Der italienische Staat und das Individuum: Der Mensch des Mittelalters — Das Erwachen der Persönlichkeit — Der Gewaltherrscher und seine Untertanen — Der Individualismus in den Republiken — Das Exil und der Kosmopolitismus

In der Beschaffenheit dieser Staaten, Republiken wie Tyrannien, liegt nun zwar nicht der einzige, aber der mächtigste Grund der frühzeitigen Ausbildung des Italieners zum modernen Menschen. Dass er der Erstgeborene unter den Söhnen des jetzigen Europas werden musste, hängt an diesem Punkte.

Im Mittelalter lagen die beiden Seiten des Bewusstseins — nach der Welt hin und nach dem Innern des Menschen selbst — wie unter einem gemeinsamen Schleier träumend oder halbwach. Der Schleier war gewoben aus Glauben, Kindesbefangenheit und Wahn; durch ihn hindurchgesehen erschienen Welt und Geschichte wundersam gefärbt, der Mensch aber erkannte sich nur als Rasse, Volk, Partei, Korporation, Familie oder sonst in irgendeiner Form des Allgemeinen. In Italien zuerst verweht dieser Schleier in die Lüfte ; es erwacht eine objektive Betrachtung und Behandlung des Staates und der sämtlichen Dinge dieser Welt überhaupt; daneben aber erhebt sich mit voller Macht das Subjektive, der Mensch wird geistiges Individuum und erkennt sich als solches. So hatte sich einst erhoben der Grieche gegenüber den Barbaren, der individuelle Araber gegenüber den anderen Asiaten als Rassenmenschen. Es wird nicht schwer sein, nachzuweisen, dass die politischen Verhältnisse hieran den stärksten Anteil gehabt haben. Schon in viel früheren Zeiten gibt sich stellenweise eine Entwicklung der auf sich selbst gestellten Persönlichkeit zu erkennen, wie sie gleichzeitig im Norden nicht so vorkommt oder sich nicht so enthüllt. Der Kreis kräftiger Frevler des X. Jahrhunderts, welchen Liudprand schildert, einige Zeitgenossen Gregors VII. (man lese Benzo von Alba), einige Gegner der ersten Hohenstaufen zeigen Physiognomien dieser Art. Mit Ausgang des XIII. Jahrhunderts aber beginnt Italien von Persönlichkeiten zu wimmeln; der Bann, welcher auf dem Individualismus gelegen, ist hier völlig gebrochen; schrankenlos spezialisieren sich tausend einzelne Gesichter. Dantes große Dichtung wäre in jedem anderen Lande schon deshalb unmöglich gewesen, weil das übrige Europa noch unter jenem Banne der Rasse lag; für Italien ist der hehre Dichter schon durch die Fülle des Individuellen der nationalste Herold seiner Zeit geworden. Doch die Darstellung des Menschenreichtums in Literatur und Kunst, die vielartig schildernde Charakteristik wird in besonderen Abschnitten zu besprechen sein; hier handelt es sich nur um die psychologische Tatsache selbst. Mit voller Ganzheit und Entschiedenheit tritt sie in die Geschichte ein; Italien weiß im XIV. Jahrhundert wenig von falscher Bescheidenheit und von Heuchelei überhaupt; kein Mensch scheut sich davor aufzufallen, anders zu sein und zu scheinen als die andern.


Zunächst entwickelt die Gewaltherrschaft, wie wir sahen, im höchsten Grade die Individualität des Tyrannen, des Kondottiere selbst, sodann diejenige des von ihm protegierten, aber auch rücksichtslos ausgenutzten Talentes, des Geheimschreibers, Beamten, Dichters, Gesellschafters. Der Geist dieser Leute lernt notgedrungen alle seine inneren Hilfsquellen kennen, die dauernden wie die des Augenblickes; auch ihr Lebensgenuss wird ein durch geistige Mittel erhöhter und konzentrierter, um einer vielleicht nur kurzen Zeit der Macht und des Einflusses einen größtmöglichen Wert zu verleihen.

