Warschau. Die Physiognomie der Stadt, Sprachverhältnisse, Theaterverhältnisse, Russifizierung, Verbannungen

Warschau (Warszawa) ist eine Stadt von mehr als 400.000 Einwohnern. Sie liegt, wie bekannt, am Flusse Wisla, ein Fluss, so breit wie Aissund bei Sönderborg, über den in den letzten Jahren eine mächtige Steinbrücke von dem Platze, wo dass Schloss liegt, zu der durch die polnische Geschichte so tragisch berühmten Vorstadt Praga fuhrt. Ich weiß nicht, ob es auf der Erinnerung von Hauchs schönem Gesang vom "Weichselfluss beruhte, dass der Fluss in seinem Winterkleid, von grauem Treibeis angefüllt, sich so traurig ausnahm.

Der Umfang der Stadt ist groß, aber sie macht mit ihrer gesunkenen Herrlichkeit und mit den entsetzlichen Erinnerungen, die sie birgt, und auf die man jeden Augenblick stößt, einen wehmütigen Eindruck. Im vorigen Jahrhunderte war sie nächst Paris die glänzendste Stadt Europas; nun ist sie eine russische Provinzstadt. Ihr Wesen war damals üppige Pracht; nun ist sie eine vernachlässigte und zurückgesetzte Stadt, die jeden Tag mehr verfallt, und für deren Äußeres und Aufblühen seitens der Behörden nicht das geringste geschieht. Es schneidet ins Herz, ihre elend gepflasterten Straßen zu sehen oder die schrecklichen alten Sandsteinfiguren in dem sächsischen Garten, wenn man von einer üppigen Stadt wie Wien oder von einer mit reißender Hast aufblähenden Stadt wie Berlin kommt.


Denn während sonst die Hauptstädte der Länder in der Regel Gegenstand der besonderen Sorgfalt, fast der Zärtlichkeit der Regierenden sind, und während sonst die Städte jedenfalls schon aus reiner Eigenliebe für ihre Schönheit und Bequemlichkeit sorgen, um auf Landsleute und Fremde so viel Anziehung als möglich auszuüben, ist Warschau die Hauptstadt eines Landes, dessen Existenz die Regierung nicht anerkennt, und eine Stadt, deren Stolz die Regierung auf jede Weise brechen will. Man muss bedenken, dass Warschau keine Selbstregierung hat, keinen Gemeinderat, nichts Ähnliches. Russisch-Polen ist überhaupt ein Land, wo nie gewählt wird. Und wie dort weder Reichstag noch Landtag ist, so gibt es auch keine Gemeindeverwaltung.

Nur ein Teil der Stadteinnahmen fällt ihr selbst zu, der Rest geht nach Petersburg. Russisches Selbstgefühl diktiert alle Vorkehrungen und russische Habsucht fuhrt sie aus. Der Zustand der Wege um die Stadt ist nur für den begreiflich, der die russische Auffassung in Polen kennt, dass, wenn 80.000 Rubel zu einem Wege bewilligt werden, 40.000 in die Tasche der Beamten wandern. Man hat den Bewohnern der Stadt keine Illusion übrig gelassen. Schon an jenem 16. Oktober 1835, als Kaiser Nikolaj zum ersten Male Warschau nach dem großen Volksaufstande im Jahre 1830 — 1831 besuchte, sagte er gerade heraus zur Deputation, die ihn begrüßen kam, dass das Kastell, das er hatte errichten lassen, nicht zur Verteidigung für die Stadt, sondern gegen sie gebaut wäre; er drohte den Polen mit dem Unglück, das ihrer wartete, wenn sie nicht ihre „Träume von einer eigenen Nationalität, einem unabhängigen Polen und all diesen Chimären“, aufgäben, und er schloss mit den Worten: „Ich habe dieses Kastell errichten lassen, und ich erkläre euch; dass ich bei dem geringsten Aufstandsversuch die Stadt samt und sonders zusammenschießen lasse; ich werde sie dann abbrechen lassen, und seid gewiss, dass sie unter mir nicht wieder errichtet werden wird.“

Seit der unglücklichen Revolution von 1863 ist durchaus nichts für die Reinlichkeit und das Wohl der Stadt getan worden, obgleich die Stadt infolge mangelnder Wasserleitung und Kanalisation eine der ungesundesten in Europa ist; der Boden der Straßen ist so locker, dass das Pflaster in Höhen und Tälern auseinanderfällt; aber seit 1863 ist nichts zu dessen Ausbesserung geschehen; ja in all diesen Jahren ist mit Ausnahme des damals abgebrannten Rathauses nicht ein öffentliches Gebäude errichtet worden. Die ganze Zivil- und Militäradministration ist in konfiszierten, privaten und öffentlichen Gebäuden untergebracht.*)

*) Seither ist die Stadt kanalisiert worden.

