Die Erfahrung

V. A. Die Naturphilosophie ließ uns einem jener folgenschweren Irrtümer begegnen, von welchen wir eingangs sprachen und behaupteten, dass sie den Entwicklungsgang der Wissenschaften zwar ungünstig beeinflussen, dass sich aber aus ihnen doch immer sehr viel lernen lasse. Sie hat uns ein sehr wichtiges Ergebnis gezeitigt, welches heute wohl als der erste Grundsatz aller Naturforschung zu gelten hat, das Ergebnis, dass wir vor Irrwegen nur dann sicher sind, wenn wir unsere Gedanken und Begriffe beständig an der Erfahrung prüfen und ihr entsprechend gestalten, kurz, wenn die Erfahrung in allem unsere oberste Lehrmeisterin ist. Und tatsächlich zeigt sich, dass, seitdem man es aufgegeben hat, die spekulative Methode zu benutzen und dazu übergegangen ist, die Tatsachen in systematischer Weise an der Hand der Erfahrung zu erforschen, die Naturwissenschaften eine außerordentliche Entfaltung und Vertiefung erfahren haben.

Dieser eben gewonnene Satz möge den Ausgangspunkt für unsere weiteren Untersuchungen bilden und wir wollen daran gehen, zu sehen, wie wir an der Hand dieses Führers imstande sind, der Natur ihre Geheimnisse abzulauschen.


Wir sind in der Lage, Erfahrungen jeden Augenblick und in großer Zahl zu sammeln. Ein Stück Kreide, welches ich in der Hand halte, bewegt sich, wenn ich die Hand öffne, zur Erde. Bringe ich zwei Stücke Metall, von denen das eine in meiner Hand die Empfindung heiß, das andere die Empfindung kalt hervorbringt, zusammen, so zeigt sich nach einiger Zeit, dass nun beide Stücke in meiner Hand dieselbe Empfindung wachrufen. Reibt man eine Glas- oder Harzstange mit einem Wollappen, so erhält sie die Eigenschaft, kleine Körperchen anzuziehen. Das sind Erfahrungen, und zwar lauter einfache Erfahrungen oder Beobachtungen. Sie sind Bausteinen vergleichbar, aus welchen der Mensch ein stattliches Haus für seine Sicherheit und Bequemlichkeit aufzurichten gewillt ist. Nun die Zahl dieser Beobachtungen, die wir zu machen in der Lage sind, ist ganz außerordentlich groß; dieser Umstand sowohl als auch derjenige;, dass die Reihenfolge doch mehr oder weniger vom Zufall abhängt, würde es bewirken, dass das Gedächtnis des einzelnen sehr bald nicht imstande wäre, für neue Beobachtungen aufnahmefähig zu sein. Glücklicherweise lässt sich die Zahl derselben, wie wir sehr bald gewahr werden, mit Bezug auf die Beanspruchung unseres Gedächtnisses sehr wesentlich verringern. Denn ich beobachte, dass nicht nur ein bestimmtes Stück Kreide, wenn kein Hindernis vorliegt, zur Erde fällt, sondern auch jedes andere Stück Kreide, ebenso weiter, dass jeder Stein, jedes Stück Holz, Metall, .kurz jeder feste Körper diese Eigenschaft besitzt. Man gelangt auf diese Weise von einzelnen Beobachtungen zu zusammenfassenden Erfahrungen, die eine ungeheure große Zahl der ersteren in sich schließen und diese nennt man dann, wenn sie einen gewissen Grad der Allgemeinheit erlangt haben, Naturgesetze. Derartige Zusammenfassungen lassen sich immer machen, wir finden ganz allgemein, dass mit einer Eigenschaft, in unserem Fall „fest“ immer eine andere Eigenschaft hier diejenige, frei zu fallen, n erbunden ist. Man kann dieser Gesetzmäßigkeit mit den Worten Ausdruck geben, dass in der Natur die Zahl der wirklichen Fälle immer außerordentlich weit hinter derjenigen der denkbaren zurückbleibt.

Gehen wir auf unserem Wege weiter. Wir können ohne weiteres die flüssigen Körper einbeziehen und gelangen dadurch zu einem allgemeineren Naturgesetz. Wenden wir uns aber den gasförmigen zu, so wird die Sache schon einigermaßen schwierig. Durch genaue Beobachtung gelangt man zunächst zu dem Ergebnis, dass zwar manche Gase unserem Gesetz gehorchen, d. h. sich, wenn kein Hindernis vorliegt, dem Erdboden zu bewegen, 80 Kohlensäure, schwefelige Säure, das Verbrennungsprodukt des Schwefels. Andere Gase aber, z. B. Wasserstoff oder Leuchtgas, steigen, wie die Erfahrung lehrt, in die Höhe und man kann das Erstaunen auf dem Gesicht eines jeden Kindes beobachten, wenn ihm in Gestalt eines mit Leuchtgas gefüllten Ballons ein Körper eingehändigt wird, welcher seiner sonst gemachten Erfahrung, dass alle Körper das Bestreben haben, sich zur Erde zu senken, nicht gehorcht. Es scheint also bei oberflächlicher Betrachtung, dass es Ausnahmen von unserem Gesetz gibt und die Beobachtung zeigt uns sehr bald, dass ganz ähnliche Fälle in sehr großer Zahl vorkommen; ein Stück Holz, das wir in Wasser tauchen, sinkt nicht unter, sondern steigt empor, eine Eisenkugel aber scheint sich, wenn wir sie in Wasser bringen, normal zu verhalten; tauchen wir sie aber unter Quecksilber, so bewegt sie sich nach oben zu. Hält man alle diese Ausnahmen, deren Zahl sich beliebig vermehren ließe, zusammen, so erkennt man, dass ihnen allen ein Gemeinsames zugrunde liegt: immer, wenn eine Ausnahme vorliegt, handelt es sich um einen Körper, welcher von einem zweiten Körper umgeben ist, Holz von Wasser, Eisen von Quecksilber und im ursprünglichen Falle ein Gas, Wasserstoff oder Leuchtgas, umgeben von einem zweiten Gas, von der atmosphärischen Luft. Es lässt sich also ganz allgemein behaupten und dazu berechtigt wieder die große Anzahl von Beobachtungen, die sich anstellen lassen, dass jeder Körper, den man in eine Flüssigkeit oder ein Gas taucht, von seinem Streben, sich zur Erde zu bewegen, etwas einbüßt, einen Auftrieb erleidet, wie man sich ausdrückt; überwiegt der Auftrieb dieses Streben, so fällt der Körper nicht, wie wir es gewöhnlich beobachten, sondern er steigt empor; allem Anschein nach ist das letztere bei allen besprochenen Ausnahmen der Fall. Ist nun die gemachte Annahme richtig, so müsste Wasserstoff oder Leuchtgas, wenn wir sie in einen luftleer gepumpten Raum bringen, weil kein Auftrieb vorhanden ist, sich nach abwärts bewegen. Würden wir diesen Versuch anstellen, so würden wir zu unserer großen Enttäuschung die Beobachtung machen, dass die Voraussicht nicht bestätigt wird, dass das Gas sich nicht am Boden lagert, sondern den ihm zur Verfügung gestellten Raum ganz gleichmäßig erfüllt, wie groß wir denselben auch wählen mögen. Aber, wird ein aufmerksamer Beobachter einwenden, das kann nicht genau richtig sein, da ja die atmosphärische Luft konstant eine Hülle um unseren Erdball bildet, und den von ihr eingenommenen Raum nicht gleichmäßig erfüllt, sondern gerade am Erdboden am dichtesten lagert und nach oben zu immer dünner wird, so dass man aus der Abnahme ihrer Dichtigkeit direkt auf die vertikale Erhebung schließen kann. Also zeigen auch die Gase kein von den festen und flüssigen Körpern abweichendes Verhalten und wo ein solches vorzuliegen scheint, ist es entweder dem Auftrieb zuzuschreiben oder auf das Bestreben der Gase zurückzuführen, einen gegebenen Baum möglichst vollkommen auszufüllen.