Aber auch die Beherrschten gingen nicht völlig ohne einen derartigen Antrieb aus. Wir wollen diejenigen ganz außer Berechnung lassen, welche ihr Leben in geheimem Widerstreben, in Verschwörungen verzehrten, und bloß derer gedenken, die sich darein fügten, reine Privatleute zu bleiben, etwa wie die meisten Städtebewohner des byzantinischen Reiches und der mohammedanischen Staaten. Gewiss wurde es z. B. den Untertanen der Visconti oft schwer genug gemacht, die Würde des Hauses und der Person zu behaupten, und unzählige mögen durch die Knechtschaft am sittlichen Charakter Einbuße erlitten haben. Nicht so an dem, was man individuellen Charakter nennt, denn gerade innerhalb der allgemeinen politischen Machtlosigkeit gediehen wohl die verschiedenen Richtungen und Bestrebungen des Privatlebens um so stärker und vielseitiger. Reichtum und Bildung, soweit sie sich zeigen und wetteifern durften, in Verbindung mit einer noch immer großen munizipalen Freiheit und mit dem Dasein einer Kirche, die nicht, wie in Byzanz und in der islamitischen Welt, mit dem Staat identisch war — alle diese Elemente zusammen begünstigten ohne Zweifel das Aufkommen individueller Denkweisen und gerade die Abwesenheit des Parteikampfes fügte hier die nötige Muße hinzu. Der politisch indifferente Privatmensch mit seinen teils ernsten, teils dilettantischen Beschäftigungen möchte wohl in diesen Gewaltstaaten des XIV. Jahrhunderts zuerst vollkommen ausgebildet aufgetreten sein. Urkundliche Aussagen hierüber sind freilich nicht zu verlangen; die Novellisten, von welchen man Winke erwarten könnte, schildern zwar manchen bizarren Menschen, aber immer nur in einseitiger Absicht, und nur, soweit dergleichen die zu erzählende Geschichte berührt; auch spielt ihre Szene vorwiegend in republikanischen Städten.

In diesen letzteren waren die Dinge wieder auf andere Weise der Ausbildung des individuellen Charakters günstig. Je häufiger die Parteien in der Herrschaft abwechselten, um soviel stärker war der einzelne veranlasst, sich zusammenzunehmen bei Ausübung und Genuss der Herrschaft. So gewinnen zumal in der florentinischen Geschichte die Staatsmänner und Volksführer ein so kenntliches persönliches Dasein, wie sonst in der damaligen Welt kaum ausnahmsweise einer, kaum ein Jakob von Arteveldet.

Die Leute der unterlegenen Parteien aber kamen oft in eine ähnliche Stellung wie die Untertanen der Tyrannenstaaten, nur dass die bereits gekostete Freiheit oder Herrschaft, vielleicht auch die Hoffnung auf deren Wiedergewinn ihrem Idealismus einen höheren Schwung gab. Gerade unter diesen Männern der unfreiwilligen Muße findet sich z. B. ein Agnolo Pandolfini († 1446), dessen Schrift „Vom Hauswesen“ das erste Programm einer vollendet durchgebildeten Privatexistenz ist. Seine Abrechnung zwischen den Pflichten des Individuums und dem unsicheren und undankbaren öffentlichen Wesen ist in ihrer Art ein wahres Denkmal der Zeit zu nennen.

Vollends aber hat die Verbannung die Eigenschaft, dass sie den Menschen entweder aufreibt oder auf das Höchste ausbildet. „In all unseren volkreicheren Städten“, sagt Gioviano Pontano, „sehen wir eine Menge Leute, die freiwillig ihre Heimat verlassen haben; die Tugenden nimmt man ja überallhin mit.“ In der Tat waren es bei weitem nicht bloß förmlich Exilierte, sondern Tausende hatten die Vaterstadt ungeheißen verlassen, weil der politische oder ökonomische Zustand an sich unerträglich wurde. Die ausgewanderten Florentiner in Ferrara, die Lucchesen in Venedig usw. bildeten ganze Kolonien.

Der Kosmopolitismus, der sich in den geistvollsten Verbannten entwickelt, ist eine höchste Stufe des Individualismus. Dante findet, wie schon erwähnt wurde, eine neue Heimat in der Sprache und Bildung Italiens, geht aber doch auch darüber hinaus mit den Worten: „Meine Heimat ist die Welt überhaupt!“ — Und als man ihm die Rückkehr nach Florenz unter unwürdigen Bedingungen anbot, schrieb er zurück: „Kann ich nicht das Licht der Sonne und der Gestirne überall schauen? Nicht den edelsten Wahrheiten überall nachsinnen, ohne deshalb ruhmlos, ja schmachvoll vor dem Volk und der Stadt zu erscheinen? Nicht einmal mein Brot wird mir fehlen!“ Mit hohem Trotz legen dann auch die Künstler den Akzent auf ihre Freiheit vom Ortszwang. „Nur wer alles gelernt hat“, sagt Ghiberti, „ist draußen nirgends ein Fremdling; auch seines Vermögens beraubt, ohne Freunde, ist er doch der Bürger jeder Stadt und kann furchtlos die Wandlungen des Geschickes verachten.“ Ähnlich sagt ein geflüchteter Humanist: „Wo irgendein gelehrter Mann seinen Sitz aufschlägt, da ist gute Heimat.“
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Kultur und Kunst der Renaissance in Italien. 2. Buch