Die Zeit verzehrt, was sie will, und niemand versucht dem Schaden abzuhelfen. Das in Warschau so populäre Kopernikus-Monument von Thorwaldsen ist mit Kot bedeckt, wird aber nicht gereinigt. Der Sockel verwittert darunter, aber niemand bessert ihn aus. Kopernikus ist eine der ältesten Bildsäulen der Stadt: Sie wurde den 11. Mai 1830 enthüllt, nachdem der ausgezeichnete politische Schriftsteller Stanislav Staszic (1755 — 1826), der erste große Fürsprecher der polnischen Demokratie, der sein ganzes Besitztum zu gemeinnützigen Zwecken weggab, einen Zuschuss von 70.000 polnischen Gulden der Nationalsubskription zur Errichtung des Denkmals gegeben hatte. Das Monument des Fürsten Joseph Poniatowsky, das Thorwaldsen während seines Aufenthaltes in "Warschau im September bis Oktober 1820 auszuführen übernommen hatte und das 1829 in der Stadt ankam, um in Bronze gegossen zu werden, wurde dagegen zwar am gleichen Tage wie Kopernikus enthüllt, aber entfernt sobald der Aufruhr von 1831 im Blut erstickt war. Es befindet sich jetzt als Ritter St. Georg umgetauft und unzugänglich, in dem Garten eines russischen Privatmannes, des Fürsten von Warschau, nicht weit von der Stadt.

Die einzigen gut erhaltenen öffentlichen Denkmäler sind das kolossale Monument für Paskiewicz, mitten in der Hauptstraße Krakauer Vorstadt (Krakowskie Przedmiescie), errichtet zum Danke, weil er „treu und flink, wie die Knute in des Henkers Hand" (Mickiewicz) im September 1831, als die letzten heldenmütigen Verteidiger sich selbst in die Luft gesprengt hatten, die Schanzen vor "Warschau eroberte und die Stadt einnahm — dann der große Eisenobelisk mit den zum ewigen Andenken angebrachten Namen der Polen, die 1831 ihre Landsmänner anzeigten und dafür als Verräter oder Spione erhängt oder erschossen wurden. Auf dem prachtvollen Granit-Piedestal ruhen vier Metalllöwen. Rund um den Fuß des Obelisken prangen abscheulich aussehende, heraldische Adler mit zwei Köpfen in übernatürlicher Größe. Die Inschrift auf russisch und polnisch über den Namen lautet: Die Polen, die für die Treue zu ihrem Kaiser gefallen sind. Dieser Obelisk dürfte in Warschau seinen Zweck verfehlen.

Der Verkehr auf den Straßen ist nicht gering; auf den Märkten herrscht das gleiche Leben wie überall, wo Kauf und Verkauf unter freiem Himmel stattfindet; aber es fällt dem Fremden auf, dass wo man die Bevölkerung in größerer Anzahl versammelt sieht, z. B. bei der Sonntagspromenade in den Hauptstraßen, sie nie das wohlzufriedene und wohlhabende Sonntagsaussehen wie in anderen großen Städten hat, sondern einen schwermütigen oder grübelnden Ausdruck zeigt. Nie wird man auf der Straße Zeuge einer lustigen Scene, nie wird ein scherzendes Wort gerufen.

Hingegen fehlt es der Physiognomie der Stadt nicht an Charakter. Die tscherkessischen Regimenter (d. h. in Wirklichkeit Kosaken und Armenier in der Tracht der Tscherkessen), nehmen sich mit ihren Pelzmützen, Säbeln an der Seite und Yatagans im Gürtel ganz morgenländisch-malerisch aus. Jeden Augenblick trifft man auch unter den weniger eigenartig polnisch bespannten Wagen, einen Wagen mit russischem Vorgespann, worin sich ein russischer Offizier befindet, der von einem Kutscher in der langen weiten Nationaltracht mit der blauen Schärpe um den Leib gefahren wird.

