Polen. Beobachtungen und Erwägungen. Erster Eindruck (1885)

Die Reise von Wien nach Warschau
Autor: Brandes, Georg (1842-1927) dänischer Literaturkritiker, Philosoph und Schriftsteller, Erscheinungsjahr: 1898

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Polen, Warschau, Russland, Russen, Preußen, Deutschland, Juden, Christen, Charakter, Sitten, Bräuche,
Einzig autorisierte Übersetzung aus dem Dänischen von Adele Neustädter
Erster Eindruck (1885) Die Reise von Wien nach Warschau

Der Zug verließ am 3. Februar 11 Uhr vormittags die Stadt Hans Makarts und Johann Strauss's und noch lange summten die Wiener Stimmungen und Erinnerungen im Gehirn; leichte Stimmungen und lichte Erinnerungen — an gewinnendes Entgegenkommen, flüchtige Herzlichkeit, Gemütswärme, Strohfeuer des Augenblicks; an die Reden formgewandter Journalisten und Exminister, die Versimprovisationen junger Dichter, an das Lächeln schöner Frauen und an schöner Soubretten Scherz und Lachen, an die Plackereien literatur- und autographensüchtiger Damen; an die pompösen Marmorhallen des Theophilus Hansen, an die hingesudelte Pracht der Markartausstellung und an die gemütliche Stube, wo der Walzerkönig am Klavier seine Tänze vortrug, diese Tänze, die zwar sehr kleine Kunstwerke, aber doch echte Kunst sind; und ich atmete noch einmal diese Atmosphäre von friedlichem Leichtsinn ein, von wilder, aber harmloser Lebenslust, vom liebenswürdigen zweitenrangs-Glück, das die Lungen füllt, in dem großen Hexenkessel, Wien genannt.

Wien ist die Stadt der Zwanglosigkeit. Wie leicht fließt dort das Wort, die Farben, die Musik.

Haben die Bewohner Berlins sich von Schülers Anmut und Würde die Würde angeeignet, so ist die Anmut das Erbteil der Wiener geworden. Denn Wien ist eine Stadt für sich, die alles kleidet, weil sie genügend gesunden Sinn besitzt, nichts andres zu tun, als was sie kleidet. Wie reich an Erinnerungen und wie malerisch ist sie, wie reich an starken Traditionen im Vergleich zu dem regelrecht modernen Berlin! Und wie schön ist es ringsum, wie charaktervoll die Tracht der Bauern in der Umgegend , die wir durchfahren, der weiße, weite, rotgesäumte Mantel und wie verstehen sie ihre Kleider zu tragen im Vergleich zu der Art, wie der norddeutsche Bauer seine steife, hässliche Tracht trägt!

Österreich ist ein reiches Land in verhältnismäßig ruhigem Auflösungszustand, worin man viele Arten von Menschen findet, aber keine Österreicher. Ja, man muss wohl die Kaiserfamilie und ein paar Antiquitäten von der alten Verfassungspartei ausnehmen. In Wien findet man sonst nur Deutsche, wie außerhalb Wiens nur Ungaren, Tschechen u. s. w.

Der Zug braust weiter. Ein kleiner polnischer Diener, der einen Reisenden begleitet, macht mich auf einen jungen Russen aufmerksam, der ab und zu französisch zu ihm spricht. „Er weiß wohl, dass ich russisch verstehe, sagt er, aber spricht doch französisch mit mir; so sind sie alle, im Grunde schämen sie sich Russen zu sein“ — eine höchst naive, aber sehr bezeichnende Äußerung polnischen Nationalhasses.

Um das Tageslicht, solange wir es haben, zu benutzen, lese ich in der Nouvelle Revue Sienkiewiczs „Bartek Vainqueur." . . .

Brandes, Georg (1842-1927) dänischer Literaturkritiker, Philosoph und Schriftsteller

Brandes, Georg (1842-1927) dänischer Literaturkritiker, Philosoph und Schriftsteller

Warschau 001 Der Altmarkt (Stare Miasto)

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Warschau 002 Ansicht 1656

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Warschau 003 Dziekania-Gasse

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Warschau 004 Turm der Jesuitenkirche

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Warschau 005 Alte Häuser. Kanonie

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Warschau 037 Kirche in Czerniaków, Inneres

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