Rückfahrt

Am Nikolaibahnhof nahmen Beamte vom Kommissariat des Äußeren Abschied von den Mitgliedern der englischen Mission, Shaw und Turner. Ich glaube, sie überbrachten noch einen Abschiedsbrief Lenins. Es war, glaube ich, kein liebenswürdiger Brief. Es war ein eigenartiger Abschiedsbrief, ein leninischer Abschiedsbrief, mit einigen Derbheiten darin. Vielleicht haben die Engländer ihren Landsleuten von diesem Abschiedsbrief erzählt. Höflich war dieser Abschiedsbrief nicht. Aber Lenin meint, in Zeiten des wuchtigen Weltgeschehens dürfe man nicht höflich, sondern müsse wahrhaftig sein. Wahrhaftig sein, das heißt einfach so sein, wie man ist, einfach das sein, was man ist, einfach das sagen, was man denkt. Wahrhaftig sein heißt demnach nicht, Diplomat sein, sondern ganz das Gegenteil sein. Lenin ist nicht ohne Diplomatenkönnen, aber er ist doch kein Diplomat.

Wieder ging die Fahrt an den Waldversen vorüber, an den Grünkuppeln und Goldkuppeln, an tausend Eichendörffern, an Tannenwäldern, an Buchenwäldern, an Wiesen, den Wunderwiesen zwischen Moskau und Petrograd. Wieder tranken wir Milch, für 125 Rubel einen Viertelliter, wieder schliefen wir im Sowjetwagen. Im bequemen Staatswagen, mit Bett, mit Tisch und ohne Hetzeile. Wieder ging es 20 bis 25 Kilometer in der Stunde, bis Petrograd.


Dann aber kam ein anderes Tempo hinein. Denn wir wurden einem Eilgüterzuge angekuppelt. Ein Salonwagen wurde zugeschoben und wir saßen, sprachen und tranken Tee mit russischen Eisenbahnern. Einer von ihnen war Mitglied der Zentralexekutivkomitees der russischen Eisenbahnergewerkschaft. Er trug mir einen Gruß an die deutschen Genossen auf. Ich grüße hiermit die deutschen Eisenbahner von ihrem russischen Kollegen und Genossen.

In 7 Stunden waren wir in Jamburg. Hier ging ein Elend los, ein Passelend, ein Visumelend, ein Starrköpfigkeitselend, ein politisches Kleinlichkeitselend. Die Passsache klappte noch nicht und die Esten wollten uns nicht reinlassen ins Land. Der Jamburger Stadtsowjet tröstete uns mit einem Fettessen, und ein Eisenbahner setzte uns Kartoffelpuffer vor. Aber wir wollten nach Hause, wir stampften, wir waren waggonmüde. Seeluft wollte ich haben, an die Heimatarbeit wollte ich, raus wollte ich aus dem Osten.

Raus musste ich aus dem Osten, denn ich hatte mich überfressen. Nicht aus Fleischschüsseln, nicht aus Kaschaschüsseln, aber ich hatte mich kenntnisüberfressen. Meine Nerven waren völlig auf den Hund gearbeitet. Ich war materialüberschwanger, ich platzte fast, ich musste raus aus dem Osten. Ich musste von mir geben, gebären, Buchkinder kriegen, es war die höchste Zeit.

Wir kamen schließlich durch. Im Hafen von Reval lag wieder unser gutes Schiff. Ein anderer Kapitän, aber ein tüchtiger Kapitän. Kolba heißt der Kapitän, der Minendurchsegler, der Klippenumfahrer. Mamsch heißt der Obersteward. Mamsch heißt er, aber er ist nicht so. Er ist ein fanatischer Messerputzer, ein Balancierer auf allen Dünungen, ein Tellertragekünstler, ein großartiger Versorger. Mit Kolben und mit Mamsch sind wir über Helsingfors nach Stettin gefahren. Die Engländer fuhren über Stockholm. Sie hatten es eilig. Sie wollten schnell ihre Forderungen für Russland einem großen Arbeiterkongress unterbreiten, eine Resolution erwirken und die Regierung veranlassen, Farbe zu zeigen. Ich aber fuhr mit Kolben und Mamsch über Helsingfors nach Stettin. Vollgepfropft mit Russlandwissen, heimatgedrängt, schon in Geburtswehen, umschnüffelt in Helsingfors. Wieder mit einigen sonderbaren Schiffsgefährten und mit einigen Abenteurern, von denen ich später vielleicht erzählen werde.

Wir fuhren durch weiße Nächte. Durch die weißen Nächte der finnischen Schären. Kennt ihr die weißen Nächte der finnischen Schären?

Das sind gar keine Nächte, das sind Gazewunder, das ist ewiges Licht, Milchlicht ist es, ganz zartes Milchfensterlicht. Eine Möwe, eine einzige breitgeflügelte Möwe fliegt über dem Kielwasser des Schiffes. Immer stiller wird die Stille. Du weißt nicht mehr, wie das Schiff fährt, ob du zurückfährst oder weiterfährst. Es plätschert an den Schiffswänden, als ob das Schiff stünde. Ringsum, an den Straßen, über die Straße hinaus, dichtgelagert, weitverteilt, oft in Meeren, oft in Buchten, in Kanälen, in Seitenflüssen liegend, in Wasserverbindungen, in Stichabzweigungen, siehst du alle die Wunder aus Stein, Tannen, von einer urweltlichen Baukunst hingestellt. Mit schweigenden weißen Steinen, schweigenden Häusern und schweigenden Lotsenfahnen.

Dann aber schießt die Sonne auf aus den Schären. Sie geht nicht auf, sie schießt auf wie ein dicker glühender Finger. Sie ist ganz plötzlich da, mit einem Ruck. Sie überrascht dich, plötzlich ist das Kielwasser ein langer, zitternder Goldstreifen. Langsam steigt sie dann auf, dann erst geht sie auf, die rote Sonne aus den Schären.

Durch zwei weiße Schärennächte fuhr ich, durch Glücksnächte, durch urweltstille Nächte, durch zarte Milchnächte, durch warme Nordnächte. Zweimal sah ich die Sonne aufzucken aus den Schären, den dicken, glühenden Finger, das goldglitzernde Kielwasser. Zweimal sah ich um die Möwe, die breitgeflügelte Möwe, die schrägwiegende Möwe, die stolze Möwe, den zartmilchweißen Schleier der Schärennacht, rotbesäumt als die Sonne aufzuckte.

Dann erlebte ich in Stettin noch eine Denunziantenfrechheit, eine Spitzelunverschämtheit, und dann schrieb ich dieses Buch.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Moskau 1920 - Tagebuchblätter