Heimkehrer

Wenn der Abtransport bevorsteht, der Abtransport nach Deutschland, gibt es noch einmal eine Festversammlung. Eine Ansprache wird gehalten, Musik wird gemacht, es wird gesungen. Die Ankündigung geschieht in der ,,Roten Fahne“ , dem Wochenblatt des Deutschen Rates.

Der Vorsitzende bat mich, vor einem Heimkehrertransport zu sprechen. Ich sprach vor diesen Kameraden, die etwas von Deutschland hören wollten. Zuverlässiges, Lebenswichtiges. Die von Deutschland noch nicht viel wussten. Manche von ihnen, die seit beinahe 6 Jahren die Heimat nicht gesehen hatten, hatten noch das alte Deutschland im Kopfe und im Herzen. Andere hatten ein verwischtes Bild. Auch sie begriffen das jetzige Deutschland noch nicht. Ich erzählte ihnen von der deutschen Wirtschaft. Sie standen ruhig, Männer und Frauen, denn auch in Russland angetraute Frauen gingen mit nach Deutschland. Ein und eine halbe Stunde sprach ich, bis die Dämmerung dicker wurde. Aber sie standen ruhig, das jetzige Deutschland hineinschlingend, die neue Wissenschaft. Sie standen staunend, sie standen erschüttert. Es war nicht mehr das alte Deutschland, was sie nun sahen. Es war ein anderes Deutschland, ein schwieriges Deutschland, ein krampfendes Deutschland, ein bitter leidendes Deutschland. Ich musste ihnen die deutsche Wirtschaft zeigen, wie ich sie sehe und wie sie auch wohl ist. Es hatte keinen Sinn, diese heimattrunkenen Menschen zu belügen, ihnen Hellfarbigkeiten zu geben. Man musste ihnen das Land schildern, wie es ist. Es hat keinen Sinn, Unwahrheiten zu sagen. Niemals noch hat das Sinn gehabt. Sollte ich diese armen Menschen belügen?


Ich ging in den Versammlungsgarten am Deutschen Lazarett durch Gruppen. Durch Buntrockgruppen. Alle Waffengattungen der Friedenszeit waren zu sehen. Husarenschnüre, Ulanentaillenröcke, hellblaue Dragonertuche, dunkelblaue Infanteristentuche mit roten Kragen, mittelblaue Traintuche. Nur wenig Feldgrau. Es waren fast alles Soldaten, die man in den ersten Kriegsmonaten gefangen hatte. Gefangen hatte. Erst hier ging mir der Begriff auf. Man fängt Menschen, man setzt sie in Käfige, man umgattert sie, man bewacht und belauert sie, man behandelt sie wie eine Viehherde. Man hält Menschen gefangen. Solange es noch erlaubt ist, Menschen zu fangen, ist noch keine Freiheit in der Welt. Menschenfangen, das ist Menschenjagd, das ist Menschenpeitschen, das ist Menscheneinkerkern. Menschenunwürdig ist das alles. Es ist noch Mittelalter, es ist noch Altertum, es ist noch Urzeit, Neuzeit ist es nicht.

Ich sprach auf einer Moskauer Straße einen deutschen Soldaten, der aus Taschkent heimkehrte. Er erzählte mir von den furchtbaren Leibesqualen. Nicht von Ernährungsqualen, nicht von Hungerqualen. Aber es gibt andere Leibesqualen, es gibt Männerqualen, die furchtbarer sind als Hungerqualen.

Man hört hundert verschiedene Behandlungsurteile. Die einen waren zufriedene Siedler in Sibirien geworden, die anderen wurden von Gefängnis zu Gefängnis geschleppt, haben gehungert. Viele Tausende sind gestorben, an Seuchen gestorben, an Zehrung gestorben. Seit der Oktoberrevolution waren die Gefangenen keine Gefangenen mehr. Sie waren frei. Aber auch seit dieser Zeit war nicht immer alles, wie es sein sollte. Denn der Wille der Sowjetregierung reichte nicht bis in jedes Hirn. Noch immer gab es Lagerkalamitäten und Beschwerdeursachen. Aber seit dem Oktober 1917 waren die Gefangenen keine Gefangene mehr. Ich sprach keinen, der das nicht lobend erwähnte. Manche arbeiteten viel und verdienten viel. In Moskau haben deutsche Arbeiter, die früher Kriegsgefangene waren, ,,schönes Geld“ geschafft.

