Grenzen
Früher, vor dem Kriege, waren Grenzen auch Grenzen. Es gab früher auch Zollbeamte, Bestechungen, Polizeispitzel und dergleichen Annehmlichkeiten. Es waren nationalistische Abgrenzungen, kitzlige Bänder um Staaten. Aber es waren doch keine Misstrauigkeiten wie heute. Es war doch noch Freude an den Grenzen, ein nur schwach beäugtes Hinüber und Herüber. Es gab Touristenfreude an den Grenzen, lautes Händeschütteln, ungeschminkte Wiedersehensinnigkeit. Es war eine geölte Diffusion, die gewohnheitsmäßig glatt abging. Heute ist das anders.
Heute ist die Grenze viel mehr als früher Schmuggelanreiz, Korruptionskordon. Sie ist mauerhohes Misstrauen und ein provozierender nationalistischer Größenwahn. Besonders die Grenze des neuen Kleinstaates, die Umgürtung der sogenannten Völkerselbstbestimmung. Hier ist tatsächlich ein blühender Wahnsinn, eine Strammheit, die schon völlig von der Lebensnot erschüttert und unterwühlt ist.
Von Händereichen, würdigem Selbstbewusstsein, vom neuen Herkunftsstolz, den der Völkerbund proklamiert, merkst du nichts. Legt das Schiff am Kai von Helsingfors an, so erblickst du starrstehende Zollbeamte und auf englisch frisierte finnische Policemen mit dem Londoner Knüttel. Halb leblos ist der Hafen. Er sperrt sich ab. Entgegen tritt dir, willst du das Schiff verlassen, ein komisches Preußentum, das gar nicht zu dieser Pforte der Urwälder, Eisigkeiten und Wasserwelten passt. Ein komisches Preußentum mit neuen Briefmarken, Flaggen, ,,eigenen“ Farben auf allen Spitzen und an allen Gelegenheiten, aber beherrscht von fremder Valuta. Ein komisches Preußentum mit irrsinniger Angst vor Einschleppung politischer Seuchen, mit einer ergebenen Paragraphenstumpfheit, die nur durch Valuta gemildert werden kann.
Angst vor Einschleppung politischer Seuchen und Valuta beherrschen die finnische und estnische Grenze. Man stellt sich nicht zueinander, sondern gegeneinander. Ist die Kaufkraft der finnischen Mark stärker als die der estnischen Mark, so verfaulen estnische Kartoffeln im Hafen von Helsingfors, obwohl Finnland Kartoffelhunger hat. Denn man will nicht dulden, daß die estnische Kartoffel die Kaufkraft der finnischen Mark ausnützt. Lieber lässt man die estnischen Kartoffeln verfaulen. Das ist die Selbstbestimmung der Völker. Das Land hat nun eine von einem fremden Magen dirigierte Valuta, aber es kann seinen Kartoffelhunger nicht stillen. Weil die Selbstbestimmungsregierung mit der Valuta und nicht mit den Kartoffeln operiert.
So viele Schielaugen sah ich nie auf einen Gegenstand gerichtet, wie in Helsingfors finnische Agentenaugen auf unser gutes Schiff. Augen einer Ochrana. Unser gutes Schiff führte mich als Rückkehrenden wieder nach Helsingfors. Da sah ich noch mehr Ochranaaugen auf das Schiff und auf mich gerichtet. Ich war in Sowjetrussland gewesen, und wer in Sowjetrussland gewesen ist, ist für die finnische politische Polizei eine wandelnde Infektion.
An der estnischen Grenze, am Hafen von Reval, ist die Gebärde weniger stramm und die Valutasehnsucht unverhüllter. Der Schmuggel schleicht leichter ans Land als in Helsingfors, und die Angst vor der politischen Verseuchung wird eher vom Obolus gemildert.
Zunächst haben sich die auf sogenannter Selbstbestimmung gebauten Staaten Briefmarken und Flaggen zugelegt. Dann haben sie sich eine Beamtenschaft geschaffen, die nach und nach zum Heeresumfang anschwoll. Es sind das Pensionsorganisationen, neue großartige Gelegenheiten für stolze uniformierte Rentenempfänger. Die kleine Kartoffelrepublik Estland, ohne eigene Lebensfähigkeit, hat 25.000 Beamte und mindestens 20.000 Soldaten bei ungefähr 1 1/4 Million Einwohnern. Die fleißigen Bauern, ein etwas durchleuchteter Mongolenschlag, sollen 45.000 Menschen ernähren. Diese Menschen sind geschäftig, aber sie haben nichts zu tun. Als ich am 9. Juni 1920 von Reval abfuhr, waren fünf oder sechs Kabinenpassagiere an Bord, für deren Zollbestrahlung nicht weniger als 12 Beamte aufs Schiff kamen.
