Eisenbahnfahrt nach Moskau

Tausend Leute fragten mich: Wie kommen wir nach Moskau? Heute kann ich ihnen sagen: Es ist nicht einfach, es ist keine Kleinigkeit. Gesiebt werdet ihr, siebenmal gesiebt und dann noch vertraut man euch nicht. Sowjetrussland hat Krieg, seit sechs Jahren Krieg, und man hat dort allerlei erlebt. Auch ich sah eine Internationale in Moskau, die gar nichts mit der Dritten Internationale gemein hatte, sondern ein höchst zweifelhaftes Gemansch war.

Die russischen Grenzen sind Bandwurmgrenzen. Aber wenn du mit allen Gesetzlichkeiten hinein willst, musst du geprüft und sauber befunden sein. Denn man hat in Sowjetrussland böse Erfahrungen gemacht. In Moskau gab und gibt es noch Menschen, die hanebüchen sind. Den Vordersteven mit Kriegsorden beschlagen, Vorurteilsaugen im Kopfe, Giftspritzer auf der Zunge, durchhecheln sie die Stadt. Andere sind glatter, sie hecheln schweigend. Sie denken gar nicht daran, unvoreingenommen zu sein, mit Objektivitätsblicken zu schauen. Sie kommen nach Moskau als Überlegene, als Olympier. Aber sie schaun nichts, obwohl sie vieles sehen. Ihre Augen sind getrübt und mit getrübten Augen schaut man nichts. Die Sowjetvertretung in Reval hat recht, wenn sie siebt. Der schnelle Draht von Reval nach Moskau schießt Prüfungsströme hin und her, und oft sitzt ein Klopfender Wochen oder Monate vor der Türe, ehe Tschitscherin sie öffnet. Ist sie aber geöffnet, so ist der Kömmling Gast der Sowjetregierung und fährt im Kurierwagen ungestört, schlafend, essend, durchs Fenster schauend, mit den Waggoninsassen plaudernd, nach Moskau. In einem russischen Waggon erster oder zweiter Klasse, mit russischen Eisenbahnbequemlichkeiten.


Zwanzig bis fünfundzwanzig Kilometer die Stunde erledigt die Lokomotive. Mehr nicht. Schnellzüge verkehren jetzt nicht in Sowjetrussland, und die Personenzuglokomotiven sind holzbefeuert, etwas ältlich, oft atemzögernd. Eile haben sie nicht. Sofort begreift man das schwere Transportproblem, von dessen Lösung die nächste Wirtschaftszukunft Russlands abhängt.

Der Schienenweg von Jamburg (Grenzstation) nach Moskau ist sauber, aber ausgeleiert. Das Oberbaumaterial ist nicht mehr gesund. Das ist selbstverständlich, und das ist die Hauptnot der russischen Wirtschaft. Die Adern sind verkalkt, sie müssen aufgefrischt werden. Wir beschlossen, von Deutschland aus alles zu tun, um sie aufzufrischen. Schon auf dem Wege nach Moskau beschlossen wir das.

Auch in Estland eilen die Züge nicht. Von Reval bis Narwa fährt man zwölf Stunden. Immer langsam voran, immer langsam voran. In Reval sah ich eine Museumslokomotive in voller Arbeit. Die Berliner Lokomotivfabrik Schwartzkopff hatte sie im Jahre 1871 geliefert. Sie trägt noch den gewölbten Schornsteinschleier und ist sozusagen von einer niedlichen Bauchigkeit. Es ist eine pustende, stöhnende, wichtigtuende Teckellokomotive. Einst gehörte sie wie die Kanonenboote, Handelsschiffe und alles andere Eigentum Estlands zu Russland. Heute bestimmt sie sich selbst, und sie tut das wie die estnische Beamtenschaft mit schneidendem Ton. Sie ist sozusagen eine Symbollokomotive. Aber sie ist schon verflucht alt. Auch die Selbstbestimmungsidee ist verflucht alt und rostig.

Eine Viertelstunde hinter Narwa (die große Textilmanufaktur lag still) passiert man die Stachelmauer.

Man kann sagen, der Friede lauert an der Grenze und der Krieg schläft noch immer nicht. Der estnische und der rote Posten stehen eine Spannweite, eine Rufweite voneinander. Papiereprüfen, Grüßen hier wie dort, wir sind in Sowjetrussland, in Jamburg.