Unser Gesetz gilt also für alle drei Aggregatzustände — fest, flüssig und gasförmig — und umfasst daher das Verhalten aller Körper, die uns umgeben. Die angestellten Betrachtungen zeigen, wie man Beobachtungen zu Naturgesetzen zusammenfassen kann, wie scheinbare Ausnahmen uns veranlassen, den Tatsachen näher an den Leib zu rücken, schärfer zuzusehen, neue Beobachtungen heranzuziehen und wie schließlich — das geschieht ziemlich häufig — im Vergleichen mit dem bereits Bekannten, dieses nicht nur tiefer erfasst und besser verstanden wird, sondern auch die scheinbaren Ausnahmen zu einer neuen Bestätigung für die allgemeine Regel werden. Ja, noch mehr; es zeigt sich, dass jede Stufe der Beobachtung der Ausgangspunkt für eine Menge von Fragen ist, die das uns Zugängliche nach allen Richtungen durchziehen, wie schließlich auch falsche Beobachtungen sich einschleichen können, ohne allzu großen Schaden anzurichten, da in dem gegenseitigen Abwägen der Tatsachen eine hinlängliche Gewähr dafür liegt, dass man ihnen auf die Spur kommt und sie ausmerzt.

Doch wir haben den Begriff des Naturgesetzes etwas zu eng gefaßt; im allgemeinen verlangen wir von einem Naturgesetz nicht nur, dass es uns sagt, was geschieht, sondern auch Auskunft gibt, über das „Wie“ des Geschehens. Bleiben wir bei dem gewählten Beispiel: wir wissen zwar jetzt, dass jeder Körper fällt, das sagt uns unser Gesetz, aber nicht, wie er fällt, d. h. mit welcher Geschwindigkeit, wie groß der Weg ist, den der Körper beim Fallen in einer bestimmten Zeit zurücklegt. Nun diese Fragen beantwortet zu haben ist das unsterbliche Verdienst Galileis; er zeigte, dass es beim freien Fall zu einer gleichförmig beschleunigten Bewegung kommt, d. h. dass die Geschwindigkeit des fallenden Körpers in gleichen Zeiten um gleich viel zunimmt. Auch hier zeigt sich wieder eine außerordentlich große Einfachheit im natürlichen Geschehen, indem die Beschleunigung für alle Körper ohne Unterschied denselben Betrag hat und dieselben, wenn man zur Ausschaltung des Luftwiderstandes im luftleeren Raum arbeitet, gleich schnell fallen, ganz gleichgültig, ob es sich um eine Bleikugel oder eine Feder handelt.

Nun derartige Zusammenfassungen von Beobachtungen sind jedoch nicht immer so leicht auszuführen, als es nach unseren Betrachtungen vielleicht den Anschein hat. Handelt es sich um einfache Tatsachen, wie die angeführten, die jedem Kind geläufig sind, so gelten dieselben so sehr als selbstverständlich, dass sie dem nicht geschulten Beobachter beinahe entgehen und es wenigstens zu keiner bewussten Zusammenfassung derselben kommt. Denn das Selbstverständliche — und darüber stehen jedem einzelnen Erfahrungen zu Gebote — erregt eben in keiner Weise unsere Aufmerksamkeit, es hat kein Interesse für uns, es tritt, so wenig in unser Bewusstsein, dass es keinen Bestandteil unserer Erkenntnis bildet. Erst wenn uns Vorkommnisse begegnen, welche dieses Selbstverständliche zweifelhaft oder vielleicht gar unrichtig erscheinen lassen, wird mit unserer Verwunderung das Streben wachgerufen, durch bewusste Erkenntnis der Tatsachen den Widerspruch zu lösen. So kommt es, dass das Selbstverständliche für uns nicht selten die Quelle größter Überraschungen wird und wir es jedem Forscher als besonderes Verdienst anrechnen, wenn es ihm gelingt, den Tatsachen vollkommen voraussetzungslos gegenüberzutreten, wenn er eben jenes Selbstverständliche, wo immer es ihm begegnet, aus seiner dunklen Verborgenheit hervorlockt und es seines Charakters durch kritische Betrachtung, durch die Frage nach der Berechtigung entkleidet. Die Rolle, die das Selbstverständliche in den Naturwissenschaften spielt, geht wohl am anschaulichsten aus der bekannten Erzählung vom Ei des Kolumbus hervor. Jedermann kennt das Selbstverständliche, wendet es auch gelegentlich an, aber die erste klare Formulierung ist immer als eine bedeutende, ja manchmal als eine erlösende Tat anzusehen.

Je umfassender Naturgesetze sind, desto schwieriger ist es, sie zu finden, das gelingt gewöhnlich nur sehr bevorzugten Menschen. Es bedarf dazu nicht nur einer sehr scharfen Beobachtungsgabe und jenes eigentümlich sicheren Blickes, jenes blitzartigen Erfassens, das man Intuition nennt und das wohl seit jeher als das Kennzeichen des Genies gegolten hat, sondern auch der Phantasie. „Im Grunde,“ sagt einmal Goethe zu Eckermann, „ist ohne diese hohe Gabe ein wirklich großer Naturforscher gar nicht zu denken. Und zwar meine ich nicht eine Einbildungskraft, die ins Vage geht und sich Dinge imaginiert, die nicht existieren; sondern ich meine eine solche, die den wirklichen Boden der Erde nicht verlässt und mit dem Maßstabe des Wirklichen und Erkannten zu geahnten, vermuteten Dingen schreitet. Da mag sie denn prüfen, ob denn dieses Geahnte auch möglich sei und ob es nicht in Widerspruch mit anderen bewussten Gesetzen komme. Eine solche Einbildungskraft setzt aber freilich einen weiten, ruhigen Kopf voraus, dem eine große Übersicht der lebendigen Welt und ihrer Gesetze zu Gebote steht.“ Galilei gebührt das große Verdienst, den Fall der Körper studiert und erkannt zu haben, dass wenn man als Ursache des Fallens eine anziehende Kraft, die Schwerkraft, annimmt, welche unserer Erde eigentümlich ist, die Wirkung dieser Schwerkraft darin besteht, den Körpern eine gleichmäßige Beschleunigung von rund 10 Meter in der Sekunde zu erteilen; Newtons genialem Blick verdanken wir eine Verallgemeinerung, welche es erlaubt eine noch viel umfassendere Vereinigung von Tatsachen zu einem Naturgesetz zu bewerkstelligen. Er zeigte, dass die Äußerungen der Schwerkraft auf unserer Erde nur als ein Spezialfall aufzufassen sind, dass ganz allgemein zwischen zwei Massen eine anziehende Kraft besteht, die allgemeine Schwere oder Gravitation, welche die Himmelskörper zwingt, krumme geschlossene Bahnen zu beschreiben, indem sie ihre geradlinige Bewegung unausgesetzt stört und nach dem Zentralkörper ablenkt. Er lehrte, dass die anziehende Kraft desto größer ist, je größer die Massen, dass sie also mit dem Produkte der Massen wächst, und desto kleiner wird, je weiter dieselben voneinander entfernt sind, und zwar nach dem Quadrate der Entfernung abnimmt. Aus dieser Verallgemeinerung fließt sofort ein wesentlicher Gewinn für unsere Auffassung des freien Falles auf der Erde; während man vor Newton etwa annehmen konnte, dass die anziehende Kraft ganz einseitig ihren Sitz in der Erde hat, wie dies in der üblichen Redewendung, die Erde zieht diesen oder jenen Gegenstand an, zum Ausdruck kommt, bringt Newtons Entdeckung die Erkenntnis mit sich, dass die Wirkung eine gegenseitige ist, dal^ die Erde von jedem Gegenstand mit derselben Kraft angezogen wird, mit der sie selbst ihn anzieht; sie macht es verständlich, dass die Beschleunigung der Schwere an den Polen größer ist als am Äquator, weil an diesem infolge der eigentümlichen Gestalt der Erde die Entfernung der Gegenstände vom Erdmittelpunkte größer ist usw.

