommendes zu verehren — gedrängt wurde, ist auch schon längst erkannt. So lässt sich z. B. St. Mill in seiner Logik folgendermaßen vernehmen: „Der Begriff von Ursache schließt nach den gegenwärtig am meisten in Ruf stehenden metaphysischen Schulen ein geheimnisvolles, höchst wirksames Band in sich, wie es zwischen einer physikalischen Tatsache und einer andern physikalischen Tatsache, wovon sie eine unveränderliche Folge ist und welche in populärer Sprache Ursache heißt, nicht existieren kann oder wenigstens nicht existiert.“ Ebenso spricht Mach einmal von „dem Glauben an die geheimnisvolle Macht, Kausalität genannt“, ein andermal äußert er sich: „Ich hoffe, dass die künftige Naturwissenschaft die Begriffe Ursache und Wirkung, die wohl nicht für mich allein einen starken Zug von Fetischismus haben, ihrer formalen Unklarheit wegen beseitigen wird.“

*) Das Kausalgesetz umfasst im Grunde genommen mehrere voneinander wohl zu unterscheidende Fälle, von dienen uns jedoch nur die Beziehung, Ursache und Wirkung interessiert. Vgl. Schopenhauer: Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde.

Was diesen letzten Punkt anlangt, so tritt die Unklarheit in einer überaus großen Zahl von Fällen, in denen wir das Kausalgesetz ohne weiteres anwenden zu können glauben, deutlich hervor. Wir sprachen von der Ablenkung einer Magnetnadel durch den elektrischen Strom und können diese Erscheinung sehr leicht beobachten, wenn wir etwa eine kleine Taschenbussole in die Nähe eines stromdurchflossenen Drahtes bringen. Wir wollen diesen Versuch jetzt ein wenig abändern, indem wir die Magnetnadel durch einen U-förmig gebogenen Magneten ersetzen, den wir durch Bewegung unserer Hand in eine ganz bestimmte Lage bringen und in derselben erhalten können. Umgekehrt soll das stromdurchflossene Drahtstück jetzt nicht wie früher eine fixe Lage haben, sondern beweglich sein, was sich erreichen lässt, indem man eine aus mehreren Windungen bestehende Drahtspirale an einem Faden aufhängt. Schicken wir durch dieselbe einen Strom und nähern den Magneten, so wird sie aus ihrer Lage abgelenkt und kehrt in dieselbe zurück, wenn wir den Magneten entfernen oder den Strom unterbrechen. Sie erkennen aus diesem Experiment, dass zwischen einem stromdurchflossenen Drahtstück und einem Magneten Wechselbeziehungen bestehen, dass sich die beiden gegenseitig beeinflussen und das Eintreten einer Bewegung nur davon abhängt, ob einer der beiden Teile beweglich ist. Nun, das ändert unsere frühere Vorstellung ganz und gar, wir können nicht mehr annehmen, dass in dem Drahtstück der gebietende Herr sitzt, sondern müßten, wenn wir inzwischen nicht schon von jener ersten Auffassung des Kausalnexus abgekommen sind, jetzt annehmen, dass auch ein derartiger Tyrann im Magneten sitzt. Es ist wohl nicht notwendig, dies weiter auszuführen, man erkennt, dass die Frage warum, wenn sie im landläufigen Sinne gebraucht und mit jenen Herrschervorstellungen verknüpft wird, in den Naturwissenschaften überhaupt keinen rechten Sinn mehr ergibt und ihr daher die Berechtigung abgesprochen werden muss. Ursache und Wirkung haben nicht jenen Sinn, den wir ihnen im gewöhnlichen Leben beizulegen gewöhnt sind, es steckt vielmehr gar nichts dahinter als die Erkenntnis von der Gesetzmäßigkeit alles Geschehens in der Natur. Auch beim freien Fall vermeinen wir zu erklären, indem wir der Erde eine anziehende Kraft zuschreiben; aber geradeso wie bei dem letzt betrachteten Beispiel führt auch hier eine eingehendere Betrachtung zu dem Ergebnis, dass jeder Körper die Erde gerade so stark anzieht, wie er von ihr angezogen wird, dass auch hier Wechselwirkungen bestehen, indem ganz allgemein zwei Körper das Bestreben haben sich zu nähern. Sie sehen auch hier, wie die Frage warum, das Bestreben die Wirkung auf eine Ursache zurückzufahren nur einen sehr beschränkten Wert hat und wir uns, wenn wir. in der Erkenntnis weiter dringen, nur zu gern mit unseren Naturgesetzen begnügen, welche im Sinne Kirchhoffs die Tatsachen einfach beschreiben. Wie eben ausgeführt, lässt sich die Beziehung Ursache und Wirkung in vielen Fällen zurückführen auf ein Verhältnis der Gegenseitigkeit, welches die landläufige Bedeutung des Kausalgesetzes direkt aufhebt und den Gedanken nahe legt, dass sich die letztere im Laufe der Zeit aus der einfachen Erkenntnis der zeitlichen Folge zweier Ereignisse oder aus einer Übertragung der aus dem menschlichen Leben stammenden Begriffe handelnd und leidend entwickelt haben mag. Aber auch in Fällen, in welchen ein einfaches Verhältnis der Gegenseitigkeit sich nicht ohne Zwang herstellen lässt und auf den ersten Blick eine Beziehung zwischen Ursache und Wirkung im gewöhnlichen Sinne zu bestehen scheint erweist sich bei näherer Betrachtung diese Auffassung als durchaus nicht zureichend. Wir sagen z. B., dieser Mensch sei an einer Lungenentzündung gestorben und es scheint nichts natürlicher, als beizufügen, diese Krankheit wäre die Ursache seines Todes, letzterer die Wirkung der Entzündung. Aber bei näherer Betrachtung erweist sich diese Darstellung des Verhältnisses doch nur als eine rein äußerliche, eine rein formale. Denn schließlich hängt das Ereignis des Todes gerade so sehr von der Konstitution des Kranken und von einer großen Reihe von augenblicklichen Verhältnissen oder Umständen ab und es ist die Bezeichnung der Krankheit als Ursache des Todes wohl nur dadurch zu rechtfertigen, dass es ganz unmöglich ist, eine vollkommen erschöpfende Darstellung des Sachverhaltes zu geben und alle Ursachen ausfindig zu machen. Wir begnügen uns vollständig damit, in jedem einzelnen Falle von den zahllosen Ursachen eine besonders hervorstechende herauszusuchen und diese als die eigentliche, die alleinige Ursache des Geschehnisses hinzustellen.

