Polen und Franzosen. Unbeständigkeit, Dilettantismus. Der fiebernde Charakter der Lebensfreude. Die Stärke und Reizbarkeit des Nationalgefühls

Warschau wirkt in vielen Beziehungen auf den Fremden fast wie eine französische Stadt. Französisch ist die Hilfssprache der Polen, die Sprache, die in den höheren Klassen alle bis zur Vollkommenheit können, — ich habe doch einige getroffen, die sie während eines zwanzigjährigen Aufenthalts in Sibirien halbwegs vergessen hatten, — die Sprache, die man ebenso flüssig wie die Muttersprache spricht, und noch besser als die Russen sie sprechen. In aristokratischen Kreisen unterhält man sich sogar häufig auf französisch, ein Verhalten, das seit Beginn des Jahrhunderts nicht nur durch den steten geistigen Verkehr mit Frankreich und der sich dorthin ergießenden Emigration gefordert wurde, sondern dem Drange entsprang, mit den Russen auf einem in sprachlicher Hinsicht neutralen Boden zu verkehren. Da die Polen außerdem häufig die Franzosen des Norden oder des Osten genannt werden, und da sie sich in ihren Fehlern, die sie selbst als Flüchtigkeit und Wankelmut bezeichnen, nahe verwandt mit den Franzosen dünken, so richten sie an den Fremden immer wieder die Frage, ob er nicht eine große und traurige Ähnlichkeit zwischen Polen und Franzosen finde.

Diese große Ähnlichkeit beruht auf reiner Einbildung.


Die geringe Ähnlichkeit, die man findet, besteht in einer verwandten Fähigkeit, schnell Begeisterung und ebenso schnell Überdruss zu empfinden, außerdem in einem starken Drang nach Aufregungen und Erlebnissen und in der Liebe zu Ruhm und Glanz.

Aber diese Gleichheitspunkte schließen nicht Grundverschiedenheit aus. Die rationalistische, räsonnierende Grundlage des französischen Volkscharakters fehlt in Polen gänzlich. Die algebraische arithmetische Grundlage der französischen Denkungsweise fehlt in Polen ganz. Der Franzose ist in des Wortes guter Bedeutung ein großer Prosaiker, der Pole ist Poet — darum hat auch das französische Buchreich seine Hauptstärke in der Prosa, das polnische die seine in der Poesie, im Verse. Nichts kann außerdem weniger französisch sein, als dieses stete und vollendete Sprechen einer fremden Sprache, diese merkwürdige Kenntnis fremder Kulturen, der man in Polen überall begegnet. Man trifft in Polen, sicherlich nicht in Frankreich, junge Mädchen von zwanzig Jahren, die sechs Sprachen ohne Accent bis zur Vollkommenheit sprechen. Fast jeder junge Mann oder jede Frau aus den höheren Ständen kennt die wichtigsten Hauptstädte Europas, und in einem nicht geringen Umfange die einflussreichsten Literaturen. Sowohl die leidenschaftliche Reiselust, als die daraus erfolgende Vielseitigkeit der Bildung, sind in hohem Grade unfranzösisch. Der Pole erweitert seinen Gesichtskreis und vermindert seine Gehirnkraft durch das Lernen von vier oder fünf fremden Sprachen, der Franzose ist in der Regel entweder unwissend oder Spezialist.

Doch der auffallendste Unterschied liegt sicher in dem Verhältnis zwischen den zwei Geschlechtern. Der Grundzug des polnischen Volkscharakters zeigt eine gewisse Mischung von Sanftheit und Energie. Aber was in diesem Jahrhundert dem polnischen Charakter und besonders der polnischen Vaterlandsliebe ihren eigenartigen Stempel gibt, ist das Übergewicht des weiblichen Elementes über das männliche.