Mit am auffallendsten in äußerer Hinsicht wirkt auf den Straßen Warschaus, dass ohne Ausnahme alle Namen (selbst die der Straßen), alle Schilder, alle Plakate in zwei Sprachen oder in zweierlei Schriftzeichen abgefasst sind, zur linken Seite steht die Inschrift auf polnisch, zur rechten Seite auf russisch oder oben russisch und darunter polnisch. Das ist ein kleines Glied in dem Kampfe den die Regierung fährt, um der polnischen Nation die fremde Sprache aufzuzwingen. In der letzten Zeit hat die Regierung sogar begonnen, die russische Sprache in der römischkatholischen Kirche einführen zu wollen. Weil sich der Bischof von Wilna Hryniewiecki weigerte, einem Begierungsbefehl dieser Art Folge zu leisten, wurde er vor zwei Monaten nach Jaroslaw verbannt, und einige Wochen später sein Stellvertreter Harasimowicz nach Wologda.

Der einzige Ort, wo es erlaubt ist, die polnische Sprache öffentlich zu reden, ist die Bühne. Es ist noch nicht verboten polnische Theatervorstellungen zu geben, und dieser Umstand hat dem Theater ein begreifliches aber unglückliches Übergewicht in dem polnischen Geistesleben gegeben, das um so schlimmer und unnatürlicher ist, als die eigene dramatische Literatur des Landes ziemlich arm ist. Es wirkt niederschlagend, wenn man dieses ernst angelegte und hochbegabte Volk Theaterverhältnissen eine Wichtigkeit beilegen sieht, die sie bei einer Nation ohne ausgeprägte dramatische Anlage keineswegs verdienen. Wenn viele der besten literarischen Kräfte sich auf die Theaterkritik geworfen haben, beruht es indessen zugleich darauf, dass man unter
dieser Form, in der Beurteilung und Erörterung der in den Schauspielen behandelten Ideen, Vieles sagen und andeuten kann, was man ohne diesen Anlass oder diese Einkleidung unmöglich äußern könnte.

Das Theater in Warschau ist augenblicklich in Verfall Es wird von einem sehr unbeliebten Hofmann geleitet, der es auf militärische Art, ohne das geringste künstlerische Verständnis regiert. Es hat zwar einen bedeutenden komischen Schauspieler, aber sonst keine festen Kräfte allerersten Ranges und keine zeitgenössische Schule von Schauspieldichtern, die den zur Bühne gehenden Jüngern eigenartige nationale Aufgaben stellen könnten. Das Hauptrepertoir besteht aus französischen Schauspielen, und die Spielart entspricht im Wesentlichen der Französischen. In Helene Marcello besitzt jedoch das Theater in Warschau eine Darstellerin von Liebhaberinnenrollen, die, wenn auch manieriert, durch ihre Schönheit und die Glut ihrer Leidenschaft reizt; und bis vor wenigen Jahren hat es zwei vorzügliche Schauspielerinnen besessen, die auch auf jeder andern Bühne glänzen würden.

Die eine, Frau Popiel-Swienska, die ich in einer Wohltätigkeitsvorstellung in Paillerons Der Funke habe spielen sehen, war eine schelmische und zartsinnige Ingenue; eine kleine untersetzte Gestalt, jung in ihren Bewegungen, ein sanftes herzensgutes Gesicht, wo das Lächeln erstrahlte und wo die Schatten Grübchen waren. Als diese Dame vor einigen Jahren einen älteren Mann von hohem Stande heiratete, verlangte er (wie der Egoist in Mussets Bettina), dass sie von der Bühne zurücktreten solle, und sie fügte sich, obgleich das Warschauer Publikum noch beständig jede Gelegenheit ergreift, gegen diese Bestimmung zu protestieren. Als sie im Funken eine Replik hatte, die ungefähr so lautet: „Ich darf wieder Komödie spielen“, wurden nach vorangehender Verabredung zwischen den Zuschauern, hundert und hunderte von Bouquetten auf die Bühne geworfen, so dass die Vorstellung mehrere Minuten unterbrochen wurde.