Die Sache ließe sich wohl im einzelnen ausführen, aber das Gesagte genügt, um die neuerdings hervortretenden Bestrebungen zu rechtfertigen, welche dahin zielen, das altehrwürdige Kausalgesetz auf seinen richtigen Wert zurückzuführen. Es erscheint als der Ausdruck der Tatsache, dass alles Geschehen in der Natur gesetzmäßig vor sich geht und in diesem Sinne sagt Mill: „Es ist ein Gesetz, dass jedes Ereignis von einem Gesetz abhängig ist, es ist ein Gesetz, dass es ein Gesetz für alles gibt.“ Und pflichten wir dieser Auffassung bei, so sind wir auch damit einverstanden, wenn Mill wenige Zeilen später sich äußert: „der Begriff von Ursache ist einzig ein Begriff, der aus der Erfahrung gewonnen weiden kann“. Es ist also wiederum die Erfahrung, auf welche wir in letzter Linie zurückgeführt werden und geradeso, wie wir vermöge des synthetischen Grundzuges unseres Geistes die einzelnen Erfahrungen behufs intellektueller Beherrschung der Natur zu Gesetzen zu vereinigen suchen, so offenbart sich dieses Bedürfnis auch hier, und zwar in viel deutlicherer Weise. In dieser Hinsicht und Auffassung erscheint das Kausalgesetz durchaus berechtigt ja als ein ebenso wichtiges und wertvolles Mittel für unsere Zwecke als die Aufstellung von Naturgesetzen.

Wogegen jedoch entschiedene Einsprache erhoben werden muss, sind die Auswüchse, die aus einer gedankenlosen Anwendung hervorgehen und bei welchen die Befriedigung des besprochenen Bedürfnisses eine rein äußerliche, rein formale ist. Wie weit man in dieser Hinsicht geht, ergibt sich wohl am deutlichsten daraus, dass man sogar von negativen Ursachen spricht: das Fehlen, Ausbleiben eines Ereignisses ist die Ursache für den Eintritt eines andern Ereignisses. Bedenkt man, wie innig im gewöhnlichen Sinne gebraucht das Kausalgesetz mit den Begriffen handelnd und leidend, Herrscher und Untertan verquickt ist, so erkennt man sofort, dass es sich hier sogar um eine — wie gesagt — gedankenlose Anwendung der als unbrauchbar erkannten landläufigen Auffassung handelt.