Hier sind noch die Zeichen von Judenitsch. Die kleine Stadt war Granaten- und Kugelspucknapf. Wenig Leben, heftige Kampfspuren. Zersplitterte Fenster, die Grünkuppel der Kirche zerschmettert. Hinter dem jagenden Fluss ein fast völlig zerstörter Teil. Ich kenne das Bild aus Belgien und Frankreich 1914. Trübsal ist es, verkrusteter Mord, leerblickender Jammer. Als ich Jamburg auf der Rückfahrt passierte, wurde ich mit den Engländern vom Stadtsowjet zum Abendessen eingeladen. Wir aßen und sangen und man bat mich um eine Erinnerung. Ich schrieb schnell ein Albumblatt. Schlecht versifiziert, aber echt gefühlt:

Granaten waren in der Stadt,
Wo die Idee gewütet hat;
Die Fenster sind zerschmissen,
Das Leben scheint zerrissen;
Doch leise grünt schon die Idee
Durch Schutt und Jammer, Blut und Weh.


Bolschewistenarbeit in Jamburg: rote Wachen, in der Nacht verstärkt (ab 1 Uhr nachts kommt keiner ohne Losungswort durch, kommt nicht durch die weiße Nacht auf den Straßen Jamburgs). Viele Propagandaplakate, am Bahnhof und an Häusern. Rote Fahnen. Ein Klub für Mädchen und Knaben. Ein Zeitschriftenstand mit der illustrierten Monatsschrift der Dritten Internationale. Die Apotheke gibt Medikamente nur auf Rezept. Russland hat wenig Medikamente. Die Zuteilung muss scharf geregelt werden. Mein Magen war verkolkst. Ich ging in die Jamburger Apotheke und forderte Rettung. Aber ich bekam keine Rettung, weil ich kein Rezept hatte. Man begrüßte zwar das deutsche Delegationsmitglied sehr freundlich, aber man gab ihm keine Magenrettung. Es war recht so, denn ohne Ordnung kann nichts gedeihen (wie man in Deutschland sagt).

Ich vergaß die rote Fahne an der Grenze. Sie flattert, schon zum Rosa abgebleicht, zwischen Granattrichtern an einer dünnen Birkenstange. Sie flattert da seit dem Abschluß des Friedens mit Estland. Sie ist gar nicht wutrot, blutrot, drohrot, sie ist sanftrot, lammrot (wenn es so etwas gäbe). Aber in Jamburg ist die Fahnenfarbe knalliger. Aus dem Sowjethaus trotzt sie und auf dem Bahnhofsgebäude prunkt sie schon. Knalliger auch ist die Farbe auf den Sowjetplakaten. Man bereitet den I. Mai vor. Aus einem von Petrograd kommenden Zuge werden rote Draperien getragen, Meetingtuche zum Umbändern von Rednertribünen. Schon wird die Bedeutung des 1. Mai von den Mauern gerufen. Die Arbeitsbedeutung dieses Tages. Die Bedeutung dieses 1. Mai ist eine andere als in den kapitalistischen Ländern. In den kapitalistischen Ländern demonstriert das Proletariat den Sozialismus mit Arbeitsruhe, im sozialistischen Russland mit Arbeitsintensität. Man will den Systemunterschied unterstreichen.

An allen Bahnhöfen rote, bewaffnete Wachen. Oft Truppentransporte. Wenig Gütersendungen. Wieder das Transportproblem. Der Krieg lähmt die Adern. An allen Bahnhöfen Holzstöße. Oft Riesenmengen. Vorbereitung auf den Winter. Man hat von der Not der letzten Schneezeit gelernt. Die Lokomotivbeheizung, der notwendigste Fabrikbrand, der notwendigste Hausbrand müssen bereit sein.

Schon grünt (im April) die Wintersaat. Langgestreckte schmale Äcker, mir Erinnerungen. Wald, Wald, Wald. Kirchen, Kirchen, Kirchen. Zwiebelkuppeln, silberig wie Kinderglück, altgrün, blassrot, golden (hellgolden, duff golden, golden in allen Schattierungen). Es wird noch viel gebetet in Russland. Ich werde davon später erzählen. Millionen wallfahrten noch, Millionen knien noch, Millionen sind noch voll Inbrunst nach dem Himmel.