Revals Behördenapparat wurde von der deutschbaltischen Armee gegründet und von den Esten beibehalten oder ausgebaut. In jeder Straße findest du ein Amt oder mehrere Ämter. Sie verordnen, aber sie schaffen nichts. Reval ist eine Kolonie des englischen Sterlings. Die Pfundnote gibt den Ton an. Diese Demokratie ist fürchterlich und grotesk. Dieser neue Nationalismus frisst auf, betrügt und macht sich selbst was vor. Er erschießt Idealisten, schikaniert Bessere und gründet in Gemeinschaft mit der Sterlingnote Banken. Minister kommen und gehen in die Bankdirektorien, werden reich und abhängig, während das arbeitende Volk immer ärmer wird und sich nach wahrer Unabhängigkeit sehnt. Alles flüstert, schreit und schleicht nach fremder Valuta, während der schaffende Mann nicht mehr leben kann. Der Hafen ist still, die Industrie ist brüchig. Das Land drängt nach Osten, aber die Beamtenschaft zwinkert nach Westen. Unorganisch ist diese Gründung bis heute. Es ist eine Nabelschnurzerreißung.
Du findest in Reval, was Dein Herz begehrt: Schmalzkinos, herrliche Vorgerichtbüfetts, Äpfel für 3 Estmark das Stück, lauernde Mädchen, Kitschtheater, eine wahnsinnige Steuerpolitik, giftfarbene Briefmarken, westliche Trustprodukte. Anfang Juni 1920 galt die deutsche Mark (die deutsche Mark!) 5 Estmark. Auch ich beging eine Valutaspekulation und kaufte für einen Ramsch leuchtende Felle. Man wird eben vergiftet, ob man will oder nicht.
Reval ist sozusagen das Fenster nach Sowjetrussland. Aber die Beschauer sehen nichts, oder was sie sehen, sehen sie schief. Von hier gehen die Märchen in die Welt und richten Unheil an. Von hier aus seucht der Nachrichtenbetrug durch die westlichen Länder. Blickimpotente und Tendenzmacher sind hier und melden uns Bosheiten.
Viel Glück schon wäre aufgekommen, wenn nicht Verdummung von der Grenze aus die Erde überschwemmt hätte.
Armeen haben Stäbe, und Stäbe sind ungemein wichtige Institutionen. Grenzdivisionsstäbe insbesondere, mit Generälen an der Spitze, sind heute Weltglückbewacher. Weltglück, das ist sauber konservierte Demokratie. Man konserviert sie, man beschützt sie mit Stacheldrähten, Bajonetten, und paragraphisierten Puppen. Ich erlebte in Narwa ein Hackenzusammenschnucken wie einst im strammsten Preußen. Es gab dort pflaumige Adjutanten mit einer Verbeugungsgrazie, wie einst auf dem kaiserlichen Ball in Berlin. Mit einer Quadratkorrektheit, mit messerklappigen Bewegungen. Endlich sah ich wieder Leutnants, wie sie sein müssen. Leutnants auf Grenzposten, Weltglückbewahrer. Selbstverständlich bewahrten sie das Glück der Welt nicht. Das Unglück geht um sie herum, und stellt man Bajonette an seine Seite, so kneift es aus.
Unsere Lokomotive passierte die Absperrungsliste des estnischen Postens vor Jamburg, den Telephonschrecken am Stacheldraht hin und zurück. Einige Tage wurden wir von jener Glückbewahrungsangst am Zügel gehalten. Aber dann ging es weiter, hin und zurück. Es ging weiter, obwohl ich von einem bajonettstarrenden Soldaten ins deutsche Kriegsgefangenenlager an der stürzenden Narwa geschoben wurde und obwohl zwei bajonettstarrende Soldaten den offiziellen Sowjetwaggon bewachten. Sie starrten sogar gegen das Mitglied des englischen Parlaments Thomas Shaw, also gegen einen freundlichen Mann. Sie starrten gegen den alten Ben Turner, den englischen Textilgewerkschaftler, der so gemütvoll auf dem Coupesofa lag. Auch gegen diese beiden starrten sie. Wie starrten sie erst gegen mich.
Aber ich kam hin und zurück, völlig legal, von Wünschen, Blinzeleien, Misstrauen, Denunziationen und sonst noch einigen Gemeinheiten begleitet.