Wenn nun aus dem Dargelegten die eigentliche Bedeutung des Kausalgesetzes sich klar ergibt und sein Wert auf das richtige Maß zurückgeführt erscheint, so lohnt es sich dennoch, die Sache auch noch von einer andern Seite zu betrachten. Wir vermeinen durch Anwendung des Kausalgesetzes, d. h. durch Suchen nach Ursachen der Naturvorgänge diese zu erklären, und dieses „Erklären“ erweist sich bei näherer Betrachtung als etwas begrifflich geradeso unklares, wie die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung selbst. Wir begegnen auch in dieser Hinsicht bei Anwendung des Kausalgesetzes einem mystischen Zuge, der übrigens hier ganz unverhüllt zutage tritt, wenn wir dem Bedürfnis des Erklärens nachgebend, von Ursache zu Ursache weiter schreiten; jede Ursache erheischt dann selbst wieder eine Ursache und wir gelangen auf diese Weise schließlich dazu, den Boden der Erfahrung zu verlassen und uns im Ungewissen zu verirren. Eine flüchtige Betrachtung lehrt uns bald, dass dieses Erklären der Natur im Grunde genommen nur eine Seite des uns innewohnenden Bestrebens nach Einheitlichkeit, nach Zusammenfassung ist und sich immer in ein Zurückführen von Neuem, Unbekanntem auf Bekanntes, Gewohntes auflösen lässt. Alles, was schon in unserem Weltbild enthalten ist, scheint uns erklärt zu sein, alles neue erst einer solchen Erklärung zu bedürfen. Es lassen sich leicht zahlreiche Beobachtungen anstellen, welche uns zeigen, wie wenig ernst es im Grunde genommen mit diesem Erklären genommen wird, indem oft eine entfernte Ähnlichkeit, ein passend gewähltes Wort etc. als Erklärung hingenommen und als hinreichend angesehen wird, den gewünschten Zusammenhang mit Bekanntem herzustellen. Diese Genügsamkeit lässt deutlich erkennen, dass der mystische Einschlag des Wortes Erklären auf ein Vorurteil zurückzuführen ist, von dem sich zu befreien wohl die Mühe lohnt. Jedes Erklären in dem gewöhnlichen Sinne ist eine ganz unfruchtbare Aufgabe, es gibt in der Natur nichts, was sich in dieser Weise erklären ließe. So sagt einmal Grillparzer, dessen Zeugnis in dieser Hinsicht wohl ganz unverdächtig ist: „Unser Erklären der Natur besteht darin, dass wir ein selten vorkommendes Unverständliche auf ein oft vorkommendes, aber ebenso Unverständliches zurückführen.“ Und dieser selbe Gedanke ist es, der in den „Helden“ Carlyles immer wiederkehrt und einmal in einer sehr prägnanten, für Jünger der Wissenschaft allerdings wenig sympathischen Weise folgenden Ausdruck erhält:

„Wir nennen jenes Feuer der schwarzen Gewitterwolke „Elektrizität“ und verhandeln gelehrt darüber und schleifen Ähnliches aus Glas und Seide; aber was ist es? Was schuf es? Woher kommt es? Wohin geht es? Viel hat die Wissenschaft für uns getan; aber es ist das eine arme Wissenschaft, welche die große, tiefe, heilige Unendlichkeit der Nichtwissenschaft vor uns verbergen wollte, in die wir nimmer eindringen können und auf welcher alle Wissenschaft schwimmt wie eine bloße oberflächliche dünne Haut. Die Welt, ungeachtet all unserem Wissen und unseren Wissenschaften, ist noch immer ein Wunder; unerforscht, zauberhaft und noch mehr, für jeden der darüber denkt.“ Entkleiden wir also die Frage warum allen mystischen Beiwerks, so bleibt für uns noch immer ein sehr wertvoller Kern übrig, indem sie geradeso wie die Fragen, was geschieht in der Natur und wie geschieht es, unser Bedürfnis nach einheitlicher Zusammenfassung unserer Beobachtungen befriedigen hilft und uns zu gedanklicher Bewältigung der letzteren führt. Richtig angewendet, entspringt sie der Erkenntnis von der Gesetzmäßigkeit allen Geschehens in der Natur und weist auf die Erfahrung als die Quelle aller unserer Kenntnisse zurück. In diesem Sinne können wir die Frage warum auch immer gebrauchen, ohne fürchten zu müssen, dass sie uns in eine Sackgasse führt; so gestellt, ist sie durchaus dort berechtigt, wo es sich darum handelt, Widersprüche aus unseren Beobachtungen zu eliminieren; sie führt dann dazu, neue Ereignisse entweder bereits bekannten Naturgesetzen einzuordnen oder aber neue Naturgesetze aufzustellen, niemals aber wird sie uns, so gebraucht, dazu verleiten, dort zu fragen, wo es nichts mehr zu fragen und zu verstehen gibt. So wird die Anschauung Kirchhoffs von den Aufgaben der Naturwissenschaften als einer möglichst einfachen und vollkommenen Beschreibung der Naturvorgänge verwirklicht und jede falsche Erklärung der Natur vermieden.