Aber auch in anderer Richtung stößt das Streben nach Zusammenfassung von Tatsachen zu Naturgesetzen auf eine Schwierigkeit, die zu überwinden sozusagen zum täglichen Brot des Naturforschers gehört. Worauf es bei der Erfahrung ankommt, haben wir gesehen; immer handelt es sich darum, einen Zusammenhang zwischen verschiedenen Eigenschaften zu konstatieren. Derselbe war in dem betrachteten Falle ein äußerst einfacher, wenigstens soweit die Frage in qualitativer Weise zu beantworten ist, während die Ermittlung in quantitativer Hinsicht allerdings schon der geistigen Kapazität eines Galilei bedurfte. Nun kommt es überaus häufig vor, dass nicht der Zusammenhang zweier Eigenschaften zu untersuchen ist, sondern deren mehrere zueinander in Beziehung stehen. Im Grunde genommen, war dies schon bei dem betrachteten Beispiele der Fall, in dem sich ja ohne weiteres die Fragen stellen lassen, wie hängt die Geschwindigkeit des fallenden Körpers, wie hängt die Wegstrecke, die er in einer bestimmten Zeit zurücklegt, von seiner Größe, dem Raum, den er einnimmt, wie von seiner Farbe, wie von seiner chemischen Beschaffenheit usw. ab. Es lassen sich noch eine Menge anderer ähnlicher Fragen anschließen: wie von seiner Härte, von seiner Dichtigkeit, von seiner Oberflächenbeschaffenheit, seiner Elastizität; aber diese Fragen erscheinen uns direkt sinnlos, wenn sie es auch nicht sind, wenigstens empfinden wir beinahe instinktiv das Überflüssige derselben. Der Grund hierfür ist gewiss nicht darin zu suchen, dass uns die Unabhängigkeit der Fallgeschwindigkeit von den genannten besonderen Eigenschaften des Körpers nun einmal bekannt ist; denn die Unabhängigkeit von dem Gewichte, welche uns heute dank Galilei durchaus geläufig ist, gehört zum eisernen Bestand unserer Naturkenntnisse, sie figuriert in jedem Lehrbuche der Physik als eines der wichtigsten Gesetze. Wenn wir nun den Zusammenhang — in unserem Falle die Unabhängigkeit — gewisser Eigenschaften sozusagen bevorzugen, so ist das gewiss an unserer speziellen Beschaffenheit gelegen und darin begründet, dass es wiederum die Erfahrung ist, die uns auf besondere Beziehungen hinweist. Wir empfinden die Anziehungskraft, welche die Erde auf Gegenstände unserer Umgebung ausübt, direkt als Druck oder Zug vermöge unseres Tast- und Muskelsinnes. Auch Farbe, Form und Größe der Körper sind uns direkt sinnlich gegeben — insofern also kein Unterschied. Aber unsere sonstige Erfahrung, dass im allgemeinen die Geschwindigkeit einer Bewegung um so größer ausfällt, je größer die bewegende Kraft — etwa unsere Muskelkraft — ist, findet beim freien Fall scheinbar keine Bestätigung: die bewegende Kraft, die gegenseitige Anziehung von Körper und Erde, die im Gewichte zum Ausdruck kommt, mag noch so groß sein, der Körper fällt doch nur gerade so schnell wie jeder andere. In der Tat setzt den des physikalischen Denkens Ungewohnten unser Naturgesetz in Erstaunen und man hört als Entgegnung immer wieder die angeführte Argumentation. Ja, selbst die Zeitgenossen Galileis — Naturforscher von Beruf — nahmen auf Grund von wenigen eigenen Beobachtungen und spekulativen Schlüssen allen Ernstes an, dass leichte Körper langsamer fallen müßten als schwere. Es zeigt sich also, dass es wieder die Erfahrung ist, welche uns auf gewisse Beziehungen hinweist, die wir als wertvoll für uns hervorheben und uns einprägen, während andere von vornherein gerade so natürliche uns vollständig entgehen, oder besser gesagt, manche Beobachtungen, welche mit bereits Bekanntem in einem scheinbaren Widerspruch stehen, fallen uns durch diesen Umstand als besonders bemerkenswert auf. Man könnte glauben, dass dies nur in dem betrachteten speziellen Falle stattfindet, wo es sich um Unabhängigkeit mehrerer Eigenschaften voneinander handelt und dann nicht eintritt, wenn eine Veränderlichkeit einer Eigenschaft mit einer anderen vorliegt. Aber auch hier lässt sich das Gesagte deutlich erkennen. Die Farbe eines Körpers hängt nicht nur von den Strahlen ab, die ihn treffen, auch von seiner Temperatur, ferner aber auch von seiner Oberflächenbeschaffenheit, davon ob er zusammenhängend ist oder ein loses Pulver bildet etc. Im Gegensatz zu den ersten Beziehungen, welche für uns wichtig sind, vernachlässigen wir die letzteren. Es gab eine Zeit, wo man annahm, dass alle chemischen Umsetzungen vollständig verlaufen, d. h. dass wenn man zwei Körper A und B sich chemisch zu den Körpern C und D umsetzen lassen lässt, dies, passende Mengenverhältnisse vorausgesetzt, vollständig geschieht, also am Ende des Prozesses die Ausgangskörper A und B verschwunden sind. Tatsächlich war diese Art von chemischen Umsetzungen früher von beinahe ausschlaggebender Bedeutung, in dem alle bekannteren und besser untersuchten Reaktionen diesem Typus angehörten. Als man aber Umsetzungen kennen lernte, welche nicht nach diesem Schema verlaufen, sondern in der Weise, dass ein Teil der Ausgangskörper A und B erhalten bleibt, sah man diese unvollständig verlaufenden Reaktionen vorerst als lästige Ausnahmen an, um die man sich gar nicht kümmerte. Erst als ihre Zahl sich immer mehrte, ja man ihnen bei Erweiterung der chemischen Kenntnisse auf Schritt und Tritt begegnete, führte ihr Studium zu einem der wichtigsten Naturgesetze. Dieses Spiel wiederholt sich in der Geschichte der Naturwissenschaften sehr oft — immer wieder werden alte Entdeckungen, die gelegentlich gemacht und verzeichnet wurden, in späteren Perioden hervorgesucht und geschätzt, wenn sie mit Bezug auf inzwischen gemachte Erfahrungen Interesse gewinnen. Wir sehen daraus, dass das Problem, die Beziehungen aller Eigenschaften der Körper zu allen zu untersuchen durch die Erfahrung selbst mitunter — wie beim freien Fall — auf eine sehr einfache Aufgabe reduziert werden kann und es ist daraus unmittelbar zu schließen, dass die Naturwissenschaften in letzter Linie ein eminent lebenerhaltendes Moment in sich tragen; wenn auch heute infolge der ungeheuren Arbeitsteilung der einzelne dieses oder jenes Gebiet aus reinem Interesse an der Sache, also um ihrer selbst willen, bebaut, so zeigt eine unbefangene Betrachtung doch, dass die naturwissenschaftlichen Bestrebungen als Ganzes genommen dem Bedürfnisse des Menschen entspringen, sich in der ihn umgebenden Welt zurechtzufinden, sie kennen und beherrschen zu lernen, dass mit einem Worte die Naturwissenschaften eine hervorragend biologische Bedeutung haben.

