Das Schiff

Ein Schiff in Revolutionszeiten ist kein gewöhnliches Schiff. Es ist kein Friedensschiff, auf das man sich ohne Vorhersorgen begibt, auf dem man ohne besondere Beunruhigung den Tag lebt, Meer und Küsten genießt und die Hafenfreude erwartet.

Es ist nicht leicht, ein Schiff, insonderheit ein Schiff nach Osten, zu betreten. Es gibt da nämlich eine Passkontrolle und eine Zollkontrolle, und wenn man nicht aalgeschwind, tarnkappig, mit sämtlichen Revolutionswässern gewaschen ist, so kommt man nicht herum um die Kontrolle. Da sitzen Argusse, die nach Konterbande jeder Art schielen und Röntgenaugen haben. Vor diesen Argussen schon gibt es Siebereien, Fegefeuer. Beispielsweise Polizeiministerien, die den nach Moskau Gerichteten eifrig beschnüffeln und den Sichtvermerk nicht genehmigen, ehe ein Vaterlandsinteresse erwiesen zu sein scheint.


Nun ist man auf dem Schiff, d. h. man ist nicht etwa nur in Salzluft, nur von Teerdüften und Ölgerüchen umgeben. Auf jedem Schiff, das in Revolutionszeiten fährt, herrscht Pest. Spionagepest, Spitzelpest, ekle Beriechungspest. Dicke Dünste sind da, Modrigkeiten, verstohlene Hakenpfeilblicke, Schleichereien um das Gepäck, die Kabine. Die ganze Welt ist verpestet. Auf einem Schiffe, das in Revolutionszeiten fährt, ist konzentrierte Pest, verdicktes Misstrauen.

Und alle Schichtungen, alle Gesinnungs- und Vermögensstaffelungen, alle Klassifizierungen, Reichtümer, Flüchte, Gescheitheiten und Dummheiten, die die Revolution geschaffen, sind vorhanden. Neue Güter aus Valutaspekulationen, Emigrantenelend bei Hagelschauer und Eiskälte auf Deck, bleiche Aufopferung für ein großes Ziel und fettes Begießen abgestandener Geltungen.

Bald hatte ich das Revolutionsbabel gesichtet. Da war ein Tisch mit Abgespülten aus Sowjetrussland, die sich wieder anspülten, da sie von den Randländern Segen und Ruhe erwarteten. Ein früherer Zarenoberst: mit charakterlosem Tolstoibart, Eikopf und einem unerhörten Appetit auf Kognak. Er bewies eine jongleurhafte Arbitragekunst und warf die Devisenkurse umher wie ein Zirkusmann die Bälle. Ihm gegenüber ein Zarenleutnant, noch mit der ganzen Verbeugungsschnellkraft, der Ladestockigkeit und der Monokelhaftigkeit der alten Zeit. Neben beiden eine sealumwärmte Russin mit Brillantentropfgehängen an den Ohren und auf der Brust. Dann zwei Randstaatenschieber, Güterzwischenträger, Provisionisten üblen Kalibers.

Auf diesem Tisch wurden die Kognak- und Rotweinbatterien fortwährend gelichtet und völlig aufgerieben. Hier war baltische Wut gegen Sowjetrussland mit Schnapsbefeuerung und Valutatrost. Während draußen kleine Flüchtlingskinder froren, zerknitterte Juden und heimkehrende Kriegsgefangene sich nach ruhigem Zwischenhandel und nach der Mutter sehnten, wurde an diesem Tisch mit einem Elend geprunkt, das keines war. Der Jammer wurde in Kognak und Rotwein ersäuft und war dann Freude. Die Gesinnung wankte und wurde nur gestützt von der Hoffnung auf eine günstige Valutaentwicklung. Immer wird man in der Welt, an den Küsten der Zielbewusstheit und der beginnenden energischen Sauberkeiten solches Spülicht finden. Es war um Christus, es war um die große französische Revolution, es war um die amerikanische Sklavenbefreiung, es wird immer um alle beginnenden energischen Sauberkeiten sein.

Welches Glück, von diesem Gallert, von dieser schmutzigen Trunkenheit sich an die See und ferne Küsten zu wenden. Welches Glück, unter Gotland, unter Öland zu schaukeln. Welches doppelte Glück, zwölf Stunden oder mehr durch die finnischen Schärenstraßen zu fahren. Durch diesen unsagbaren Wundergarten mit glattsteinernen Spielzeugen, mit Vulkangaukeleien. Mit Liliputinseln, sauberen Rothäuschen, Leuchtfeuerchen, blütenweißen Signalsteinen darauf, liebliche Bootshäfen an den Fransen. Alle Gestaltungen siehst du: Kränze mit Wasser drinnen, Riesenschildkröten, lauernde Alligatoren. Im April noch schneebetupfte zierliche Archipele, ganz nahe Robinsonaden, und dazwischen ein Zickzack, in Plötzlichkeiten sich biegendes, überraschungseckiges, stilles, gottseliges, möwenüberflattertes Wasser. Bis Hangö dauert dieses Wunder. Bis der Riesenkerl, der Robbentyp, der finnische Lotse mit dem Seehundsschnurrbart vom Schiff klettert und nach einer der Inseln gerudert wird, die Hangö wie Kastelle umlagern.