Nachdem wir uns also Rechenschaft gegeben haben über das Kausalitätsprinzip, erübrigt es uns nur noch, zu sehen, wieso wir zu der als unbrauchbar erkannten Art und Weise, die Naturgeschehnisse zu betrachten, gekommen sind. Eine sehr weit verbreitete, insbesondere von englischen Philosophen angenommene Anschauung über diesen Punkt ist folgende: Die uns geläufigsten Änderungen in unserer Umgebung sind jene, welche durch unseren Willen eingeleitet werden. Nichts ist uns gewisser als die Verknüpfung von Wille und Bewegung unserer Glieder. Das ursprüngliche und naive Bewusstsein trachtet infolgedessen, jede Änderung in der Natur auf einen Zusammenhang zwischen einem Willen und einer Bewegung zurückzuführen, sieht also jedes Ereignis als den Ausfluss eines Willens an, weil ihm dieser Zusammenhang aus seiner eigenen Erfahrung am geläufigsten ist. Nun, diese Art der Naturauffassung wilder Völker haben wir bereits früher kennen gelernt und sie Fetischismus genannt und daher sieht sich auch Mach zu dem Ausspruch veranlasst, dass für ihn in dem Kausalitätsgesetz ein Stück Fetischismus versteckt liege. In diesem Sinne also hätte die landläufige Auffassung des Kausalgesetzes ihren Ursprung in einer uralten Denkgewohnheit, die sich die Ereignisse der Natur dadurch näher zu bringen trachtet, dass sie sie auf den uns sehr geläufigen Zusammenhang zwischen Wille und Bewegung zurückzuführen bestrebt ist. Infolge der unaufhörlichen und ausschließlichen Benutzung dieser Anschauungsart können wir uns von ihr nicht mehr losmachen, so wie wir uns von der Täuschung, hinter einem Spiegel etwas zu sehen, trotz unserer besseren Einsicht nicht frei zu machen imstande sind. Dieser Auffassung zufolge hätten wir das Kausalgesetz zu vergleichen den selbstgeschaffenen Plagegeistern Don Quixotes oder den Geistern, welche der Zauberlehrling in Abwesenheit des Meisters zwar zu rufen verstand, die er aber dann nicht los wird.

Die früher dargelegten Beziehungen zwischen dem Kausalgesetz und der Gesetzlichkeit alles Geschehens beziehungsweise den Naturgesetzen legt es nahe zu fragen, ob uns ähnliche Verhältnisse nicht auch bei letzteren begegnen; und das ist tatsächlich der Fall. Zwar sehen wir auf der einen Seite, dass eine klare Erkenntnis von einer durchgängigen Gesetzmäßigkeit in der Natur nur einer verschwindend kleinen Anzahl von Menschen zugesprochen werden kann, die große Menge vielmehr jeden Zusammenhang, jeden Aberglauben anzunehmen bereit ist, so dass Schopenhauer den Grad der Bildung der Menschen nach dem Umfange zu beurteilen geneigt ist, bis zu welchem der einzelne jene Erkenntnis besitzt. Auf der andern Seite aber finden wir, dass jene Tyrannen, die wir früher als Ursachen der Wirkungen kennen gelernt haben, uns bei der üblichen Auffassung der Naturgesetze wieder begegnen. Man spricht ja nur zu oft von den ehernen, unerbittlichen Naturgesetzen, man verehrt und betet sie als Götzen an und vergisst, dass der Mensch selbst es ist, der sie geschaffen hat. Denn so paradox es klingt, so müssen wir doch wenigstens in gewisser Hinsicht den Worten eines englischen Schriftstellers (Pearson) beipflichten, welcher meint, es hätte mehr Sinn zu sagen, der Mensch habe der Natur Gesetze gegeben als das Umgekehrte. Das eigentümliche Verhältnis zwischen beiden lässt sich wohl nicht besser kennzeichnen, als dies Ostwald tut: „Mit Gesetz bezeichnet man ja ursprünglich eine durch eine höhere Gewalt, einen Herrscher oder eine Regierung den Beherrschten auferlegte Kegel für ihr Verhalten unter gewissen Umständen, womit der wesentliche Nebengedanke verbunden ist, dass ein Abweichen von der Regel bestraft, die Einhaltung der Regel erzwungen wird . . . .“ „Tatsächlich ist unser Verhältnis zu den Naturgesetzen ein ganz anderes, viel gemütlicheres . . . .“ „Das Gesetz ist (also) keineswegs ein grausamer Wächter, der uns die Erlangung von irgend etwas Angenehmen wehrt, sondern es ist umgekehrt ein liebevoller Helfer, der uns eben das vermittelt, was wir wollen und erstreben, denn es zeigt uns den Weg, unserer Erlebnisse Herr zu werden und sie im Interesse einer Sicherung unserer Zukunft zu bearbeiten.“

Doch wir haben uns mit der Besprechung des Kausalgesetzes vielleicht schon etwas zu lang aufgehalten und müssen trachten, auf unserem Wege weiterzukommen. Wir haben bei der Untersuchung des Kausalgesetzes zwei interessante Momente kennen gelernt, nämlich einerseits die Frage warum, die wir in ihrer gewöhnlichen Bedeutung als unbegründet zurückgewiesen haben, und das Verlangen, die Natur zu erklären, mit dem wir uns noch beschäftigen wollen. Diesen beiden Momenten begegnen wir bei den naturwissenschaftlichen Hypothesen und Theorien wieder, ja es lässt sich sagen, dass letztere ihnen vielleicht zum allergrößten Teil ihre Entstehung verdanken. Bevor wir auf die Beurteilung dieser Gebilde näher eingehen, sei an spezielle Beispiele angeknüpft.