Doch wir kehren zu dem Fall zurück, in welchem es sich darum handelt, die Beziehungen mehrerer Eigenschaften zueinander kennen zu lernen. Ein vortreffliches Beispiel hierfür bietet das Verhalten der Gase. Wir kennen deren eine sehr große Zahl: Sauerstoff und Stickstoff, deren Gemisch die atmosphärische Luft bildet, Wasserstoff, dessen wichtigste chemische Verbindung mit Sauerstoff das Wasser ist, Kohlensäure, Kohlenmonoxyd, jenes giftige Gas, welches bei unvollständiger Verbrennung der Kohle entsteht, schwefelige Säure, welche bei Verbrennung von Schwefel gebildet wird, Chlor, welches in Verbindung mit dem Metall Natrium unser Kochsalz bildet, die Edelgase: Argon, Helium, Krypton usw., deren Entdeckung in unserer Atmosphäre wir den genialen Untersuchungen von Raleigh und Ramsay verdanken und viele andere. Es steht von vornherein gar nichts im Wege, anzunehmen, dass alle diese Gase sich in physikalischer Hinsicht gerade so verschieden verhalten, wie sie dies in chemischer Hinsicht tun. Die Erfahrung lehrt uns jedoch sehr bald, dass wir auch hier auf größte Einfachheit der Verhältnisse treffen. Die Gase haben — das liegt in dem Begriffe des gasförmigen Zustandes — keine bestimmte Form. Wir begegnen dem schon bei den flüssigen Körpern, indem dieselben die Gestalt des Gefäßes annehmen, in welchem sie sich befinden. Diese Formlosigkeit tritt aber in noch viel ausgeprägterem Maße bei den Gasen auf. Während Flüssigkeiten noch einen bestimmten Raum einnehmen, füllen Gase stets den ganzen Raum der ihnen zur Verfügung gestellt wird, gleichmäßig an. Allerdings ist das streng genommen nicht ganz richtig, wie früher auseinandergesetzt wurde, aber wenn man nur verhältnismäßig kleine Räume in Betracht zieht, ist der durch das Eigengewicht der Gase bedingte Fehler so klein, dass er ohne weiteres vernachlässigt werden kann. Nun wissen wir weiter — auch das ist wieder eine Zusammenfassung von Einzelerfahrungen, dass der Raum, den ein Gas, gleichgültig welches, einnimmt, abhängt von dem äußeren Druck und der Temperatur. Mit nur sehr wenigen Ausnahmen dehnen sich alle Körper durch Erhöhung ihrer Temperatur aus und das gilt auch für Gase, tritt hier in ganz besonders ausgeprägtem Maße hervor. Von der durch Erwärmen der atmosphärischen Luft bedingten Ausdehnung derselben macht man überaus oft praktischen Gebrauch und sie spielt bekanntlich — in meteorologischer Hinsicht — auch eine außerordentliche große Rolle in der Natur. Weiteres aber hängt der Raum, den ein Gas einnimmt, sein Volumen, auch ab von dem äußeren Druck; auch davon haben wir aus dem gewöhnlichen Leben die Anschauung. Durch Zusammenpressen der atmosphärischen Luft und nachträgliche Entspannung derselben kann ein Projektil aus einem Gewehre oder einer Kanone fortgeschleudert werden und in ähnlicher Weise werden die Bohrmaschinen für den Tunnelbau betrieben. Dasselbe Prinzip findet auch sonst noch mannigfache praktische Anwendung. Durchaus geläufig ist uns ferner die Bezeichnung Luftdruck; derselbe kommt dadurch zustande, dass die oberen Luftschichten infolge ihres Gewichtes auf die unteren drücken und sie komprimieren. Es ist vielleicht nicht überflüssig darauf hinzuweisen, dass ein zusammengedrücktes Gas dem äußeren Drucke entgegenwirkt; das fühlen wir ja ganz deutlich, wenn wir irgendeine Gasmasse zusammenpressen; sie setzt der Verkleinerung ihres Volumens einen Widerstand entgegen, den wir etwa durch unsere Muskelkraft überwinden müssen, und dieser Widerstand ist identisch mit dem schon mehrfach erwähnten Streben der Gase, einen möglichst großen Raum einzunehmen.

Wir wissen jetzt, dass das Volumen eines Gases abhängig ist von dem äußeren Druck und der Temperatur und damit wäre das „Was“ unserer Frage erledigt; die Antwort lautet, das Volumen eines Gases wird durch Druck kleiner, durch Temperaturerhöhung größer. Man kann sich dieses Resultat durch beistehende Skizze verdeutlichen, in welcher ein zylindrisches Gefäß mit einem luftdicht schließenden, beweglichen Kolben dargestellt ist Vergrößert man den auf dem eingeschlossenen Gase lastenden Druck durch Vermehrung der aufliegenden Gewichte oder durch Anwendung von Muskelkraft, so verkleinert sich das Volumen und umgekehrt. Erhöht man die Temperatur durch Erwärmen, so dehnt sich das Gas aus und treibt den Kolben in die Höhe.

Viel schwieriger ist die Frage „Wie“ zu erledigen, d. h. anzugeben, in welchem Maße das Volumen mit Druck und Temperatur veränderlich ist. Wollte man die Abhängigkeit von Druck und Temperatur zugleich untersuchen, so würde man schwerlich in einfacher Weise zum Ziele gelangen. Der Naturforscher pflegt in solchen Fällen den Weg der Erfahrung etwas abzukürzen beziehungsweise einen etwas bequemeren und sicheren Weg zu betreten, als derjenige ist, welchen die unwillkürliche Erfahrung, die Erfahrung ohne sein Zutun, führt. Er greift, wenn es irgend möglich ist, selbsttätig in den Gang der Erscheinungen ein und ändert nach seiner Absicht die zusammenwirkenden Umstände in beliebiger Weise, er stellt, wie wir uns ausdrücken, Experimente an; dadurch erst wird er zum Herrn der zu untersuchenden Erscheinungen, auf diese Weise vermag er die häufig durch mannigfaltige zufällige Nebenumstände verhüllten wesentlichen Beziehungen und Bedingungen deutlich hervortreten zu lassen. Die Einführung des Experimentes unterscheidet die jetzige Naturforschung wesentlich von derjenigen des Altertums und Mittelalters, durch dieselbe ist die so außerordentlich rasche Entwicklung der Chemie, Physik und Physiologie im neunzehnten, teilweise auch schon im achtzehnten Jahrhundert erst möglich geworden. Die sehr große Zuverlässigkeit der experimentellen Methode der Forschung, die verhältnismäßig rasche und leichte Erledigung wissenschaftlicher Probleme, welche ihre Anwendung gewährleistet, haben dazu geführt, sie nach und nach auch in solchen Gebieten zur Anwendung zu bringen, welche sie früher nicht kannten, so in der Psychologie, in allen Zweigen der Medizin usw.

Wenden wir das Gesagte auf unseren speziellen Fall an, so hätten wir in der Weise zu verfahren, dass wir eine Reihe von Experimenten anstellen, bei welchen wir den Einfluss einer der Größen, von welchen das Volumen des Gases abhängt, ausschalten, und dies geschieht einfach in der Weise, dass wir diese Größe konstant lassen; wir arbeiten z. B. in einem gleichmäßig temperierten Raum, dann kann die Temperatur auf die Ergebnisse unserer Versuche keinen Einfluss haben und wir kommen so dazu, die Abhängigkeit des Volumens von dem Druck allein zu ermitteln. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, sei erwähnt, dass man auf diese Weise zu einer überraschend einfachen Beziehung gelangt, einem Gesetz, welches von dem englischen Naturforscher Robert Boyle im Jahre 1660 und 1676 unabhängig davon von dem französischen Mathematiker und Physiker Mariotte gefunden wurde. Es lässt sich folgendermaßen formulieren: Das Produkt aus Druck und Volumen einer gegebenen Gasmasse hat, solange die Temperatur unveränderlich bleibt, einen konstanten Wert. Drückt man daher ein Gas auf die Hälfte, das Drittel, das Viertel usw. zusammen, so wächst sein Druck auf das Doppelte, Dreifache, Vierfache usw. und diese Beziehung gilt ganz unabhängig von seiner chemischen Beschaffenheit für jedes Gas.

Es wäre nun eine zweite Reihe von Experimenten anzustellen, um in gleicher Weise die Abhängigkeit des Volumens von der Temperatur zu ermitteln und zu diesem Zwecke ein einmal gewählter äußerer Druck konstant zu lassen. Man könnte, um beide Versuchsreihen auszuführen, im Prinzipe den früher skizzierten Apparat benutzen, indem man einmal die Temperatur, jetzt aber die auf dem Kolben lastenden Gewichte nicht verändert. Man gelangt auf diese Weise zu einer Gesetzmäßigkeit, welche nach ihrem Entdecker Gay-Lussac benannt wird und aussagt, dass ein Gas — es ist wiederum gleichgültig welches — für eine Temperaturerhöhung von ein Grad Celsius sein Volumen um den zweihundertdreiundsiebenzigsten Teil seines Volumens bei 0° vergrößert.