Dass das Verhältnis zwischen Mann und Frau in Polen und in Frankreich sehr verschieden ist, verspürt man schnell in der täglichen Unterhaltung. Während der Ton zwischen Franzosen, sobald die Rede auf das Frauenkapitel kommt, immer äußerst frei ist, auf den Fremden zuweilen abstoßend wirkt und überhaupt lasziv ist, legen die Polen im Gespräch über Frauen zumeist Wärme, oft Zärtlichkeit oder Nachsicht an den Tag, aber, soweit ich beurteilen konnte, selten Frivolität.

Ich habe bei einem italienischen Schriftsteller eine Bemerkung gefunden, die möglicherweise den tieferen Grund dazu trifft. Er meint, dass während bei den germanischen Völkern der Mann in der Regel begabter als die Frau ist, und während bei den romanischen Völkern Mann und Frau durchschnittlich in geistiger Befähigung auf gleichem Niveau stehen, sei bei den Polen, dem eigenartigsten slawischen Volke, die Frau dem Manne entschieden überlegen. Falls man hierbei nicht an Erfindungs- oder Erzeugungskraft denkt, wird man sich durch diese Worte betroffen fühlen. Es fehlt den polnischen Männern sicher nicht an Leidenschaft, Mut und Energie, aber es scheint, dass die Frauen mehr davon besitzen. Man hat sie während der großen polnischen Aufstände Verschwörungen eingehen, Kriegsdienste leisten und häufig genug freiwillig ihren Geliebten nach Sibirien begleiten sehen. Die Grazyna von Mickiewicz, die zu Pferd eine Heerschar anführt, hat in diesem Jahrhundert Nachfolgerinnen gehabt. Berühmt vor allem ist Emilia Mater, eine junge Dame aus einer der ersten polnischen Familien, die 1830 einen ganzen Distrikt zum Aufruhr reizte, an mehreren Schlachten teilnahm, und nachdem sie sich zuletzt den Abteilungen angeschlossen hatte, die sich unter Dembinski weigerten, auf deutschen Boden zu entfliehen, sich mit ihrem Korps einen Weg durch das feindliche Heer zu bahnen suchte, aber im Dezember 1881, 26 Jahre alt, vor Entbehrung und Überanstrengung in einem einsam gelegenen Forstläuferhaus starb. Mickiewiczs schönes Gedicht, Des Obersten Tod, hat ihr Andenken verherrlicht. Es gab während der Empörung 1830 — 1831 nicht ein Bataillon oder eine Eskadron des polnischen Heeres, worin nicht weibliche Kombattanten waren; nach Kämpfen und Märschen pflegten die Soldaten immer ein Biwak für die Frauen herzurichten, und trugen Sorge, dass kein Wort fiel, was ihre Ohren verletzen konnte.*)

*) In seinem Buche über Polen erzählt General Roman Soltyk: Als Warschau angegriffen wurde, bemerkte ich mitten im Feuer einen Soldaten des fünften leichten Regiments, der stets gegen die Brustwehr gelehnt stand, sich nicht im geringsten um die Granaten und Kanonenkugeln kümmerte, sondern seine Kameraden mit lebhaften Handbewegungen und Zurufen ermunterte. Da er in der ersten Reihe stand, konnte ich zuerst nicht sein Gesicht sehen; aber als er sich umkehrte, entdeckte ich, dass es ein schönes Mädchen von achtzehn Jahren war.

Zu solchen Taten ist die Zeit nun vorüber, aber die Frauen sind noch beständig die eifrigsten Patrioten, weil sie am wärmsten empfinden und am wenigsten kritisieren. Nichtsdestoweniger dürfte der weibliche Einfluss in den letzten zwanzig Jahren etwas nach