Sie erinnern sich unserer Ableitung des Ohmschen Gesetzes. Wir sahen damals, dass wir uns von den elektrischen Erscheinungen, die durch dieses Gesetz beherrscht werden, ein anschauliches Bild verschaffen können, wenn wir an fließendes Wasser denken; diese Analogie, so nannten wir diese Hilfsvorstellung, leistet sehr wertvolle Dienste, indem sie uns erlaubt, uns in scheinbar sehr verwickelten Verhältnissen rasch und sicher zurechtzufinden. Wir haben uns dabei vor Augen gehalten, dass es sich nur um eine Hilfsvorstellung, um ein Bild, um ein Gleichnis handelte und haben dies auch dadurch zum Ausdruck gebracht, dass wir sagten, die Elektrizität verhält sich, wie wenn oder als ob usw. Dem war jedoch nicht immer so, man war zu einer Zeit geneigt, aus der Ähnlichkeit des Verhaltens den Schluss zu ziehen, dass Elektrizität wirklich etwas dem Wasser nahe Verwandtes sei; ich erlaubte mir bereits, sie darauf aufmerksam zu machen, dass man das schon aus den Ausdrucksweisen: die Elektrizität fließt, strömt, elektrischer Strom usw. erkennt. Man gab sich der Vorstellung hin, dass die Elektrizität eine Flüssigkeit, ein Fluidum sei, dem man besondere Eigenschaften zulegen mußte. Wir sprechen von positiver und negativer Elektrizität. Man mußte daher annehmen, dass dieses Fluidum in zwei verschiedenen Arten existiert, welche sich nicht addieren sondern neutralisieren. Weiter war man gezwungen diesem Fluidum eine recht bedenkliche Qualität zuzuschreiben, nämlich die, kein Gewicht zu haben, unwägbar zu sein — dass man sich dazu nicht gerade gern entschloss, ist durchaus begreiflich. Von den weiteren Eigenschaften, die man ihm anzudichten genötigt war, brauche ich nicht zu reden, dieselben mußten so gewählt werden, dass mit ihrer Hilfe alle Erscheinungen der Elektrizität „erklärt“ werden. Ganz ähnlichen Vorstellungen hat man sich hingegeben, um das Wesen des Magnetismus und der Wärme zu erklären, man nahm auch hier Fluida, ein magnetisches und ein Wärmefluidum an, denen man gleichfalls die Eigenschaft der Unwägbarkeit zuschreiben mußte. Zu der Vorstellung eines unwägbaren Wärmestoffes war man in gleicher Weise gekommen, wie zu derjenigen einer elektrischen Flüssigkeit: Es geht Wärme von wärmeren zu kälteren Körpern über und man verdeutlichte sich diesen Vorgang, indem man sagte: es fließt das Wärmefluidum so lange von dem wärmeren zu dem kälteren Körper über, bis beide gleich warm geworden sind.

Derartige Annahmen, welche man nicht als bloße Gleichnisse, als Analogien, gebraucht, sondern als strengen Ausdruck der Wirklichkeit, als etwas dem tatsächlich Bestehenden entsprechendes ansieht, nennt man Hypothesen. Die genannten sind allerdings recht primitiv; sie wurden zu einer Zeit aufgestellt, als die Naturwissenschaften in denjenigen Gebieten, welchen diese Hypothesen gelten, noch nicht weit fortgeschritten waren. Aber gerade an diesen Beispielen können wir uns leicht anschaulich machen, welchen Gründen die Hypothesen ihre Entstehung verdanken — es wurde bereits früher darauf hingewiesen — nämlich einerseits dem Kausalitätsbedürfnis, der leidigen Frage warum, anderseits dem Streben, die Natur zu erklären. Wir können uns leicht davon Rechenschaft geben, wenn wir etwa an die Tatsache des Wärmeüberganges von einem wärmeren zu einem kälteren Körper denken; man begnügte sich nicht mit der Tatsache selbst, sondern fragte warum? warum findet ein derartiger Übergang statt? und glaubte die Antwort zu finden, wenn man durch die Ähnlichkeit verleitet annahm, dass die Wärme gleich dem Wasser etwas sehr Bewegliches sei, etwas was leicht von höher gelegenen — höher temperierten Orten zu tieferen — kälteren fließen könne. Damit gab man sich fürs erste zufrieden, man hatte kein Bedürfnis weiter zu fragen, denn das Fließen des Wassers ist etwas so Bekanntes, etwas so Alltägliches, Selbstverständliches, dass man mit dieser Annahme alles erledigt zu haben glaubte. Nun auf das innigste verknüpft mit der Frage warum ist das Bedürfnis nach Naturerklärung, dem ja in dem angeführten Falle durch die Hypothese auch Genüge geleistet wird. Die Frage, was ist die Wärme, war ja mit dieser Hypothese auch gleichzeitig beantwortet, sie ist ein Stoff, also nicht mehr etwas Rätselhaftes, Unerklärliches, sondern ein Stoff wie jeder andere, dem man allerdings besondere, zum Teil recht rätselhafte Eigenschaften beilegen musste, z. B. die der Unwägbarkeit. In weitaus den meisten Fällen fühlt man aus derartigen Erklärungsversuchen deutlich das Verlangen heraus, eine Tatsache oder Gruppe von zusammengehörigen Erscheinungen als etwas logisch Notwendiges hinzustellen. Damit, dass wir die logische Notwendigkeit, die nur in uns gelegen ist, in die Tatsachen der Natur hinausprojizieren, begehen wir natürlich einen Denkfehler von schwerwiegenden Folgen; denn wie schon mehrfach betont, zeigt die Natur nichts davon, wir können nur von einer durch Erfahrung gegebenen Gesetzmäßigkeit sprechen. Im Sinne dieser Ausführungen ist die Annahme eines elektrischen, magnetischen, eines Wärmefluidums zu verstehen.