Es liegt nun nahe, noch eine dritte Beziehung aufzusuchen und zu fragen, wie ändert sich der Druck eines Gases durch Temperaturerhöhung, wenn das Volumen des Gases konstant bleibt. Man könnte sich auch hier wieder derselben Vorrichtung wie früher bedienen, indem man das Gas erwärmt und durch Zufügen von Gewichten immer dafür sorgt, dass der Baum, den das Gas einnimmt, derselbe bleibt. Man gelangt auf diese Weise zu dem merkwürdigen Ergebnis, dass der Druck bei konstantem Volumen für eine Temperaturerhöhung von ein Grad Celsius um denselben Teilbetrag steigt wie das Volumen, nämlich um ein Zweihundertdreiundsiebenzigstel des Druckes bei 0°, dass also die Druckvermehrung durch Temperaturerhöhung gerade soviel beträgt, wie die Volumenvermehrung durch Temperaturerhöhung. Es ergeben sich demnach überraschend einfache Gesetze, die eine ganze Unzahl von Einzelerfahrungen in sich schließen, welche wir umgekehrt, von der Kenntnis dieser Gesetze ausgehend, vorhersagen können. Es sei noch hinzugefügt, dass man die drei genannten Beziehungen leicht zu einer einzigen mathematischen Formel vereinigen kann, welche es erlaubt, mit einem Schlage die Veränderung zu berechnen, welche die gleichzeitige Änderung zweier Größen an der dritten hervorbringt.

Aus dem eben Besprochenen erhellt, dass die Tätigkeit des Naturforschers, soweit sie sich auf die Verwertung der Erfahrung und das Experiment bezieht, eine analytische, anderseits aber wieder eine synthetische ist; er löst jeden natürlichen Vorgang in einzelne Teilvorgänge auf, deren gesetzmäßigen Verlauf er zu ergründen sucht; das ist der erste Schritt, der zweite besteht darin, dass er die Teilerfahrungen wieder zu einem Ganzen zusammensetzt und sieh auf diese Weise ein möglichst klares Bild des natürlichen Geschehens zu bilden sucht. Allerdings wird der erste Teil dieser Tätigkeit, wie ja in der Natur der Sache begründet, weitaus mehr gepflegt als der zweite und es ist daraus den Naturwissenschaften mancher nicht ganz unberechtigte Vorwurf erwachsen. Jedenfalls ist klar, dass ein großer Teil der Kunst des Naturforschers, das Hauptgeheimnis seiner Erfolge, in der richtigen Anwendung der geschilderten Methode besteht; und damit ist ihm durchaus keine leichte Aufgabe gestellt. Denn die Auflösung eines Naturvorganges in seine Teilvorgänge bringt in doppelter Hinsicht bedeutende Schwierigkeiten mit sich. Fürs erste erfordert sie die richtige Erkennung der Umstände, von denen der Vorgang abhängt, fürs zweite die experimentelle Realisierung dieser Teilvorgänge. Die letztere gründet sich nicht nur auf eine sehr genaue Kenntnis aller experimentellen Hilfsmittel, sondern auch auf deren zweckmäßige Anwendung und gerade in diesem letzteren Punkte staunen wir noch heute die großartigen Leistungen an, welche ein Liebig, ein Bunsen durch geniale Ausnutzung der geringfügigen ihnen zu Gebote stehenden Mittel zuwege brachten. Entsprechend der Wichtigkeit, welche das Experiment nicht nur in rein wissenschaftlicher, sondern auch pädagogischer Hinsicht gewinnt, sehen wir denn auch die heutige Zeit eifrig bemüht, die experimentellen Hilfsmittel, wie Messinstrumente, Materialien etc. dem Forscher in großer Zahl und vorzüglicher Beschaffenheit zur Verfügung zu stellen. Aber auch der erstgenannte Punkt, die richtige Erkennung der Umstände, von denen ein Vorgang abhängt, bietet oft die größten Schwierigkeiten und es offenbart sich auch hier stets die Überlegenheit des Genies in der Art, wie es ein Problem anpackt, in der Art, wie es die zu beantwortende Frage stellt. Wir brauchen, um dieses einzusehen, nur an etwas weiter abliegende Gebiete zu denken, etwa an die Erscheinungen des Hypnotismus, der Suggestion. Wie außerordentlich schwierig ist es hier, den richtigen Ausgangspunkt zu treffen, wie schwierig, zu experimentieren, wenn wir darunter nicht planloses Versuchen verstehen wollen. Und genau dasselbe begegnet uns, wenn wir von einem uns heute mehr oder weniger vertrauten Gegenstand, der Elektrizitätslehre, sprechen. Die von uns ausführlicher besprochenen Naturvorgänge, der freie Fall, das Verhalten der Gase gegen Änderungen von Druck und Temperatur, waren insofern äußerst einfach, als wir einerseits für Bewegungen ein vorzügliches Verständnis haben, indem zwei Sinne, das Auge und der Tastsinn, uns dieselben direkt zu vermitteln imstande sind, und wir anderseits auch über die Größen, Volumen, Druck, Temperatur, vermöge der Beschaffenheit unseres Körpers, unmittelbar Auskunft erhalten. So wie wir uns aber in Gebiete wagen, in denen unsere Sinne nicht direkt angesprochen werden, fühlen wir uns unbehaglich, es überkommt uns die lähmende Empfindung des Geheimnisvollen, des Rätselhaften, des Unerforschlichen, eine Empfindung, welche schon zu den abenteuerlichsten Verirrungen Veranlassung gegeben hat. Wir besitzen, wie ausgeführt, ein direktes Beobachtungsvermögen, ein unmittelbares Verständnis für Bewegungen, für Farben, Töne, für die Temperatur usw., aber unsere Sinne verlassen uns, wenn es sich darum handelt, über Größen, wie der elektrische Widerstand, das elektrische Leitvermögen, die elektrische Spannung oder das Potential Auskunft zu erhalten. Es dürfte zweckmäßig sein, bei diesem Gegenstand zu verweilen; bevor wir dies jedoch tun, möge eine sehr wesentliche Erweiterung unserer Betrachtungen Platz finden.