Die zweite, weit größere Schauspielerin, die Polen erzeugt hat, die jedoch einen Weltruf genießt, deshalb in den letzteren Jahren meist in englischer Sprache in London und Nordamerika spielt, und nur sechs Wochen jedes Jahres im Warschauer Theater auftritt, wird meist nach dem Namen ihres ersten Mannes Frau Modrzejewska genannt. Die Polen sind mit Recht auf diese Frau stolz, sie ist eine der Größen des Volkes. Als man im Jahre 1879 Kraszewski zu seinem fünfzigjährigen Schriftstellerjubiläum eine nationale Huldigung bringen wollte, wurde Helene Modrzejewska gebeten nach Krakau zu kommen, und zu Ehren des fruchtbaren Dichters an dem Festspiele Teil zu nehmen. Ihr Äußeres hat wie ihre Kunst hohen Stil. Sie ist blendend schön, nun über 40 Jahre alt, aber die Gestalt ist stets gleich schlank und elegant ohne Magerkeit, und das Gesicht mit den regelmäßigen Zügen, den großen, dunkeln Augen, den reinen kräftigen Mundlinien, und dem Lächeln voll asiatischer Anmut wird nie seine Schönheit verlieren können. Ich sah sie in Dalila von Feuillet, in Sardous Odette und im Funken, und ich habe nie bessere Kunst gesehen, als wenn sie in Odette während des Besuches bei ihrer Tochter das Muttergefühl, das sie überwältigt, unterdrücken muss. Eine der besten Rollen von Frau Modrzejewska ist Nora im Puppenheim; ich hegte den lebhaften Wunsch sie darin zu sehen, und sie einen fast gerade so lebhaften sie vor einem Landsmann von Ibsen spielen zu können; aber wir hatten die Rechnung ohne die Willkürlichkeit des Theaterdirektors gemacht, der aus reiner Schikane im letzten Augenblicke seine Erlaubnis zurückzog.

Am liebsten spielt Frau Modrzejewska jedoch Shakespeare und ihr englisches Repertoire besteht fast ganz aus shakespeareschen Rollen. Sie verdankt ihrem jetzigen Manne, einem äußerst kunstverständigen Weltmann, Herrn Karol Chlapowski, dem Sinn für die englische Poesie wie überhaupt ihre höhere künstlerische Entwicklung. Es ist ganz natürlich, dass sie den Drang nach einem größeren Schauplatz für ihre Fähigkeiten fühlte, als die polnische Sprache ihr bieten konnte; aber die Gefahr liegt nah, dass sie in dem umherreisenden Virtuosenleben, das sie in den letzten Jahren geführt hat, gezwungen wird, ihre Kunst auf gröbere Effekte zu beschränken.

Während man auf der Bühne, wie gesagt, noch polnisch spricht, ist die polnische Sprache an der Universität unbedingt verboten. Alle Vorlesungen, gleichgültig ob von russisch oder polnisch geborenen Männern, müssen auf russisch gehalten werden. Nicht einmal die polnische Literaturgeschichte darf in der Landessprache vorgetragen werden. Ja selbst in den Korridoren der Universität ist den Studenten verboten polnisch miteinander zu reden.

Noch gefährlicher für die polnische Nationalität ist die gesetzliche Bestimmung, dass auch jeder Schulunterricht in russisch erteilt wird, selbst die wenigen polnischen Unterrichtsstunden werden in den Schulen russisch gegeben. Und das Verbot in den Pausen polnisch zu sprechen ist so streng, dass man kürzlich einem kleinen, zwölfjährigen Knaben vierundzwanzig Stunden Dunkelarrest gab, weil er beim Verlassen der Schule zu einem Kameraden auf polnisch diese Worte gesagt hatte: Lass ans zusammen gehen! Ja das Regiment, dem die Schulen mit Rücksicht auf das Unterdrücken der nationalen Eigentümlichkeit unterworfen sind, beschränkt sich nicht auf das sprachliche Gebiet. In einer Familie, wo ich zum Besuch aufgefordert wurde, war folgendes passiert. Der Sohn des Hauses, der einzige Sohn einer Witwe, ein Knabe von sechzehn Jahren, hatte eines Abends im Theater im Namen seiner Kameraden Helene Modrzejewska einen Kranz zugeworfen. Wenige Tage später ließ der Schuldirektor auf Befehl des Unterrichtsministeriums ihn rufen und erklärte ihm, dass er nicht nur die Schule zu verlassen habe, sondern dass ihm zukünftig der Zutritt zu jeder andern Schule verboten sei; dies war die Strafe, weil er sich einer polnischen Demonstration schuldig gemacht hatte. Der Knabe ging nach Hause und schoss sich eine Pistolenkugel durch den Kopf.

