Kultur und Kunst der Renaissance in Italien. 2. Buch

Entwicklung des Individuums
Autor: Burckhardt, Jacob (1818-1897) Schweizer Kulturhistoriker, Professor für Kunstgeschichte, Erscheinungsjahr: 1900
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Renaissance, Kulturgeschichte, Kunstgeschichte, Italien, Baukunst, Malerei, Skulpturen, Sitten und Gebräuche, Religion, Reformation
Im Mittelalter lagen die beiden Seiten des Bewusstseins — nach der Welt hin und nach dem Innern des Menschen selbst — wie unter einem gemeinsamen Schleier träumend oder halbwach. Der Schleier war gewoben aus Glauben, Kindesbefangenheit und Wahn; durch ihn hindurchgesehen erschienen Welt und Geschichte wundersam gefärbt, der Mensch aber erkannte sich nur als Rasse, Volk, Partei, Korporation, Familie oder sonst in irgendeiner Form des Allgemeinen. In Italien zuerst verweht dieser Schleier in die Lüfte ; es erwacht eine objektive Betrachtung und Behandlung des Staates und der sämtlichen Dinge dieser Welt überhaupt; daneben aber erhebt sich mit voller Macht das Subjektive, der Mensch wird geistiges Individuum und erkennt sich als solches. So hatte sich einst erhoben der Grieche gegenüber den Barbaren, der individuelle Araber gegenüber den anderen Asiaten als Rassenmenschen. Es wird nicht schwer sein, nachzuweisen, dass die politischen Verhältnisse hieran den stärksten Anteil gehabt haben. [ Aus Kapitel I.]

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Das Korrektiv nicht nur des Ruhmes und der modernen Ruhmbegier, sondern des höher entwickelten Individualismus überhaupt, ist der moderne Spott und Hohn, womöglich in der siegreichen Form des Witzes. Wir erfahren aus dem Mittelalter, wie feindliche Heere, verfeindete Fürsten und Große einander mit symbolischem Hohn auf das Äußerste reizen, oder wie der unterlegene Teil mit höchster symbolischer Schmach beladen wird. Daneben beginnt in theologischen Streitigkeiten schon hier und da, unter dem Einfluss antiker Rhetorik und Epistolographie, der Witz eine Waffe zu werden und die provenzalische Poesie entwickelt eine eigene Gattung von Trotz- und Hohnliedern; auch den Minnesängern fehlt gelegentlich dieser Ton nicht, wie ihre politischen Gedichte zeigen. Aber ein selbständiges Element des Lebens konnte der Witz doch erst werden, als sein regelmäßiges Opfer, das ausgebildete Individuum mit persönlichen Ansprüchen, vorhanden war. Da beschränkt er sich auch bei weitem nicht mehr auf Wort und Schrift, sondern wird tatsächlich: er spielt Possen und verübt Streiche, die sogenannten burle und beffe, welche einen Hauptinhalt mehrerer Novellensammlungen ausmachen. [Aus Kapitel IV.]

Burckhardt, Jacob (1818-1897) Schweizer Kulturhistoriker, Professor für Kunstgeschichte

Burckhardt, Jacob (1818-1897) Schweizer Kulturhistoriker, Professor für Kunstgeschichte