gelassen haben. Die Frauen wirkten einst besonders als Hauptträger des katholischen Glaubens; aber der Glaube schwindet, wo er nicht geschwunden ist. Die Frau wirkte einmal auf ähnliche Weise wie der Priester, aber das Bündnis zwischen den Frauen und der Geistlichkeit lockert sich, wie die Bildung und die Kirche sich scheiden. Und hierzu kommt, da alles öffentliche Leben verboten und es weder Versammlungen noch Vereine irgend einer Art gibt, dass im gesellschaftlichen Leben die Männer fast ausschließlich einander suchen. Da der Gesellschaftssaal die Stelle des politischen und literarischen Versammlungslokals vertritt, denken sie stets weniger daran, dort die Frauen für ihre Interessen zu gewinnen. Diese fühlen sich zurückgesetzt, übersehen, und verlassen, ungefähr wie in Süddeutschland, wo der Mann seine Abende im Bierhause verbringt, nur dass die Verlassenheit andre Gründe hat. Der Druck von oben hat augenscheinlich viel dazu beigetragen, die Geschlechter zu zersplittern und den sozialen Einfluss der Frau zu vermindern. Er dürfte augenblicklich in Polen geringer als in Frankreich sein. Die Erziehung der jungen Mädchen wird im übrigen nach den gleichen Prinzipien wie dort geleitet — man lässt sie keinen Augenblick unbewacht — und die Ehen werden auf dieselbe Art wie in Frankreich gestiftet; die Betreffenden kennen sich selten vor der Hochzeit genauer, und sehen sich im allgemeinen zum ersten Male wenige Wochen vorher.

Was den polnischen Wankelmut betrifft, so weist auch er keinerlei Ähnlichkeit mit dem französischen auf. Der Wankelmut der Franzosen offenbart sich zunächst in dem öffentlichen Leben, überall wo sie in Massen auftreten, als Volksversammlung oder Volk. Er beruht auf plötzlichem Stimmungsumschlag, wofür sich kein einzelner verantwortlich fühlt. Der Wankelmut der Polen ist persönlich, beruht teils auf dem Drange nach Abwechslung, teils auf einer instinktiven Neigung zur Universalität.

In Frankreich ist ein wohlverstandener, kluger und zuweilen feiner Egoismus das Prinzip, das von der Familie den Kindern vererbt wird, und diese Lehre, die ihnen von Anfang an eingeprägt wird, lenkt deshalb zumeist ihre Lebensbahn. Man versucht in Frankreich nicht wie in England oder Nordamerika zuförderst den Jüngling zu einem tüchtigen Menschen zu entwickeln der sich selbst helfen könne, sondern man bestrebt sich, seine Lebensbahn zu ebnen, ihm Begünstigungen, Verbindungen, Schutz zu verschaffen, seine Zukunft oder seine Beförderung zu sichern. Und ist die Bahn geebnet, so verlässt der junge Mann ungern seine Karriere, ehe er die höchste Stufenleiter der Ehre erreicht hat.

Ganz anders liegen die Verhältnisse in Polen, wo sich der junge Mann im Privatleben weit eher von einem flüchtigen Instinkt, als vom klugen Egoismus leiten lässt, und wo ein einziges öffentliches Interesse (das verlorene Vaterland, die verlorene Unabhängigkeit, die Muttersprache, die nationale Literatur und Kunst) unveränderlich und ohne Nachlass über jeden Wechsel erhaben steht.

Unzweifelhaft hat die Fremdherrschaft die Flüchtigkeit der Polen auf diesem höchsten Gebiete gänzlich gehoben; dagegen wirkte sie notwendigerweise im höchsten Grade fordernd auf den nationalen Wankelmut innerhalb des Privatlebens.

Denn was soll ein junger begabter Mann in russisch Polen tun? Er studiert z. B. Jus; er kann nie Richter werden, wird überhaupt nicht Beamter, wenn er sich nicht von jeglichem Verkehr mit seinen Landsleuten ausschließt. Er studiert Medizin; er kann nie eine Universitätsstellung erlangen, nie Oberarzt an einem Hospital werden, nie eine öffentliche Klinik leiten, also nie den ersten Hang in seiner Wissenschaft erreichen. Die Folge ist, dass er, falls er Vermögen besitzt — und es ist noch viel Reichtum in Polen, da reich zu werden fast das einzige ist, was jedermann erlaubt ist — von einem Studium zum andern übergeht, sich Einblick in die verschiedenartigsten Wissenschaften verschafft, den Fremden durch die Vielseitigkeit seines Wissens und seiner Kenntnisse überrascht, aber im Grunde kein eigentliches Fach hat.