Die Zusammenfassung von Einzelerfahrungen oder Erlebnissen führt nicht nur, wie wir dies bis jetzt gesehen haben, zu Naturgesetzen, sondern auch zu anderen Gebilden, den Begriffen, und diese Zusammenfassung, von der wir, ohne es vermeiden zu können, schon den ausgiebigsten und mannigfaltigsten Gebrauch gemacht haben, ist ohne Zweifel viel wichtiger als die der ersten Art. Denn mit Begriffen operieren wir ohne Unterlass, es lässt sich kein Satz aussprechen, ohne einige begriffliche Zusammenfassungen zu benutzen. Der Bildungsprozess beider ist offenbar genau derselbe und ihre Entstehung ist auf dieselbe Ursache zurückzuführen. Sie entspringen beide dem synthetischen Grundzug unseres geistigen Lebens, der überall nach Einheit strebt, sie dienen beide als Hilfsmittel des Gedächtnisses und der Beherrschung einer ungeheuer großen Anzahl von Vorgängen und Dingen. Fassen wir Vorgänge einheitlich zusammen, so geschieht dies in der Weise, dass wir das Unwesentliche des einzelnen Erlebnisses weglassen, beim freien Fall etwa Zeit und Ort, die besondere Beschaffenheit des fallenden Gegenstandes etc., und das Gemeinsame herausgreifen, die Tatsache des Fallens selbst, die Geschwindigkeit, die Unabhängigkeit vom Gewicht usw. Genau der gleiche Vorgang bei Bildung der Begriffe: wir betrachten etwa eine Reihe verschiedener Pflanzen, greifen auch hier gemeinsame Merkmale heraus, lassen unwesentliche weg und gelangen so dazu Begriffe wie Schmetterlingsblütler oder Phanerogamen; Kryptogamen etc. zu bilden. Desgleichen fassen wir durch diesen Prozess eine Zahl von Tieren etwa unter den Begriffen Raubtier, Fisch, Wirbeltier usw. zusammen, indem wir gemeinsame Merkmale oder Eigenschaften als das Wichtige herausgreifen, das nicht Gemeinsame, Individuelle als nebensächlich außeracht lassen. Geradeso wie man von engeren zu allgemeineren Naturgesetzen weiterschreitet, vom Gesetze des freien Falles zum Gesetz der Gravitation gelangt, so steigt man von engeren Begriffen zu den weiteren auf, etwa in der Reihe: Wolf, Raubtier, Wirbeltier, lebendes Wesen und je weiter man in dieser Reihe kommt, desto größer ist der Umfang des Begriffes, desto mehr einzelne Individuen umfasst er, desto kleiner ist aber sein Inhalt, da ja immer mehr besondere Merkmale oder Eigenschaften weggelassen werden. Zu dem Begriffe des Raubtieres gehören noch die Bestimmungsstücke, vierfüßig, gebiert lebende Junge, die in der ersten Zeit gesäugt werden, Gebiss von bestimmter Beschaffenheit etc., lauter Merkmale, die in dem Begriff lebendes Wesen nicht mehr enthalten sind. Dieser letztere Punkt tritt allerdings bei den Naturgesetzen lange nicht mehr so klar und unvermittelt zutage. Aber es lässt sich auch hier bei näherem Zusehen das Verarmen an Inhalt mit der Ausdehnung des Umfanges konstatieren. Es gibt zwei Gesetze, die sich mit dem Gesetze der allgemeinen Gravitation ohne weiteres zu einer höheren Einheit zusammenfassen lassen: die Coulombschen Gesetze, welche besagen, dass zwei Elektrizitätsbeziehungsweise Magnetismusmengen sich, wenn sie gleich bezeichnet sind, abstoßen, wenn ungleich bezeichnet, anziehen, und zwar mit einer Kraft, welche direkt proportional ist dem Produkte dieser Elektrizitätsoder Magnetismusmengen und umgekehrt proportional dem Quadrat ihrer Entfernung. Wir finden also genau den gleichen Ausdruck für die anziehende beziehungsweise abstoßende Kraft, wie wir ihn für die Wechselbeziehungen zweier Massen konstatiert haben. Fassen wir alle drei Gesetze in eines zusammen, und es steht gar nichts im Wege, dies zu tun, so erkennen wir sofort, dass zwar der Umfang unseres Gesetzes ungeheuer erweitert wurde, aber der Inhalt abgenommen hat, indem die gemeinsamen Merkmale aller Fälle, welche dem neuen Gesetze zu subsumieren sind, ihrer Zahl nach vermindert wurden.

Unsere Betrachtungen haben gezeigt, dass uns eine sehr große Freiheit in der Begriffsbildung eingeräumt ist; wir können Zusammenfassungen dieser Art in sehr verschiedener Weise ausführen. Es sei daran erinnert, dass Linné die pflanzlichen Individuen in ganz anderer Weise zusammengefasst hat, als wir dies heute tun und es auch offenbar ganz gut möglich ist, andere zoologische Systeme als das heute benutzte zu konstruieren. Wir finden damit wieder einen Vergleichspunkt mit den Naturgesetzen, von welchen ja hervorgehoben wurde, dass ihre Aufstellung in gewissem Sinne eine willkürliche ist und es gerade die Erfahrung selbst ist, die uns auf ganz bestimmte Beziehungen hinweist, die eben für uns besonders wichtig sind. Begriffe und Naturgesetze dienen beide dazu, die uns umgebende Welt gedanklich zu bewältigen und zu beherrschen, sie enthalten also ein lebensförderndes Moment und dieses Moment, die Zweckmäßigkeit, tritt auch in weitaus den meisten Fällen zutage, wenn es auch an Missgriffen nicht gefehlt hat. Dass man Linnés System verlassen hat und zu dem sogenannten natürlichen System übergegangen ist, hat in dem eben Besprochenen seinen Grund und das Wort „natürlich“ sagt nichts weiter aus, als dass dieses System unter allen möglichen aus Begriffen gebildet ist, welche mit Bezug auf den Menschen und seine gedankliche Beherrschung der Natur die zweckmäßigsten sind. Wenn nun auch diese Verhältnisse mit Rücksicht auf die Begriffsbildung zum Teil klar sind, so erregt es doch ein gewisses Erstaunen, sie auch auf die Naturgesetze angewandt zu hören; denn im allgemeinen legt man denselben eine ganz objektive Existenz bei, mit welcher das Gesagte allerdings schlechthin unverträglich ist. Bis zu einem gewissen Grad ist diese unrichtige Meinung auch erklärlich, da sich wohl ohne weiteres behaupten lässt, dass seit jeher außerordentlich viel mehr unzweckmäßige Begriffe als Naturgesetze aufgestellt wurden. Aber wenn z. B. die längste Zeit hindurch im Sinne der Aristotelischen Naturauffassung behauptet wurde, dass jeder Körper in der Natur seinen Ort aufsuche, der schwere sich nach unten bewege, der leichte nach aufwärts, wenn man weiter den Satz aufstellte, dass die Körper eine Abscheu vor dem leeren Raum haben (horror vacui) und dies der Grund sei, warum das Quecksilber in einem Barometerrohr hochsteige, so sind das Aussprüche, die ganz den Charakter von Naturgesetzen haben. Man bezeichnet dieselben heute wohl als unrichtig, jedoch ist für diese Auffassung eigentlich kein Grund vorhanden, wohl aber sind sie im höchsten Grade unzweckmäßig und aus dieser Ursache durch andere, bessere ersetzt worden. Auch wenn es sich um Begriffe handelt, ist man wohl geneigt, von einer objektiven Gültigkeit zu sprechen, wenn ihnen ein sehr großer Grad der Allgemeinheit zukommt, wie etwa den Begriffen Größe, Zahl, Kausalität etc. Man nimmt jedoch auch hier, und zwar mit vollem Recht immer allgemeiner an, dass derartige Begriffe etwas aus der Erfahrung Erworbenes und geschichtlich Gewordenes vorstellen. Nur sind sie sehr ursprünglich, sehr alt und haben sich als so überaus zweckmäßig erwiesen, dass sie uns ganz unentbehrlich geworden sind. Jedenfalls können wir bei sehr allgemeinen Begriffen, die in einem engeren Sinne als naturwissenschaftliche zu bezeichnen sind, ihre Wandelbarkeit im Laufe der Zeit feststellen, dies ist z. B. für die Begriffe der Kraft, Masse, Materie usw. der Fall und es kann als geradezu charakteristisch für unsere Tage angesehen werden, dass man sich vielseitig und eifrig darum bemüht, solche Begriffe in einer für die Einfachheit und Einheitlichkeit der Naturauffassung ersprießlichen Art und Weise festzulegen. Aber im Grunde genommen ist das ein Prozess, der ewig währt, indem uns jede neue Erfahrung zwingt, sie mit den bereits gemachten in Einklang zu bringen.*)

So ergibt sich, dass Begriffe und Naturgesetze wohl in einem andern Sinne aufgefasst werden müssen, als es vielfach üblich ist. Wir dürfen sie durchaus nicht mit der Wirklichkeit identifizieren, sie als einen strengen Ausdruck derselben ansehen; viel mehr verhält sich unsere Darstellung der Natur durch Gesetze und Begriffe zur Wirklichkeit, wie eine Landkarte zu der Gegend, die sie darstellt. „Man kann nicht gut sagen, dass die Karte der wirklichen Gegend irgendwie ähnlich wäre, aber wenn man das Anwendungsprinzip kennt und weiß, von welchem Gesichtspunkte sie entworfen wurde, dann ist sie außerordentlich nützlich, um uns den Weg durch die Gegend finden zu helfen.“ (Carpenter.) Es lässt sich demnach behaupten, dass der Forscher aus Begriffen und Gesetzen eine ideale Wirklichkeit konstruiert, über welche er leider nur zu oft die lebendige Natur vergisst.