Man wundert sich vielleicht, dass Bestimmungen, die unter gewissen Umständen halbwüchsige Kinder zum Selbstmord treiben, aufrecht erhalten werden, oder dass so unschuldige Dinge, wie das Werfen eines Kranzes, verboten sind. Aber man muss bedenken, dass in Warschau in der Regel alles, was die Liebe zur Sprache verrät, verboten ist. Es ist z. B., so wunderlich es lautet, verboten dem niederen Volke Unterricht zu geben, wen nur russischer Unterricht erteilt werden darf, den der gemeine Mann nicht versteht. Die Unwissenheit ist groß; nur ein Fünftel der Bevölkerung kann lesen und schreiben. Selbst dem Fremden, der nur einige Wochen in Warschau bleibt, fallt dies auf; nie sieht man dort wie anderwärts einen Droschkenkutscher seine Zeitung lesen, ja die Kutscher kennen in der Regel nicht einmal die Zahlen; man nennt ihnen den Straßennamen, sagt, sobald man diese Straße erreicht hat, „Zur linken!" oder „Zur rechten!" und gibt ein Zeichen, wenn angehalten werden soll. Auf dem Lande muss die Unwissenheit über alles Geschriebene ganz außerordentlich sein. Nichts desto weniger erhielt kürzlich eine junge Dame, die auf ihrem Gute privat vier bis fünf Bauernkinder unterrichtete, einen Befehl von dem höchsten Obrigkeitsbeamten des Ortes, sofort damit aufzuhören, da er, der ihre Eltern gekannt hatte, sehr ungern der Anlass wäre, dass sie sehr weit weggeschickt würde, was unzweifelhaft eintreten müsse, wenn sie durch das Beharren ihrer Bestrebungen ihn zur Anmeldung zwinge.

So oft wohlhabende und vaterlandsliebende Leute um Erlaubnis ersucht haben, auf eigene Kosten polnische Dorfschulen zu errichten, wurden sie abschlägig beschieden, und als einzelne reiche Polen zuletzt in ihrer Verzweiflung über die niedere Zivilisationsstufe des Volkes es aufgaben und der Ansicht huldigend, dass russischer Unterricht immer besser als gar keiner sei, russische Schulen eröffneten, zeigte es sich, dass sich niemand einfand, und dass die Bauern die Unwissenheit der Unterweisung in einer fremden Sprache vorzogen.

Ab und zu spannt die Regierung den Bogen jedoch so straff, dass er bricht. Zum Beispiel als sie vor ungefähr zehn Jahren einen Ukas erließ, dass alle inländischen Briefe russische Aufschrift haben müssten. Als Folge sank die Anzahl der Briefe so stark, dass ein bedeutender Rückgang in den Posteinnahmen verspürt wurde, und man sich genötigt sah, jene Verordnung in Vergessenheit geraten zu lassen.

Den Regierungsbestrebungen, sprachlich zu russifizieren, entsprechen die Veranstaltungen, die darauf ausgehen, den Grundbesitz in russische Hände zu bringen. Als der letzte große Aufstand unterdrückt war, erließ man (10. Dezember 1865) einen Ukas, der den Polen alle Landerwerbung in den alten polnischen Provinzen Lithauen, Podolien, Wolhynien, Ukraine verbot, ja der es verbot, andern als direkten Erben (Kindern) Grundbesitz in diesen Ländern zu hinterlassen. Für das Gesetz gibt es jedoch seit der Empörung keine Polen; sie sind alle Russen, selbst das Königreich Polen wird offiziell nur das Weichselland genannt. Man glaubte daher, dass die Regierung unter den Polen die Anhänger der römisch-katholischen Konfession in dem alten Polen verstand, und dass ihr Verbot folglich nicht auf andere erstreckt werden könne. Aber auf die Anfrage, wer Pole sei, erhielt man die Antwort: Der Generalgouverneur entscheidet die Nationalität, eine Antwort, die keine Hoffnung übrig ließ. Kein Schlag konnte die polnische Nationalsache fühlbarer treffen, als dieser Ukas, denn kein Land liegt den Polen mehr am Herzen als Lithauen, das seit den Tagen Jagiellos und Jadwigas (seit 1386) mit Polen vereint war und das trotz der Verschiedenheit der Volkssprache von der polnischen sich bis auf die neueste Zeit als polnisches Land gefühlt hat. Viele der ersten Männer Polens, die von dort stammen, haben in die berühmten Worte von Mickiewicz eingestimmt:

Lithauen, wie die Gesundheit, bist du mein Vaterland!
Wer dich nie entbehrte, hat nie deinen Wert gekannt.