Im innigsten Zusammenhang mit dem eben Gesagten steht eine Äußerung, welche wir in unserer ersten Vorlesung gebrauchten, dass in unseren Hypothesen noch ein Stück eines längst überwundenen Standpunktes, ein Stück Fetischismus liege; wenn auch die genannten Annahmen heute keinen Anklang mehr finden, so werden wir sehen, dass im Grunde genommen alle derartigen Gebilde denselben Gründen ihre Entstehung verdanken, die genannten rohen und einfachen gerade so wie die im Vergleich dazu unendlich verfeinerten, oft mit dem Aufwand größten Scharfblickes und genialer Anschauung bis in die kleinsten Details ausgearbeiteten und vertieften Hypothesen, wie man sie etwa zur Erklärung der chemischen Vorgänge oder des Lichtes ersonnen hat. In allen ist, wenn auch noch so sehr versteckt, ein Zug aus der eigentümlichen Betrachtungsweise der jugendlichen Völker verborgen, der uns noch aus unserer eigenen Kindheit vertraut ist und darin besteht, dass wir, anstatt die Tatsachen einfach so zu nehmen, wie sie uns die Erfahrung gibt, in dieselben etwas Geheimnisvolles, nicht näher zu Ergründendes hineindenken, aus dessen Vorhandensein die einzelnen Erscheinungen sich unmittelbar und notwenig ergeben — gerade so wie der Wilde in das geschnitzte Stück Holz ein lebendes Wesen hineinverlegt, welches dem eigenen nachgebildet und darum scheinbar in seinen Äußerungen durchaus verständlich ist. Es darf uns dieser Zug auch nicht wundernehmen; fürs erste, weil man Denkgewohnheiten — und um solche handelt es sich hier — nur äußerst schwierig ablegt; sie als solche zu erkennen und sich von ihnen frei zu machen, kann schon als eine sehr große geistige Leistung angesehen werden; und fürs zweite, weil ja die Wissenschaft durchaus nicht eine so gesonderte Stellung einnimmt, wie man vielleicht anzunehmen geneigt ist; sie ist gerade so wie jede, künstlerische, gewerbliche etc. Tätigkeit eine Blüte unseres geistigen Lebens und trägt dementsprechend auch stets das Gepräge der einzelnen Stadien unserer geistigen Entwicklung.