So lieblich ist eine Grenze gegen Osten. Ein Vergnügen ist diese Grenze. Doch seid getrost, ihr von euch und von anderen getriebenen Grenzüberschreiter: aus Helsingfors kommt euch Hartwurst und Schinken an Bord, daß die Zunge sich zerspeichelt, und in Narwa könnt ihr euch an demokratischen Schweinskoteletten den Magen verderben.
Heute ist die Grenze viel mehr als früher Schmuggelanreiz, Korruptionskordon. Sie ist mauerhohes Misstrauen und ein provozierender nationalistischer Größenwahn. Besonders die Grenze des neuen Kleinstaates, die Umgürtung der sogenannten Völkerselbstbestimmung. Hier ist tatsächlich ein blühender Wahnsinn, eine Strammheit, die schon völlig von der Lebensnot erschüttert und unterwühlt ist.
Von Händereichen, würdigem Selbstbewusstsein, vom neuen Herkunftsstolz, den der Völkerbund proklamiert, merkst du nichts. Legt das Schiff am Kai von Helsingfors an, so erblickst du starrstehende Zollbeamte und auf englisch frisierte finnische Policemen mit dem Londoner Knüttel. Halb leblos ist der Hafen. Er sperrt sich ab. Entgegen tritt dir, willst du das Schiff verlassen, ein komisches Preußentum, das gar nicht zu dieser Pforte der Urwälder, Eisigkeiten und Wasserwelten passt. Ein komisches Preußentum mit neuen Briefmarken, Flaggen, ,,eigenen“ Farben auf allen Spitzen und an allen Gelegenheiten, aber beherrscht von fremder Valuta. Ein komisches Preußentum mit irrsinniger Angst vor Einschleppung politischer Seuchen, mit einer ergebenen Paragraphenstumpfheit, die nur durch Valuta gemildert werden kann.
Angst vor Einschleppung politischer Seuchen und Valuta beherrschen die finnische und estnische Grenze. Man stellt sich nicht zueinander, sondern gegeneinander. Ist die Kaufkraft der finnischen Mark stärker als die der estnischen Mark, so verfaulen estnische Kartoffeln im Hafen von Helsingfors, obwohl Finnland Kartoffelhunger hat. Denn man will nicht dulden, daß die estnische Kartoffel die Kaufkraft der finnischen Mark ausnützt. Lieber lässt man die estnischen Kartoffeln verfaulen. Das ist die Selbstbestimmung der Völker. Das Land hat nun eine von einem fremden Magen dirigierte Valuta, aber es kann seinen Kartoffelhunger nicht stillen. Weil die Selbstbestimmungsregierung mit der Valuta und nicht mit den Kartoffeln operiert.
So viele Schielaugen sah ich nie auf einen Gegenstand gerichtet, wie in Helsingfors finnische Agentenaugen auf unser gutes Schiff. Augen einer Ochrana. Unser gutes Schiff führte mich als Rückkehrenden wieder nach Helsingfors. Da sah ich noch mehr Ochranaaugen auf das Schiff und auf mich gerichtet. Ich war in Sowjetrussland gewesen, und wer in Sowjetrussland gewesen ist, ist für die finnische politische Polizei eine wandelnde Infektion.
An der estnischen Grenze, am Hafen von Reval, ist die Gebärde weniger stramm und die Valutasehnsucht unverhüllter. Der Schmuggel schleicht leichter ans Land als in Helsingfors, und die Angst vor der politischen Verseuchung wird eher vom Obolus gemildert.
Zunächst haben sich die auf sogenannter Selbstbestimmung gebauten Staaten Briefmarken und Flaggen zugelegt. Dann haben sie sich eine Beamtenschaft geschaffen, die nach und nach zum Heeresumfang anschwoll. Es sind das Pensionsorganisationen, neue großartige Gelegenheiten für stolze uniformierte Rentenempfänger. Die kleine Kartoffelrepublik Estland, ohne eigene Lebensfähigkeit, hat 25.000 Beamte und mindestens 20.000 Soldaten bei ungefähr 1 1/4 Million Einwohnern. Die fleißigen Bauern, ein etwas durchleuchteter Mongolenschlag, sollen 45.000 Menschen ernähren. Diese Menschen sind geschäftig, aber sie haben nichts zu tun. Als ich am 9. Juni 1920 von Reval abfuhr, waren fünf oder sechs Kabinenpassagiere an Bord, für deren Zollbestrahlung nicht weniger als 12 Beamte aufs Schiff kamen.