In meinem nächsten Kreise fanden sich folgende Beispiele: Ein junger, sehr talentvoller Mann hatte als Jurist begonnen, war zur Medizin übergegangen und Arzt geworden, brach wieder ab, kaufte sich ein Landgut, studierte vier Jahre hindurch Landwirtschaft, Maschinen u. s. w., führte zahlreiche Verbesserungen auf seinem Gute ein, verkaufte es kurz danach und ist augenblicklich der beste Theaterkritiker in Warschau. — Ein anderer junger Mann hatte als Landwirt begonnen, gab die Landwirtschaft für die Musik auf, bildete sich dann zum Virtuosen aus, gab den Versuch auf, errichtete eine Instrumentenfabrik, fabrizierte mehrere Jahre lang Violoncelli, verlor das Interesse daran und arbeitet jetzt in der Kunstakademie zu München, um sich als Genremaler auszubilden.

Sie haben allzuviele Anlagen und allzuwenig Aufforderung zur Ausdauer.

Die Frauen beklagen sich bitter darüber. Als gute Gattinnen bestreben sie sich, die Interessen ihrer Männer zu teilen, machen sich mit deren Beschäftigungen vertraut und verzweifeln, wenn sie sich jedes zweite, dritte Jahr für etwas ganz Verschiedenes interessieren sollen. Sie denken mit Angst daran, was das nächste Jahr wohl bringen werde.

Als man eines Abends im Theater Dalila von Feuillet spielte, und als der Schauspieler, der die Rolle des Carnioli gab, nicht besonders glücklich war, konnte ich nicht einen Ausruf der Verwunderung unterdrücken, dass der Schauspieler in einer Stadt wie Warschau, wo sich so viele Männer von der Art Carniolis fanden, kein Vorbild für den genialen Dilettanten finden konnte, der den jungen Komponisten erzieht. Das vorzüglichste Vorbild stand neben mir, hinter den Kulissen. Als man mich denselben Abend in einem größeren Kreise frug, wie ich als Kritiker die polnische Gesellschaft bestimmen würde, entfuhr mir: Ihr seid eine Gesellschaft von Dilettanten.

Ich glaube, die Bestimmung ist richtig, wenn man das Wort in seinem großen Sinne nimmt, und beobachtet, wie die Polen so geworden sind.

Man denke sich ein von Natur sehr energisches Volk, vor dessen Energie man eine undurchbrechliche Schranke errichtet hat, ein kriegerisches Volk, das nur widerstrebend ins Heer eintritt und wo sozusagen kein junger Mann freiwillig die Offizierskarriere einschlägt; ein äußerst ehrgeiziges Volk, dem alle hohen Stellungen, Ämter jeglicher Art verschlossen sind, und dem alle Auszeichnungen und Ehrenbezeigungen verwehrt sind, insofern sie nicht mit Aufopferung von Überzeugung oder Verleugnung der Solidarität mit Landsleuten erkauft werden; ein Volk, das nie irgend welche Spießbürgerlichkeit besaß, aber das die bürgerlichen Tugenden erwerben musste, und dem nun die Verhältnisse einen steten Anlass zum Wankelmut geben; ein genussliebendes Volk, in dessen Hauptstadt sich nicht ein einziger öffentlicher Belustigungsort befindet; ein Volk, das einen lebhaften, unregelmäßigen Hang zur Politik hegte, und dem man jede politische Erziehung unmöglich gemacht hat, indem es weder Vertreter wählen, noch Staatssachen erörtern darf, und dessen politischer Presse in der Wirklichkeit, in jeder politischen Frage der Mund gestopft ist; von politischen Zeitungen in Polen zu sprechen, ist als spräche man von Marinezeitschriften in der Schweiz. Man stelle sich recht lebhaft dieses Volk vor, das zu einem großen, freien Leben im vollen Tageslicht der Öffentlichkeit veranlagt war, eingepresst in das Clair-Obscur des Privatlebens; man stelle sich ein Volk vor, das seit Arilds Zeiten die überspanntesten Begriffe von den Rechten des Einzelnen gegenüber der Staatsmacht besaß, welches nun sein Leben ohne die geringste Rechtsicherheit gegenüber dem Eingriff eines zufälligen höheren Beamten lebt, an Sibirien denkend, wie andre Menschen an eine Krankheit, die kommen kann, wenn man sie am wenigsten erwartet!