Wo ich Heimkehrer sprechen konnte, sprach ich sie. In Moskau auf der Straße, in den Bureaus des Deutschen Rates und auf der Rückfahrt noch, im Kriegsgefangenenlager zu Narwa.

Im Kriegsgefangenenlager zu Narwa, einem Gebäude von dicken Deutschordensmauern weit umgeben, sprach ich stundenlang mit Heimkehrern. Es waren alle Gattungen darunter: Gutmütige, Melancholische, Cholerische, Bescheidene, Überwichtige, alle Arten waren vertreten. Ich hatte den Eindruck: Russland ist weit, und da Russland weit ist, da Russland ein Riesenland ist mit vielen Lebensunterschieden, mit vielen Gemütsunterschieden, hat fast immer der eine etwas anderes erlebt als der andere. Einige trauerten um gestorbene Kameraden, andere erzählten fast unberührt von den Seuchenschrecken besonders von den Typhusschrecken. Sie schilderten mir Unkameradschaftlichkeiten, sie schimpften, sie brachten freundliche Erinnerungen vor. Sie sprachen mir von ihren Akklimatisierungen, von den Anpassungen an die Lebensgewohnheiten. Wie sie ihre Wohnhäuser selbst erbaut, wie sie Bauern, Kaufleute, Schieber geworden waren. Sie jammerten über Teuerung oder lobten die niedrigen Preise der Gegenden, in denen sie gelebt hatten.

Aber alle waren heimatsehnsüchtig, alle waren frohgedrängt nach der Heimat. Viele waren fast heimatungläubig geworden und meinten, das Schiff, das morgen sie von Narwa abholen sollte, sei ein Märchen. Erst wollten sie deutschen Boden unter sich haben, dann erst wollten sie glauben, daß sie in der Heimat seien. Mütter warteten, Frauen warteten, Kinder warteten.

Es war eine traurige Sache. Es war eine herzanpochende Sache. Es war peinlich, frisch aus Deutschland gekommen, vor diese armen Menschen zu treten. Graubärte darunter, Weißbärte. Helle Soldatenmützen auf Vaterlocken, Soldatenmützen auf Greisenlocken, auf kahlgewordenen Köpfen. Diese Nachzügler, diese von ,,diplomatischen Erwägungen“ oder sonstigen Dummheiten Zurückgehaltenen, die gar keine Menschen waren, weil sie nicht frei ziehen durften, dieser Rest des Weltkrieges war ein Jammer und eine Mahnung. Nicht noch einmal darf diese Biesterei sein, nicht noch einmal dürfen Grüntischheroen Menschen fangen oder Menschen in die Gefangenschaft hineinjagen, nicht noch einmal dürfen organisierte Menschenjagden veranstaltet werden. Diese Biesterei muss endlich aufhören. Dieser Klimbim, dieses Fahnengejuchze, dieses Geschmetter und diese Männerbrüste dürfen nicht mehr sein.

Drei Jahre, vier Jahre, fünf Jahre, sechs Jahre in einem Lande, in dem man nicht sein will. Jeder Mensch hat das Recht, zu leben, wo er leben mag, und die Ordnungssadisten sind eine unerhörte Anmaßung.

Man mag gegen Sowjetrussland sagen, was man will. Aber man muss zugestehen, man muss anerkennen: die Revolution hat vom ersten Tage an Gefangene nicht mehr gekannt, sondern nur noch freie Menschen. Die Freimenschlichkeit, die Fessellosigkeit wurde proklamiert. Ich weiß, was ihr dagegen sagen wollt. Ich weiß, daß auch das erst ein Anfang war. Aber die russische Revolution hat angefangen. Das ist ihr unsterbliches Verdienst.

Wie könnt ihr nur noch einen Tag Leute in euren Ländern halten, die nicht in euren Ländern bleiben wollen, die in ihre Heimat wollen? Wie könnt ihr nur noch einen Tag Leute in Läger zwängen? Vermögt ihr zu atmen, zu essen, zu trinken, während noch Menschen gefangen sind?

Wir wollen den freiziehenden Menschen, den Heimatsmenschen in aller Welt. Wohin er kommt, soll seine Heimat sein, und will er nach seinem Mutterort zurückkehren, so soll man ihn nicht eine Minute binden. Ihr habt kein Recht, Menschen zu binden. Nur Götter hätten ein Recht, Menschen zu binden. Aber Götter gibt es nicht.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Moskau 1920 - Tagebuchblätter