Wald, Wald, Wald. Dazwischen schmale, saubere Äcker. Aber sochà-bearbeitet. Die Sochà, der primitive Dornpflug, ist das Kardinalübel der russischen Landwirtschaft. Dieser Pflug wird von Gott geführt. Es gibt Strecken in Russland, die von bäuerlichen Liliengemütern bewohnt sind. Ihnen ist schon die Sochà eine Sünde gegen Gott. Denn Gott macht alles. Er schuf die Menschen, er gab ihnen Nahrung, weshalb pfuscht man ihm mit dem Pflug ins Handwerk? (Siehe Tolstoi.)

Wald, Wald, Wald. Ungeheure Ausbeutungsmöglichkeiten, schon hier, in diesem nicht sehr gesegneten Gebiet. Viele Villensiedelungen, auch Fabrikorte. Entzückende Datschen, filigrierte Häuschen, braune Holzidyllen unter dem knospenden, grünschleiernden Vorfrühlingstag. Einige Dörfer fast wie abgeflachte Schweizersiedelungen. Aber die Sochà muss weg, die Sochà muss weg.

45 Werst von Petersburg Gatschina. Potsdamähnlichkeiten. Ein Balkon am breitgelagerten Zarinmutterschloss mit roten Fahnen drapiert. Ein Rednerbalkon für den 1. Mai. Bis Gatschina kam Judenitsch. Petrograd war sofort ein Festungsgewimmel, ein einziger Ausfallsund Verteidigungswille des kampforganisierten Proletariats. Männer und Frauen nahmen das Gewehr. Petrograd starrte angreifend und abwehrend und war nur von einem kleinen konterrevolutionären Offiziertrupp herzbedroht. Auch Sowjetführer nahmen die Flinte. Masin fiel und andere. Frauen kämpften wie germanische Wagenburgbewacherinnen. Judenitsch musste abziehen. Heute schon ist Legende um diesen Kampf. Ich hörte verschiedene Schilderungen. Alle Schilderer waren stolz auf die Tat.

Petrograd! Wir landen auf dem baltischen Bahnhof. Strickregen. Der Waggon wird stundenlang geschoben, bis er auf dem Nikolaibahnhof steht. Wir schlafen im Wagen. Zwischen einem Panzerzug und einem etwas wildbemalten Propagandazug mit der Aufschrift: ,,Das Buch gehört dem Volke.“ Millionen Bücher werden so durch Sowjetrussland geführt und überall verteilt. Propagandaredner, Artisten aller Fächer fahren in plakatierten Eisenbahnzügen durchs Land und spielen, sprechen, tanzen, singen für den Kommunismus. Der bekannteste Propagandazug ist der Leninzug mit dem lächelnden Diplomatenkopf, mit dem geheimrätlichen Bauernkopf, mit dem gemütvollen revolutionären Feuerkopf Iljitschs (so nennt man ihn kosend) auf den Wänden.

Ich gehe mit dem Delegationshäuptling in die Stadt. Nach all den Tendenzschilderungen bin ich doch erschüttert. Keine Öde, kein Stillstehen, keine Brache. Lebendiges Leben. Gefüllte, nicht sehr überfüllte elektrische Wagen kreisen um den Nikolaibahnhof. Ich sehe die ersten sausenden Sowjetautomobile. Ein Tempo zum Haarsträuben. Militärtempo, Feldzugstempo, Munitionsheranschaffungstempo, Frontergänzungstempo.

Der erste Eindruck: eine Proletarierstadt. Der Arbeiter herrscht. Der Arbeiter beherrscht die Straße, das Leben der Stadt. Wir begehen den Newskiprospekt, die breite Geschäfts- und Glanzstraße des Kaiserreiches. Viele Läden holzvernagelt. Viele Läden noch auf und feilbietend. Aber es ist, man sieht es gleich, ein Ausverkauf des Überflüssigen. Galanteriewaren, Luxuspapiere, Photographien, Bilder, Parfüms usw. Eine kleine Flasche Parfüm 400 Sowjetrubel, eine kleine Talmilederaktentasche 500 Sowjetrubel. Später begriff ich das Geldproblem und wunderte mich nicht mehr.