Man stelle sich dies alles vor, und man wird verstehen, dass durch den Druck, der gleichzeitig von so vielen Seiten gewirkt hat, eine außerordentlich zusammengedrängte Lebenswirksamkeit entstehen musste, eine kochende Lebensintensität auf dem engen Gebiete, das übrigblieb.

War das eigentliche Volk ausgesperrt, war jede Erziehung, jeder Unterricht demselben unmöglich gemacht, so gerieten die höheren Stände, die sich nicht hinlänglich rekrutieren konnten, dazu, eine Art Inselleben in der höchsten und verfeinertsten Kultur zu fuhren, ein Leben, das zwar in jedem Herzschlag national, aber in jeder Äußerungsform kosmopolitisch ist, ein Treibhausleben, wo Blumen aus allen europäischen Zivilisationen duften und zur Entfaltung gekommen sind, ein wirbelndes, siedendes Strudelleben in Ideen, Bestrebungen, Zerstreuungen und Festen. Die bessere Gesellschaft kam im Monat Februar kaum eine Nacht vor vier Uhr zu Bett. Zur Karnevalszeit hat der Tag in Warschau zwanzig Stunden, und so lange die Saison währt, verschwendet man Zeit und Kraft.

Das Leben in Warschau ist eine Neurose, sagte mir einer der verständigsten Männer der Stadt, niemand hält es lange aus.

Dieses Volk, das den Tanz der Planeten um die Sonne entdeckt hat, hat bekanntlich auch die Polonaise mit ihrer stolzen Feierlichkeit und die Mazuv (Mazurka) mit dem Kontraste männlicher Kraft und weiblicher Sanftheit erfunden, und das Volk dürfte fast gerade so stolz auf seine Mazurka, als auf Kopernikus sein. Die Mazurka ist in Polen nicht der Tanz, den wir so benennen, sondern ein langdauernder, sowohl schwieriger als leidenschaftlicher Nationaltanz, worin Herren und Damen, obgleich sie Hand in Hand tanzen, im gleichen Takte beständig verschiedene Schritte ausführen. Es ist eine wirkliche Sorge für die Polen, dass die konsequente russische Regierung verboten hat, diesen Tanz in Nationaltracht zu tanzen, und die vierte oder fünfte Frage, die man dem Fremden in Warschau stellt, ist: „Haben Sie unsern Nationaltanz gesehen?" In jedem andern Lande würde sie höchstens die dreißigste oder vierzigste sein.

Man tanzt die Karnevalszeit hindurch, wie kaum an einem zweiten Orte. Nirgends werden wahrscheinlich so viele Wohltätigkeitsbälle veranstaltet. Man tanzt für alles, für „die armen Näherinnen", für „die armen Studenten" u. s. w. Ich leugne nicht, dass ich manches Mal, wenn ich stand und den Tanzenden zusah — zuweilen war ich in derselben Nacht zu zwei Bällen nacheinander eingeladen — mich des alten, harten Sprichwortes erinnern musste: Slavus saltans! Aber wie ein junges Mädchen anlässlich eines moralisierenden Artikels in Prawda sagte: „Was würde es nützen, wenn man in Warschau das Tanzen sein ließe!“

Doch die Lustigkeit, worin man wirbelt, ist nicht die der gewöhnlichen Lebensfreude; sie erinnert eher an die von den Gefangenen zur Revolutionszeit entfaltete Lustigkeit in der Ungewissheit dessen, was der nächste Tag bringen würde. Dieser Leichtsinn ist nicht gewöhnlicher Leichtsinn, sondern man findet ihn oft bei denen, die täglich Leiden und Tod trotzen.