Natürlich umging man, wo man konnte, das Gesetz, bewohnte und bebaute als Pächter die Erde, die man nicht als Eigentümer besitzen durfte, ein Umstand, der dadurch erleichtert ward, dass die russischen großen Herren, die lithauischen Grundbesitz als Regierungsdotation erhalten hatten, sich bald so isoliert und unbehaglich in dem Lande fühlten, dass sie zufrieden waren ihr neues Eigentum loszuwerden, oder in jedem Falle den Aufenthalt und die Bebauung andern zu überlassen. Die Gefahr, dass die Russen allmählich den ganzen Grund und Boden in Lithauen aufkaufen würden, schien demnach abgewehrt. Aber jetzt hat vor wenigen Monaten am 27. Dezember 1884 ein neuer Ukas, der Warschau in die größte Aufregung versetzte, befohlen, dass kein Pole — und der Generalgouverneur entscheidet die Nationalität — in einem der in der früheren Verordnung genannten Landesteile, Boden verpachten noch verwalten noch administrieren dürfe und — was noch mehr gegen westeuropäische Begriffe streitet — dieser Ukas hat rückwirkende Kraft, so dass alle früheren Verpachtungs- oder Verwaltungsverträge hiermit ungültig erklärt werden. Bei derartigen Verordnungen kann man die Wirkungskraft nicht in Abrede stellen.

Und von ähnlicher Art sind verschiedene der Maßregeln, die in der letzten Zeit getroffen werden, wo man auf dem geistigen Gebiete einen Zweck verfolgt.

Außer der oben erwähnten unwirksamen Zensur, gibt es auch eine wirksame. Das Wochenblatt Prawda (Wahrheit), das fortschrittlichste Blatt in Polen, das Organ der Positivisten, hat 3.400 Zeilen. Es kam vor, dass man in einer einzigen Nummer 7.000 Zeilen Korrektur gestrichen hat, ehe das Blatt erschien. Die Zensur scheint zu launenhaft zu sein, um eine Vorausberechnung des Gestatteten zu ermöglichen. Der Redakteur, der bekannte Schriftsteller Aleksander Swientochowski, schreibt als gäbe es keine Zensur, und kann als [Redakteur seine Artikel nicht an ein anderes Blatt schicken.

Diese Aufsicht über alles Geschriebene sollte zum Wenigsten das Gute mit sich führen, dass die Schriftsteller der Strafe entgehen; denn da nichts gedruckt werden kann, das nicht durchgesehen und gestattet ist, scheint man sich als Verfasser unmöglich vergehen zu können. Gleichwohl trifft man junge Schriftsteller, die zu wiederholten Malen drei oder fünf Monate Festungsstrafe im Innern von Russland zu bestehen hatten; sie werden für ihre Absichten bestraft, für das, was man in ihren Korrekturen gestrichen hat, oder richtiger: sie wissen nicht genau, warum sie bestraft werden, da sie nicht von einem Gesetz, sondern von einer Polizeimaßregel getroffen werden.

Die Regierung bedarf nämlich keiner Gesetze, um ihre Ziele zu erreichen, denn sie hat zu ihrer Verfügung, was besser ist, den administrativen Weg, und der administrative Weg heißt in der Regel: Sibirien.

Ich habe das Wort genannt, das in der Warschauer Luft liegt, das Gespenst, das wie ein Alp die Stadt bedrückt, die Drohung, die an jedermanns Türe lauert, die Erinnerung, die man aus den Gesichtern vieler Männer und Frauen liest.

Die erste Dame, die ich am ersten Tage meines Warschauer Aufenthaltes zu Tische führte — eine schöne, feine Dame, mit einem Mona Lisa Lächeln und etwas Stolzem und Schmiegsamem in der Gestalt — hatte drei Jahre in den sibirischen Bergwerken zugebracht. Sie hatte während der Empörung einen Brief überbracht.