Von hier an wieder wird es gefährlich, wie es gefährlich war vor dem Eintritt in das Schärenwunder. Denn hier sind Minenfronten, große Minenfelder noch, ganze explosive Seuchengebiete. Alle Augenblicke muss der erste Offizier peilen, damit wir nicht auf ein Biest laufen, das uns in die Luft spuckt. Oktober 1918 ging der Krieg zu Ende, und heute noch lauern diese Scheusale, ein blaues Wasserkissen über sich, eine schweflige Meuchelgesellschaft. Weshalb bringt man das Luderzeug nicht weg? Wer hat das Recht, diesen Tod noch auf der Lauer zu lassen? Hie und da reißt sich eine Sprengkapsel los und treibt schüttelnd durch die See. Eine kam bis auf zwanzig Meter an unser Schiff heran, ein speibereites, furchtbares, rostiges Eisenhaupt, das unser Kapitän anzuknallen versuchte, damit es sich unschädlich spie. Aber es gelang ihm nicht. Die Pest schüttelte weiter. Sie ist ungefährlich, wenn sie auf sonnbestrahltem Quecksilber schüttelt. Denn dann sieht man sie kilometerweit. Aber wenn sie im Sturmwetter, unter Nebeldeckung heranschüttelt, birst das Schiff.

Unser Kapitän war ein vorsichtiger Mann, Er fuhr sozusagen mit dem Zirkel durch die offizielle Minenkarte und ließ das Schiff im Nebel zu Anker. So kam der Dampfer mit trocken gebliebener Salzfracht und all seinen Schichtungen, Heterogenitäten, Opferbereitschaften, Gemeinheiten, Sehnsüchten, Valutahalunken, mit starken Schinken- und Wurstresten und mit sonstigen Lieblichkeiten nach Helsingfors. An Sveaborgs gegen Sowjetrussland gerichteter Bestückung vorbei, in das stille, inselunterbrochene, villen- und parkbelebte Becken, das die saubere, moderne, von elektrischen Wagen, Automobilen und ländlichen Zweiräderkarren durchsauste Stadt umrandet. Eine Stadt, die unerhörte Furchtbarkeiten sah, Schreckenstage von Ausrottungscharakter. Blutige Heroismen um die neue Zeit, auch in diesem Lande der Riesenwälder und der fast verlorenen Küsten. Eine Stadt, die ich nicht betreten durfte, die aber um den Hafen herum ohne Physiognomie ist. Weiter nichts als Kirchen, Menschenkarawansereien, Zollhallen, Banken und Läden. Sauber ist die Stadt. Weniger gesinnungssauber als straßensauber und hautsauber, denn in Finnland badet auch der letzte Bauer mindestens einmal in der Woche.

Die Fahrt von Helsingfors nach Reval ging durch blaubewegte See. An einem knallroten Leuchtschiff vorbei, um das noch Eis trieb und schneeweißer Wellenschaum. Wieder durch eine enge Straße zwischen Minenketten und ohne Seezeichen. Diese Luderwirtschaft muss endlich aufhören. Endlich muss die See wieder ihre Wegweiser haben und befreit werden von der Kapselpest. Gibt es denn keine Organisation, die diese Arbeit schnell erledigt? Es ist eine schwere Arbeit, eine lebensgefährliche Arbeit. Man schneidet mit weithinreichender Schere die Minenketten durch und sprengt dann die Biester in die Luft. Mancher ging schon drauf dabei, manches Hirn schon wurde erschüttert, aber manche Mine droht noch, deren Sprengung gemeldet wird. Denn auch hierbei wird gemogelt, wie bei allem in der Welt.

Herrlicher von See aus liegt keine Stadt als Reval. Mit Inseln davor, mit Promenaden am Strand, mit einem zierlichen Hafen, mit ragenden Kirchenspitzen, sehr weithin sichtbar, blau bespült. Herrlicher noch als das weiße Algier. Viel herrlicher ist das Bild dieser Stadt von See aus als das Leben dieser Stadt. Denn diese Stadt ist eine Groteske und ein Pfuhl. Diese Stadt hat wundervolle Mauergänge, Kuppeln, Spazierwege und Büfetts. Aber sie ist jetzt eine Groteske und ein Pfuhl.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Moskau 1920 - Tagebuchblätter