Die von dem sehr verdienten Forscher Black aufgestellte Annahme eines Wärmestoffes musste man bald fallen lassen, da sie von vielen Erscheinungen auf dem Gebiete der Wärmelehre keine Rechenschaft geben konnte; sie erklärte zwar das Phänomen des Wärmeüberganges von einem wärmeren zu einem kälteren Körper und weiter die ganz allgemeine Gesetzmäßigkeit, dass Körper durch Wärmezufuhr ihr Volumen vergrößern; denn sagte man, wenn man einem Körper Wärme mitteilt, so fließt Wärmestoff in ihn hinein, er muss also größer werden. Aber einer großen Anzahl von gleich zu besprechenden wichtigen Tatsachen gegenüber erwies sich die Hypothese als unzureichend und so beeilte man sich eine neue zu ersinnen, welche schon viel feiner erdacht war und folgenden Erscheinungen ihre Entstehung verdankt. Man wusste schon seit jeher, dass Wärme und jede Art von Bewegung zueinander in innigen Beziehungen stehen und dieselben sind, wie der Feuerbohrer der wilden Volksstämme zeigt, auch von alters her ausgenutzt worden. Einschlägige Beobachtungen lassen sich im gewöhnlichen Leben in sehr großer Zahl anstellen: überall können wir sehen, dass dort, wo eine Bewegung plötzlich gehemmt wird, Wärme entsteht. Wird ein Eisenbahnzug durch Bremsen zum Stehen gebracht, so erwärmen sich Räder, Bremsen und Schienen. Bei der Arbeit des Schmiedes sehen wir, dass die wuchtige Bewegung des geschwungenen Hammers beim jemaligen Aufschlagen auf das Arbeitsstück verschwindet, dieses aber sich erwärmt, ja sogar wenn die Schläge genug kräftig und rasch ausgeführt werden, .zum Glühen kommt. Rumford bemerkte im Zeughause zu München die bedeutende Wärmeentwicklung beim Kanonenbohren — er brachte ein zu bohrendes Rohr in einen Wasserbehälter und es gelang ihm durch den Prozess des Bohrens das Wasser nach 2 ½ Stunden zum Kochen zu bringen. Die Zahl der hierher gehörigen, uns geläufigen Beispiele ist außerordentlich groß. Umgekehrt aber sehen wir, wenn auch seltener, dass, wo Wärme verschwindet, Bewegungen entstehen — das bekannteste Beispiel dieser Art ist unsere Dampfmaschine, in welcher ja, wie wir uns ausdrücken können, die Wärme der verbrennenden Steinkohle zur Erzeugung von bewegender Kraft verbraucht wird. Diese Beziehungen haben dazu geführt, anzunehmen, dass die Wärme selbst nichts anderes sei als Bewegung. Früher die Tatsache des Wärmetransportes, aus welcher gefolgert wird, die Wärme sei etwas Flüssiges, ein Stoff — jetzt die Beziehungen zwischen Wärme und Bewegung, aus welchen geschlossen wird, die Wärme sei unsichtbare Bewegung. Sie erkennen die Ähnlichkeit in der Art des Schließens. Man sprach von einer schwingenden Bewegung der kleinsten Körperteilchen, der sogenannten Moleküle; diese Bewegung ist zwar ihrer Kleinheit wegen unserem Auge nicht sichtbar, aber auf unser Gefühl bringt sie einen Eindruck hervor, den wir Wärme nennen. Diese Hypothese, deren Anfänge sich sehr weit zurück verfolgen lassen, hat man zu einer Zeit, wo sie die als unzulänglich erkannte Wärmestofftheorie endgültig verdrängte, mechanische Wärmetheorie genannt und sie zu einem sehr schönen und geistvollen System der Erscheinungen auf dem Gebiete der Wärmelehre ausgebildet (Clausins und Clapeyron). Die Anerkennung, deren sich dasselbe lange Zeit hindurch zu erfreuen hatte, der Jubel, mit welchem es in der Mitte des vorigen Jahrhunderts in der wissenschaftlichen Welt begrüßt wurde, kannten keine Grenzen, Und in der Tat stellt diese Hypothese gegenüber der Wärmestofftheorie einen ganz außerordentlich großen Fortschritt dar. Während letztere bald mit verschiedenen Tatsachen, insbesondere mit den Beziehungen zwischen Wärme und Bewegung, ferner den Erscheinungen der Wärmestrahlung unvereinbar war, vermochte die mechanische Wärmetheorie überall Aufschluss zu geben.

Lassen Sie uns einige wichtige Tatsachen im Lichte dieser Hypothese betrachten:

Der Vorgang der Wärmeübertragung oder -mitteilung erscheint im Sinne der Theorie als eine Übertragung von Bewegungen: die Teilchen des heißeren Körpers schwingen schneller als die des kälteren — bringt man beide Körper zusammen, so gleichen sich die Geschwindigkeiten gerade so aus wie wir das sonst wissen. Mit der schnelleren Schwingung der Teilchen hängt auch die Volumenvergrößerung beim Erhitzen zusammen: ein fester Körper ist nach dieser Theorie anzusehen als eine Anhäufung von kleinsten Teilen, von Molekülen, welche, ohne sich unmittelbar zu berühren, durch die zwischen ihnen tätigen Anziehungskräfte (die sogenannte Kohäsion) zusammengehalten werden. Innerhalb des ihnen zur Verfügung stehenden Raumes vollführen sie Schwingungen und die Wucht, mit welcher die Bewegungen an unseren Finger anprallen, empfinden wir als Wärme. Erwärmen wir den Körper, so werden die Schwingungen lebhafter und beanspruchen einen größeren Raum. Wird der Körper abgekühlt, so werden die Schwingungen wieder langsam und kleiner, der Körper zieht sich zusammen.