Darum ist man auch zu Zeiten ernster, als in andern Ländern bei ähnlichen Gelegenheiten. Bei einer in aller Stille abgehaltenen Festlichkeit, welche Vertreter der Literatur und Kunst mir gaben, und wo eine Reihe von Reden auf französisch und lateinisch, der alten Festsprache der Polen, gehalten wurden, geschah es, als ein Redner einige Worte sagte, die besonders die Versammlung bewegten, dass mit einem Male Tränen in aller Augen standen, und dass alte Männer, die einen ganzen Abschnitt ihres Lebens in Sibirien zugebracht und hunderte Male dem Tod ins Auge gesehen hatten, aufsprangen, und während die Tränen über ihre Wangen rollten, dem Redner um den Hals fielen. Es scheint demnach, als ob die Fremdherrschaft in gleichem Grade die Empfänglichkeit für gesellschaftliche Zerstreuung und die Empfänglichkeit für ernste Gemütsbewegung vermehrt hat. Die Fähigkeit, Genuss und Schmerz zu fühlen, der Hang zum Lachen und Weinen scheint wie bei einem Kranken potenziert zu sein.

Außerdem: Gerade so leidenschaftlich wie die Polen ein Volk des Augenblickes sind, ebenso völlig sind sie ein Volk der Erinnerungen. Nirgendwo findet man eine solche Religion der Erinnerungen, ein solches Festhalten nationaler Andenken. Man klammert sich an alles, was das vergangene Polen wieder hervorrufen kann. Zwar sind alle Kunstwerke der Stadt und alle Schätze des Volks nach Petersburg geschleppt worden; selbst die große Zaluskische Bibliothek von 300.000 Bänden hat man der Stadt geraubt; aber desto zäher hält die Bevölkerung an den nationalen Erinnerungen fest. Sie wird in ihrem Streben auf das kräftigste dadurch unterstützt, dass die ganze polnische Poesie und Geschichtsschreibung ebenso wie die polnische Malerei in diesem Jahrhundert in den Dienst der nationalen Idee getreten ist. Die Maler, wie Matejko und Brandt — beide ausgezeichnete Koloristen, die jedoch schwierig eine einfache und leicht überschauliche Komposition erreichen — greifen fast immer zu nationalhistorischen Stoffen; die Dichter haben Polen und das Schicksal Polens behandelt, selbst wenn sie wie Krasinski in Irydion die Handlung in dem alten Born spielen lassen oder wie Slowacki in Anheli die Scene nach einem phantastischen Sibirien versetzen.

Die Poesie hat in dem polnischen Heim die gleiche Bedeutung wie eine Religion. Die besten Werke zu lesen war oder ist streng verboten. Sowohl der Erwerb als der Besitz waren mit Gefahr verbunden. Gewöhnlich wurde das Buch, wenn es so aufmerksam gelesen war, dass man sich der Gedanken erinnerte selbst wenn man die Worte vergaß, sofort verbrannt — mit dem gleichen Schmerze, womit eine Frau, die nicht frei ist, einen Brief des Mannes, den sie liebt, verbrennt. Aber man hat in Polen nicht vergessen, dass der junge Lévitoux in das Kastell in Warschau gesperrt, weil man ein Exemplar von Mickiewicz's Dziady bei ihm gefunden hatte, in seiner Verzweiflung über die ausgestandenen Torturen, und in seiner Angst, dass er im Fieberwahnsinn die Namen seiner Kameraden nennen könne, mit seinen gefesselten Händen die Nachtlampe unter sein Rohrbett zog und sich lebend verbrannte; man hat auch nicht vergessen, dass mehrere hundert Studenten nach Sibirien geschickt wurden, weil sie Krasinskis Die Versuchung in Buchformat herausgegeben hatten, nachdem die Dichtung, vom Zensor nicht verstanden, im Feuilleton eines kleinen Blattes erschienen war.