Das Gesagte wird sofort klar, wenn man sich der früher geschilderten Methode, Gegenstände und Ereignisse gedanklich zusammenzufassen, erinnert. Es wird das Gemeinsame herausgehoben und das scheinbar Nebensächliche außer acht gelassen; im Grunde genommen aber gleicht ja kein Ding einem anderen vollkommen. Zwei Individuen derselben Gattung weisen immer noch zahllose Unterschiede auf und Geschehnisse in der Natur sind nur mit Bezug auf gewisse Details konform, während schon die Tatsache ihrer Registrierbarkeit beweist, dass sie wenigstens zeitlich andere sind.

*) Vgl. hierzu Machs wundervolle Rede „Über Umbildung und Anpassung im naturwissenschaftlichen Denken“ in seinen „populärwissenschaftlichen Vorlesungen“.

Aber auch in anderer Richtung sehen wir. diese Verhältnisse deutlich zum Ausdruck kommen; eine große Reihe von Gesetzen entspricht dem Verhalten der Dinge überhaupt nur angenähert; beispielsweise gelten die früher besprochenen Gasgesetze nur für „ideale“ Gase, wie man sich ausdrückt, während sie die Änderungen irgendeines der uns wirklich bekannten gasförmigen Körper immer nur mit mehr oder weniger großer Genauigkeit darzustellen erlauben, d. h. die berechneten Änderungen stimmen mit den wirklichen nicht vollkommen überein. Ebenso beschäftigt sich die Mechanik vielfach mit vollkommen starren Körpern, die es ja nicht gibt, oder die Wellenlehre mit einem andern Gedankending, dem vollkommen elastischen Äther usw. Wenn nun auch nicht alle unsere Gesetze diesen Charakter tragen, sondern es in großer Zahl auch solche gibt, die — soweit unsere Erfahrung reicht — strenge Gültigkeit besitzen und die man deswegen auch gelegentlich Naturgesetze im engeren Sinne des Wortes nennt, so enthalten dieselben doch immer insofern ein ideales Moment, als wir, wie bereits ausgeführt, immer nur das Wesentliche aus den Geschehnissen herausschälen, beim Übergang zur Wirklichkeit aber die mannigfachen Nebenumstände, die wir außer acht gelassen haben, mitberücksichtigt werden wollen, was dann stets zu einer großen Zahl von Korrekturen Veranlassung gibt. So ergibt sich die Flugbahn eines geworfenen Körpers aus dem Gravitationsgesetz ohne weiteres, wollen wir aber nicht diese ideale Flugbahn, sondern die wirkliche etwa einer abgeschossenen Flintenkugel kennen, so haben wir den Luftwiderstand, den Einfluss des Windes usw. mit zu berücksichtigen.

Dadurch, dass wir Gesetze und Begriffe ihrer Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit wegen immerfort benützen, werden wir verleitet, ihnen Realität zuzuschreiben und daraus entwickelt sich ein Zwiespalt, der hier nur als besonderer Fall einer prinzipiell höchst wichtigen Frage erscheint, die sich seit den ältesten Zeiten durch alle Gebiete geistiger Betätigung, zieht. Denn in genau dieselbe Lage führt uns der im Mittelalter mit der größten Erbitterung geführte Streit der Nominalisten und Realisten, ob dem einzelnen Ding oder der Gesamtheit das Prädikat der Realität zuzuschreiben sei; schon im Altertum sprechen sich die verschiedenen Philosophen bald in einem, bald im andern Sinne aus; während die Cyniker und Stoiker auf dem Standpunkt des Nominalismus stehen, vertritt Plato dadurch, dass er das Wirkliche, das allein Beeile in dem den einzelnen Erscheinungen zugrunde liegenden Gemeinsamen, d«n „Platonischen Ideen“ sieht, die Lehre des Realismus. Und dieser Zwiespalt zieht sich auch durch die ganze Philosophie der Neuzeit, die englischen Philosophen, wie Hume, Locke, Berkeley, Hobbes sind mehr oder weniger Vertreter der erstgenannten Richtung, Kant, Schopenhauer etc. der anderen. Und ist im Grunde genommen der große Kampf zwischen Individualismus und Sozialismus nicht auf dasselbe Problem zurückzuführen?

Es sei nach der nun gewonnenen wesentlichen Erweiterung unserer Betrachtungen erlaubt, wieder dort anzuknüpfen, wo wir den Faden abgebrochen haben und darzutun, welchen Schwierigkeiten die Bildung von Begriffen und Naturgesetzen dort begegnet, wo uns unsere Sinne nicht direkt Auskunft zu geben vermögen, wie bei elektrischen Erscheinungen. Wie groß die Mühe der gedanklichen Bewältigung in solchen Fällen ist, lehrt ja die Geschichte, indem zu einer Zeit, wo man bereits umfassende Kenntnisse auf anderen Gebieten der Physik, der Mechanik, Wärmelehre, Optik hatte, die Elektrizitätslehre sich auf einige wenige Beobachtungen beschränkte. Aber auch hier gelangen wir durch systematische Erforschung der Tatsachen, durch immerwährendes Prüfen und Vergleichen unserer Gedanken an der Hand der Erfahrung dazu, der Erscheinungen Herr zu werden.

Es ist überaus interessant und belehrend, den Weg kennen zu lernen, auf welchem man zu den Grundbegriffen der Elektrizitätslehre gekommen ist; er ist jedoch so vielfach verschlungen und umständlich, dass es zu weit führen würde, ihn zu beschreiben. Wir müssen uns daher begnügen, auf die vielen mitunterlaufenen Missverständnisse, Verirrungen und Verwechslungen hinzuweisen, ohne sie im einzelnen anzuführen. Dieses hätte ja schließlich nicht allzu viel Sinn, da nur ein genaues Studium sie verstehen und in ihnen das langsame Aufsteigen zu begrifflicher Klarheit würdigen lernt. „Lassen wir die Geschichte,“ sagt E. Mach, „eines schon geläutigen Gedankens an uns vorbeiziehen, so können wir den ganzen Wert seines Wachstums nicht mehr richtig abschätzen.“ Sehr wesentlich hat zur begrifflichen Darstellung der elektrischen Erscheinungen ein Verfahren beigetragen, welches außerordentlich häufig, früher unbewusst, jetzt in Erkenntnis seiner Verwendbarkeit bewusst zur Anwendung kommt und darin besteht, die dem Verständnis näher zu bringenden Tatsachen mit ähnlichen, uns durchaus geläufigen, zu vergleichen. Hierzu eignen sich insbesondere mechanische Vorgänge, für die wir von Haus aus durch unseren Muskelsinn ein eminentes Verständnis besitzen; nichts scheint uns natürlicher, nichts der Erklärung weniger zu bedürfen, als das Spiel mechanischer Kräfte. Man hat infolgedessen seit jeher getrachtet neue, rätselhafte Erscheinungen auf mechanische Vorgänge zurückzuführen und durch diese zu erklären. Die Tatsache, dass man die elektrischen Eigenschaften eines Körpers einem andern geradeso durch Berührung mitteilen kann, wie die Wärme, hat zu der Annahme geführt, dass Wärme und Elektrizität Flüssigkeiten von besonderer Beschaffenheit sind, die bei der Berührung von einem Körper zu einem andern überfließen, und von dieser Vorstellung zu dem Versuch, auf die elektrischen Erscheinungen alle Gesetze für bewegte Flüssigkeiten zu übertragen, war nur ein Schritt. Dieser Vorgang, das Aufsuchen von Analogien, der, wie gesagt, in den Naturwissenschaften sehr häufig zur Anwendung kommt, hat seine großen Vorteile, aber auch seine großen Nachteile, von denen später ausführlich zu sprechen sein wird. In unserem Falle führt er wirklich insoweit zum Ziel, als er uns erlaubt, die elektrischen Erscheinungen im landläufigen Sinne des Wortes zu erklären und ein System von Begriffen auszubilden, welches diese Erscheinungen gedanklich darzustellen, sie in ihre Teilvorgänge aufzulösen und letztere experimentell zu verwirklichen gestattet. Wir wollen, um die Analogie durchzuführen, uns, wie in beistehender Figur abgebildet, ein Gefäß vorstellen, das unmittelbar über dem Boden eine horizontale mit einem Hahn abschließbare Röhre hat, auf die ihrerseits mehrere vertikale Rohrstutzen aufgesetzt sind. Denken wir uns das Gefäß mit Wasser gefüllt, den Hahn geschlossen, so steht die Flüssigkeit in allen Röhren gleich hoch (nach dem bekannten Gesetz der kommunizierenden Röhren). Öffnet man den Hahn, so fließt Wasser aus, und zwar um so rascher je höher die Wassersäule in dem Gefäß ist, der Druck derselben ist für die ausfließende Menge maßgebend. Diese hängt aber noch von einem Umstand ab, nämlich von der Beschaffenheit der Röhre; es wird desto mehr Wasser ausströmen können, je weiter die Röhre ist, und auch die Länge derselben hat einen Einfluss. Wir kommen so zu der Vorstellung, dass die Röhre dem Ausfließen des Wassers einen gewissen Widerstand entgegensetzt. Hält man nun an der durch die Mitteilbarkeit der elektrischen Eigenschaften hervorgerufenen Annahme einer elektrischen Flüssigkeit fest — dass man derartiges seit jeher im Auge gehabt hat, beweisen die Ausdrücke: der elektrische Strom, der Strom fließt, die Elektrizität strömt usw. — so ergeben sich sofort folgende Vergleichspunkte:

Wenn die Elektrizität eine Flüssigkeit ist, so wird es zu einem Strömen derselben nur unter dem Einfluss einer Größe kommen, die dem Drucke der Flüssigkeitssäule in dem betrachteten Falle entspricht. Man hat diese Größe als elektrisches Potential, Potentialunterschied, elektrische Spannung, Spannungsgefälle und in besonderen Fällen als elektromotorische Kraft bezeichnet; sie ist es, welche die elektrische Flüssigkeit geradeso in Bewegung setzt, wie der Druck in dem Gefäß das Wasser. Weiter: geradeso wie die Menge des ausfließenden Wassers von der Beschaffenheit der Röhre abhängt, so wird auch die Schnelligkeit der Bewegung, die Stromstärke, beeinflusst sein von den elektrischen Leitern, die der Ausflussröhre entsprechen, und die Analogie lässt hier noch Details annehmen, die nachträglich durch die Erfahrung bestätigt wurden. Wir sehen, dass die Schnelligkeit der ausströmenden Flüssigkeit desto größer ist, je größer der Querschnitt der Röhre, und mit der Länge des Rohres abnimmt. Sie hängt überdies von der Beschaffenheit der Flüssigkeit ab, indem eine dicke Flüssigkeit wie Glyzerin langsamer ausfließt als das leichtbewegliche Wasser. Geradeso ist auch hier die Stromstärke desto größer, je weniger der elektrische Widerstand der Leiter beträgt, der dem Widerstand der Röhre entspricht und in gleicher Weise von Querschnitt, Länge und besonderer Beschaffenheit des Materials abhängt. Ja, die Analogie lässt sich noch viel weiter treiben. Beim Offnen des Hahnes zeigt sich, dass die Höhe der Wassersäule von Rohrstutzen zu Rohrstutzen abnimmt und das ist ein Beweis dafür, dass die treibende Kraft desto kleiner wird, je weiter wir längs der horizontalen Röhre weiterschreiten und ebenso ergibt sich, dass in einem Leiterstück, an dessen Enden als treibende Kraft eine Potentialdifferenz sitzt, diese in der Stromrichtung von Punkt zu Punkt abnimmt usw.

Der außerordentliche Vorteil, den eine derartige mechanische Analogie mit sich bringt, ist aus dem Gesagten wohl zur Genüge hervorgegangen. Es sei nur noch ergänzend hinzugefügt, dass der geniale Physiker Ohm, wenn auch vielleicht nur indirekt, bei der Auffindung eines fundamentalen Gesetzes der Elektrizitätslehre durch das Bild vom fließenden Wasser gefördert wurde. Dieses Gesetz stellt eine Beziehung zwischen den früher genannten elektrischen Größen her und besagt, dass

1. die Stromstärke direkt proportional ist der elektrischen Spannung, also auf den doppelten, dreifachen usw. Betrag steigt, wenn die Spannung zwei, drei usw. Mal so groß wird;

2. die Stromstärke dem elektrischen Widerstand umgekehrt proportional ist, also auf die Hälfte, ein Drittel usw. sinkt, wenn der Widerstand den doppelten, dreifachen Betrag usw. annimmt.

Diese beiden Beziehungen lassen sich gleichwie die Gasgesetze in ein einziges Gesetz zusammenziehen, das nach seinem Entdecker benannt wird und lautet:

Elektrische Spannung = elektrischer Stromstärke X elektrischem Widerstand.

Dadurch, dass uns diese überraschend einfache und wichtige Beziehung durchaus geläufig geworden ist, sind wir nur allzu leicht geneigt den richtigen Wert ihrer Entdeckung zu schmälern und dadurch an ihrem Entdecker ein großes Unrecht zu begehen. Wie schwierig es dort ist, weiter zu kommen, wo uns die Erfahrung nicht mehr direkt Auskunft gibt — denn einen elektrischen Sinn haben wir nicht, und welche Missgriffe und Irrtümer dort nicht ausgeschlossen sind, wo wir umständliche Denkprozesse vollführen müssen, das möge daraus hervorgehen, dass einem englischen Physiker, der, was Vielseitigkeit, Geschick und glänzende Begabung anbetrifft, zu den ersten Meistern der Naturforschung zu zählen ist, dem wir beinahe alle Fundamente der Elektrizitätslehre verdanken, Michael Faraday, gelegentlich begriffliche Verwechslungen passiert sind, die wir heute kaum mehr verstehen.

Es mögen damit unsere Betrachtungen in einer Richtung ihren Abschluß finden und wenn wir unsere Ergebnisse kurz wiederholen, so hätten wir folgendes zu sagen. Wir fassen unsere Erfahrungen in Begriffen und Gesetzen zusammen. Das Wichtige dieses Prozesses ist ohne weiteres ersichtlich; es ist wohl zur Genüge aus dem Angeführten hervorgegangen, dass wirklich klare, scharf abgegrenzte und gründlich erfaßte Begriffe und Gesetze in den Naturwissenschaften immer das Entscheidende sind. Sie sind es, die der Forschung weitere Wege ebnen und zu lösende Aufgaben in Schärfe zu erfassen erlauben.

Die Bildung von Begriffen und Gesetzen trägt ganz ausgesprochen das Gepräge der Zweckmäßigkeit, indem sie dazu dienen, die uns umgebende Welt gedanklich zu beherrschen und es auf diese Weise ermöglichen, aus natürlichen Geschehnissen für uns möglichst großen Nutzen zu ziehen, uns vor gefahrbringenden Ereignissen zu schützen und aus gegebenen Zeichen auf Künftiges zu schließen. Sie entspringen dem Streben unseres Geistes nach Einheit, das uns treibt die verschiedenen Erfahrungen, die wir machen, miteinander in Einklang zu bringen und scheinbare Widersprüche zu lösen. Es kommt ihnen also eine eminent lebensfördernde Bedeutung zu, die der in ihnen ruhenden prophetischen Kraft entspringt. Ihre Zweckmäßigkeit tritt nicht nur in Hinsicht der Erreichung eines bestimmten Zieles, sondern auch mit Beziehung auf die Beanspruchung unserer geistigen Kräfte hervor, indem, wie Avenarius*) und E. Mach**) überzeugend dargetan haben, ihre Bildung unbewusst nach dem Prinzipe mögliebster Ökonomie erfolgt.

*) Avenarius, „Der menschliche Weltbegriff“ und andere Schriften.

**) Mach, „Die ökonomische Natur der physikalischen Forschung“.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber die Grundlagen der exakten Naturwissenschaften