Führen wir einem Körper fortdauernd Wärme zu, so wird durch die größer und lebhafter werdenden Schwingungen der Zusammenhang der einzelnen Teilchen immer mehr und mehr gelockert — der Körper geht in den flüssigen Zustand über, er schmilzt. Ist dieses geschehen und fahren wir mit der Wärmezufuhr fort, so werden die Schwingungen noch lebhafter; diejenigen Teilchen, welche bei ihrer Bewegung bis an die Oberfläche gelangen, werden nicht so wie die innen gelegenen von den benachbarten Teilchen an ihrer Bewegung gehindert und durch die Kohäsionskräfte zurückgehalten, sondern fliegen mit der ihnen eigentümlichen Geschwindigkeit geradlinig fort: man sagt, die Flüssigkeit verdampft. Das Verdampfen findet bekanntlich bei jeder Temperatur statt, aber in um so größerem Maße, je höher die Temperatur, d. h. je lebhafter die Bewegung der Teilchen ist. Von dem Druck der Gase gibt die mechanische Wärmetheorie Rechenschaft, indem sie die bis jetzt gebrauchten Vorstellungen weiter anwendet: Die Teilchen, welche von der Oberfläche der Flüssigkeit geradlinig fortfliegen, stoßen an die Gefäßwände, wo sie wie elastische Bälle zurückgeworfen werden. Derartige Stöße erfolgen in jedem Zeitteil in sehr großer Zahl und nach allen Richtungen hin; sie bringen so dasjenige hervor, was man den Gasdruck nennt. Doch nicht nur von diesen Tatsachen, auch von einer Unzahl anderer und zum Teil sehr komplizierten Erscheinungen auf dem Gebiet der Wärmelehre, deren Besprechung zu weit führen würde, gibt die mechanische Wärmetheorie befriedigende Auskunft. Ich möchte nur noch erwähnen, dass auch die uns schon bekannten Gasgesetze durch diese Theorie erklärt werden: wir sahen, dass wenn ein Gas komprimiert wird, sein Druck zunimmt, und zwar auf das doppelte, dreifache steigt, wenn wir das Volumen auf die Hälfte, auf ein Drittel verringern. Wir haben das dadurch zum Ausdruck gebracht, dass wir sagten, das Produkt aus Druck und Volumen ist konstant (Boylesches Gesetz). Im Lichte der mechanischen Wärmetheorie erscheint dieses Resultat durchaus verständlich: denn pressen wir das Gas auf die Hälfte zusammen, so wird die Zahl der Stöße auf die gleiche Fläche in derselben Zeit doppelt, drücken wir auf ein Drittel zusammen, dreimal so groß werden usw. Sie sehen also, dass diese Hypothese glänzende Resultate zeitigt und durchaus den Eindruck der Vertrauenswürdigkeit macht; das würde in noch viel bedeutenderem Maße der Fall sein, wenn wir in der Lage wären, die zahllosen Beziehungen, Erscheinungen und Gesetze zu besprechen, welche alle in gleicher Weise einfach und durchsichtig gedeutet werden. Aber schließlich kommen wir doch zu Erscheinungen, denen gegenüber die Theorie ratlos ist, weil sie nicht in den Rahmen derselben passen, von ihr nicht erklärt werden können. Bei der Wärmehypothese sind allerdings hauptsächlich theoretische Gründe für ihre Unzulänglichkeit maßgebend; von tatsächlich ihr widersprechenden Erscheinungen sei nur erwähnt, dass es auch in größerer Zahl Körper gibt, welche sich entgegen den Forderungen der Hypothese bei zunehmender Temperatur zusammenziehen, so z. B. das Wasser von 0 bis 4° C. Man pflegt, um solche Abweichungen zu erklären, die ursprüngliche Hypothese entsprechend abzuändern, sie zu ergänzen oder auch neue Hypothesen auf die alte aufzupfropfen. Das hält dann gewöhnlich eine Zeitlang, aber das Endresultat ist immer dasselbe und besteht darin, dass die Annahme schließlich als den Tatsachen widersprechend aufgegeben werden muss. Für denjenigen, welcher an die Wahrheit der Hypothesen glaubt, ist das natürlich ein sehr betrübendes Ergebnis. Hält man sich aber vor Augen, dass es sich nur um eine Zurückführung von Unbekanntem auf uns vertraute Vorgänge handelt und betrachtet man dementsprechend die Hypothese, welche von anderen als ein strenger Ausdruck der Wirklichkeit angesehen werden, nur als ein Bild derselben, so kann dieses Ergebnis nicht überraschen. Ja man kann es sogar vorhersehen, denn es ist ja offenbar nicht möglich, dass zwei Erscheinungen in der Natur vollkommen gleich sind. Auch wenn sie noch so gleich scheinen, so muss man schließlich doch auf Verschiedenheiten stoßen — denn jede Erscheinung kann nur sich selbst gleich sein. So führen also alle Hypothesen ein sehr ephemeres Dasein. Sie reichen für eine gewisse Zeit, aber nicht für immer. Sehr schön drückt Ostwald, einer der streitbarsten Gegner der Hypothesen, dieses Verhältnis mit folgenden Worten aus: „Jede dieser Theorien lebt fort wie ein entwichener Sträfling. Es mag ihm wohl gelingen, der Gefangennahme durch diese oder jene glückliche Wendung zu entgehen. Das Geschick der vorausgegangenen Brüder oder Vettern zeigt aber, dass es immer nur eine Sicherheit auf Zeit ist und dass früher oder später auch ihre Stunde schlägt, wo sie nicht mehr entweichen kann und das unvermeidliche Schicksal aller abgetanen Hypothesen teilt.“



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber die Grundlagen der exakten Naturwissenschaften