Revals Behördenapparat wurde von der deutschbaltischen Armee gegründet und von den Esten beibehalten oder ausgebaut. In jeder Straße findest du ein Amt oder mehrere Ämter. Sie verordnen, aber sie schaffen nichts. Reval ist eine Kolonie des englischen Sterlings. Die Pfundnote gibt den Ton an. Diese Demokratie ist fürchterlich und grotesk. Dieser neue Nationalismus frisst auf, betrügt und macht sich selbst was vor. Er erschießt Idealisten, schikaniert Bessere und gründet in Gemeinschaft mit der Sterlingnote Banken. Minister kommen und gehen in die Bankdirektorien, werden reich und abhängig, während das arbeitende Volk immer ärmer wird und sich nach wahrer Unabhängigkeit sehnt. Alles flüstert, schreit und schleicht nach fremder Valuta, während der schaffende Mann nicht mehr leben kann. Der Hafen ist still, die Industrie ist brüchig. Das Land drängt nach Osten, aber die Beamtenschaft zwinkert nach Westen. Unorganisch ist diese Gründung bis heute. Es ist eine Nabelschnurzerreißung.
Du findest in Reval, was Dein Herz begehrt: Schmalzkinos, herrliche Vorgerichtbüfetts, Äpfel für 3 Estmark das Stück, lauernde Mädchen, Kitschtheater, eine wahnsinnige Steuerpolitik, giftfarbene Briefmarken, westliche Trustprodukte. Anfang Juni 1920 galt die deutsche Mark (die deutsche Mark!) 5 Estmark. Auch ich beging eine Valutaspekulation und kaufte für einen Ramsch leuchtende Felle. Man wird eben vergiftet, ob man will oder nicht.
Reval ist sozusagen das Fenster nach Sowjetrussland. Aber die Beschauer sehen nichts, oder was sie sehen, sehen sie schief. Von hier gehen die Märchen in die Welt und richten Unheil an. Von hier aus seucht der Nachrichtenbetrug durch die westlichen Länder. Blickimpotente und Tendenzmacher sind hier und melden uns Bosheiten.
Viel Glück schon wäre aufgekommen, wenn nicht Verdummung von der Grenze aus die Erde überschwemmt hätte.
Armeen haben Stäbe, und Stäbe sind ungemein wichtige Institutionen. Grenzdivisionsstäbe insbesondere, mit Generälen an der Spitze, sind heute Weltglückbewacher. Weltglück, das ist sauber konservierte Demokratie. Man konserviert sie, man beschützt sie mit Stacheldrähten, Bajonetten, und paragraphisierten Puppen. Ich erlebte in Narwa ein Hackenzusammenschnucken wie einst im strammsten Preußen. Es gab dort pflaumige Adjutanten mit einer Verbeugungsgrazie, wie einst auf dem kaiserlichen Ball in Berlin. Mit einer Quadratkorrektheit, mit messerklappigen Bewegungen. Endlich sah ich wieder Leutnants, wie sie sein müssen. Leutnants auf Grenzposten, Weltglückbewahrer. Selbstverständlich bewahrten sie das Glück der Welt nicht. Das Unglück geht um sie herum, und stellt man Bajonette an seine Seite, so kneift es aus.
Unsere Lokomotive passierte die Absperrungsliste des estnischen Postens vor Jamburg, den Telephonschrecken am Stacheldraht hin und zurück. Einige Tage wurden wir von jener Glückbewahrungsangst am Zügel gehalten. Aber dann ging es weiter, hin und zurück. Es ging weiter, obwohl ich von einem bajonettstarrenden Soldaten ins deutsche Kriegsgefangenenlager an der stürzenden Narwa geschoben wurde und obwohl zwei bajonettstarrende Soldaten den offiziellen Sowjetwaggon bewachten. Sie starrten sogar gegen das Mitglied des englischen Parlaments Thomas Shaw, also gegen einen freundlichen Mann. Sie starrten gegen den alten Ben Turner, den englischen Textilgewerkschaftler, der so gemütvoll auf dem Coupesofa lag. Auch gegen diese beiden starrten sie. Wie starrten sie erst gegen mich.
Aber ich kam hin und zurück, völlig legal, von Wünschen, Blinzeleien, Misstrauen, Denunziationen und sonst noch einigen Gemeinheiten begleitet.
So lieblich ist eine Grenze gegen Osten. Ein Vergnügen ist diese Grenze. Doch seid getrost, ihr von euch und von anderen getriebenen Grenzüberschreiter: aus Helsingfors kommt euch Hartwurst und Schinken an Bord, daß die Zunge sich zerspeichelt, und in Narwa könnt ihr euch an demokratischen Schweinskoteletten den Magen verderben.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Moskau 1920 - Tagebuchblätter