Den nächsten Abend waren in einem einzigen nicht sehr großen Saale mehr als 200 Jahre Sibirien versammelt. Darunter waren nicht wenige Männer, die den Zeitraum von 1863 — 1883 dort zugebracht hatten, falls man die Zeit mitrechnet die sie gebrauchten um zu Fuß dorthin zu kommen; dies erfordert, je nach der Lage des sibirischen Verbannungsortes, einen verschiedenen, aber immer einen sehr langen Zeitraum, und diese Fußwanderung ist eine der peinlichsten Abschnitte der Strafzeit. Von Kiew bis Tobolsk währt die Wanderung ein Jahr; nach den Nertschinskminen im Gouvernement Irkutsk mehr als zwei Jahre. In einer Gesellschaft bat mich eines Abends ein junger Mann ein wenig mit seinem Vater zu sprechen, der in einer Ecke saß. „Es ist“, sagte er, „der einbeinige ältere Mann, den Sie dahinten sehen." Er hatte den Fuß im Aufstande verloren, war verbannt worden, und hatte mit seinem Stelzfuße den ganzen Weg gehen müssen, der zwei Winter und einen Sommer währte.

Selbstverständlich sorgt man in Warschau nach besten Kräften für die Heimgekehrten, die immer ohne Vermögen sind, da die Konfiskation des beweglichen Eigentumes und des Grundbesitzes, stets eine Folge der Strafe war. Von den verschiedenen, noch lebenden Mitgliedern der Nationalregierung von 1863 betreibt eines einen Buchhandel, ein anderes hat eine private Anstellung u. s. w.

Nach dem Aufstand wurden im ganzen ungef?hr 50.000 Polen deportiert. Sie wurden entweder zu harter Arbeit in den Salzsiedereien und Bergwerken verurteilt, oder zu Zwangsarbeit in den Festungen oder (die größere Mehrzahl) bloß zur Internierung in irgend einem Dorf, von welchem es unmöglich ist zu entweichen, doch waren die erlaubten Beschäftigungen einer scharfen Einschränkung unterworfen. Wieder andere durften sich innerhalb vorgeschriebener Grenzen frei bewegen; doch auch ihnen waren gewisse Beschäftigungen, z. B. jede Erziehungswirksamkeit streng verboten. Sie wurden in Horden bis zu 300 Personen nach ihrem Bestimmungsort geführt, von Kosaken und Hirtenhunden bewacht, brachten die Nächte in großen Schuppen zu, wo Pritschen für die Frauen und Kinder aufgestellt waren, während die übrigen schliefen, wie sie konnten. Man nimmt an, dass noch ungefähr gegen 1.000 Polen in Sibirien sind, aber von sogenannten Wodworency, d. h. herumziehenden Bauern oder lithauischem Kleinadel, mehrere tausend.

Wenige Länder hätten geistig einen Aderlass überleben können, wie ihn Polen in den letzten zwanzig Jahren überstanden hat. Man bedenke nur, was für ein kleines Land wie Dänemark der zehnmal geringere Verlust von 5.000 oder der hundertmal geringere Verlust von 500 seiner hervorragendsten Söhne und Töchter durch vieljährige Deportation bedeuten würde!
Warschau 015 Piwna-Gasse, Altstadt

Warschau 015 Piwna-Gasse, Altstadt

Warschau 016 Bernhardiner-Platz und Krakauer Vorstadt. Kupferstich von Canaletto

Warschau 016 Bernhardiner-Platz und Krakauer Vorstadt. Kupferstich von Canaletto

Warschau 017 St. Johann-Kirche. Hochaltarbild von J. Palma d. J.

Warschau 017 St. Johann-Kirche. Hochaltarbild von J. Palma d. J.

Warschau 018 Wladyslaw IV. Kupferstich von J. Falck

Warschau 018 Wladyslaw IV. Kupferstich von J. Falck

Warschau 019 Portal eines Hauses Johannisgasse

Warschau 019 Portal eines Hauses Johannisgasse

Warschau 020 Barockportal eines Hauses am Altmarkt

Warschau 020 Barockportal eines Hauses am Altmarkt

Warschau 021 Renaissanceportal eines Hauses am Altmarkt

Warschau 021 Renaissanceportal eines Hauses am Altmarkt

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