In jedem Hause findet man heutigen Tags die nationalen Schriftsteller, und hat man auch, um in Sicherheit ein nationales Museum errichten zu können, dasselbe nach Rapperswyl in der Schweiz verlegen müssen, so findet man doch fast in jedem Warschauer Heim ein Album mit Abbildungen von Artkur Grottger's ergreifenden Gemälden in Krakau, die Leidensgeschichte Polens darstellend, eine (verbotene) Lithographie von desselben Malers „Zug der Ausgewiesenen nach Sibirien" und einige Bilder von der Verteidigung Warschaus 1831, die das letzte polnische Regiment darstellen, das sich mit Ordon’s Schanze in die Luft sprengte. Mit Zärtlichkeit und Rührung betrachten die Polen nicht nur die Physiognomien, sondern auch die veralteten, halbkomischen Uniformen mit den spitzen Schössen. Ist es doch die letzte polnische Soldatentracht.

Mit diesem durch die Unterdrückung bis zur Schlaflosigkeit wachsamen Nationalgefühl hängt zusammen, dass man einen scharfen Hass gegen jeden ausländischen Schriftsteller hegt, der gelegentlich oder systematisch die Polen herabgesetzt hat. Nicht das man Heine das bekannte Spottgedicht (Zwei Ritter) über die zwei wackeren Edelmänner Krapulinski und Waschlapski übel aufgenommen hat. Man hat sich über dessen Witz amüsiert und kennt es auswendig; man weiß auch recht wohl, wie warm er sich an vielen Stellen für Polen ausgesprochen hat. Aber man kennt gut Freitags Soll und Haben; man hat Gewicht auf eine hingeworfene Äußerung des jüngeren Dumas gelegt über die Polen von allerwärts, die am Kommuneaufstand teilnahmen, und man war im Februar in förmlichem Aufruhr über die von Eduard von Hartmann in einem Wochenschriftsartikel geäußerte Parole Ausrotten in Betreff der Polen in Preußen, eine Äußerung, die man in allzu hohem Grade ernst nahm. Die Polen sind überhaupt allzu aufmerksam darauf, was man in Europa über sie schreibt. Aber das Bekümmern dessen, was über einen gesagt wird, ist ja der gewöhnliche Begleiter der Ohnmacht.
Warschau 029 Die Sigismund-Säule am Schlossplatz

Warschau 029 Die Sigismund-Säule am Schlossplatz

Warschau 030 Sigismundus-Säule, Bronzestatue des Königs

Warschau 030 Sigismundus-Säule, Bronzestatue des Königs

Warschau 031 Portal des Kasimirschen Palais (abgebrochen)

Warschau 031 Portal des Kasimirschen Palais (abgebrochen)

Warschau 032 Johann III. Sobieski, Schloss Wilanów

Warschau 032 Johann III. Sobieski, Schloss Wilanów

Warschau 033 Maria Kasimiera, Schloss Wilanów

Warschau 033 Maria Kasimiera, Schloss Wilanów

Warschau 034 Sakramentinerrinnen-Kirche

Warschau 034 Sakramentinerrinnen-Kirche

Warschau 035 Kirche in Czerniaków

Warschau 035 Kirche in Czerniaków

Warschau 036 Kirche in Czerniaków, Inneres

Warschau 036 Kirche in Czerniaków, Inneres

Warschau 037 Kirche in Czerniaków, Inneres

Warschau 037 Kirche in Czerniaków, Inneres

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