Der Newskiprospekt gegen zwölf Uhr mittags sehr belebt. Keine Straßenstörungen. An den Ecken Zigaretten- und Kleinkuchenverkäufer, um die der Verkehr rücksichtsvoll biegt. Überall noch alte Firmenschilder gewesener Konditoreien, Tailleurs usw. Den Finanzkritiker interessieren besonders die Bankgebäude. Manche Kritik an der Petersburger Effektenspekulation habe ich in deutschen Handelsblättern verbrochen. Jetzt ist das Gebäude der Petersburger Internationalen Handelsbank, des Hauptfinanzierungskraken Russlands, leeräugig. Hinter den Scheiben ist nichts mehr. Die russischen Banken haben aufgehört, Banken zu sein. Es gibt nur noch ein Clearing in Moskau: die Staatsbank, die nur eine Notenverteilungszentrale ist, mit Verteilungsfilialen im Lande.

Vorbereitungen auf den 1. Mai. In Petrograd doppelt eifrig betrieben. Rot, rot, rot. Auf dem Prospekt Truppen, und hie und da Gruppen, von bewaffneten Frauen geführt. Auch Bürgerliche in der Menge. Trübe, Geschlagene, leicht Befußte, Eingefügte, sogar Fröhliche. Von Terror, Plünderungen, tendenzgemeldeten Leichen, Seuchenschleichen, Schnellsterben auf der Straße keine Spur. Die Straße ist glanzabgebaut, aber sauber. Holzzermürbt, aber sauber. Es wird gefegt, Droschken fahren. Automobile rasen, Menschen gehen ungestört. Man sang mir überall in Russland das Lob Sinowjews, des Rationierers, des Organisators von Petrograd. Ich sage, was ich sah. Nicht mehr, nicht weniger.

Man fährt von Petrograd nach Moskau 23 Stunden. Die Waggonklassen sind noch da, aber die Klassifizierung der Menschen nach dem Eisenbahnportemonnaie ist verschwunden. Für alle Abteile gilt derselbe Fahrpreis. Man soll nur auf Fahrtanweisung reisen (Rationierung, Transportproblem). Aber man reist nicht nur auf Fahrtanweisung. Viele reisen als blinde Passagiere. Man droht zwar mit Strafen, aber die Drohung schreckt nicht sehr. Der juristische Abschreckungstheoretiker, der Erziehungstheoretiker aus der Lisztschen Schule würde wenig Freude haben. Das Leben will leben, reisen, die Kommunikation funktioniert gegen alle Drohungen. Die Drohungen sind nicht so schlimm gemeint, wie sie tönen. Die russischen Dekrete sind oft Propagandadekrete und keine Gesetzesdekrete. Jedenfalls fahren die Menschen mit der Eisenbahn, hamstern, besuchen sich, kaufen an den Bahnhöfen Milch für 125 Rubel pro 1/4 Liter, holen heißes Teewasser, sind vergnügt, schwitzen, sind zersorgt, singen, schlafen, alles in der Eisenbahn. Denn der russische Eisenbahnwaggon ist ein fahrendes Haus. Mit allem drin, sogar W. C.

Es geht langsam, doch es geht.

Wenn ihr eichendorffdurchkühlt seid, wenn ihr Sehnsucht nach Waldesbogen habt, nach weißen Birkenstämmen zwischen Tannen, nach Wiesen zwischen Wäldern und nach Sommerhäuschen an braunen Wegen, fahrt von Petrograd nach Moskau. Das ist eine herrliche Fahrt, eine duftende Fahrt, eine Frühlingsfahrt. Es ist deutscher Waldvers in diesen Gebüschen, auf diesen Hügeln und Wegen. Es ist nicht viel zu sagen von dieser Fahrt. Städte sind da mit Zwiebelkuppelkirchen, Datschengruppen und immer wieder Wald, Wald, Wald. Kein Land der Welt hat so viel Wald wie Russland (ein Konzessions- und Außenhandelsproblem).

Moskau frisst sich nicht so brutal in die Umgebung hinein wie Petrograd. Petrograd hat kahlgefressene Industriestadtumgebung. Um Moskau grünt die Idylle.

Am 1. Mai, mittags, unter Glanzhimmel, am 1. Mai, dem Proletarierhochtag, dem Weltfesttag, dem roten Tag, landeten wir in Moskau.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Moskau 1920 - Tagebuchblätter