Die Vollendung der Persönlichkeit: Die Vielseitigen — Die Allseitigen — Leonbattista Alberti

Ein sehr geschärfter kulturgeschichtlicher Blick dürfte wohl imstande sein, im XV. Jahrhundert die Zunahme völlig ausgebildeter Menschen schrittweise zu verfolgen. Ob dieselben das harmonische Ausrunden ihres geistigen und äußeren Daseins als bewusstes, ausgesprochenes Ziel vor sich gehabt, ist schwer zu sagen; mehrere aber besaßen die Sache, soweit dies bei der Unvollkommenheit alles Irdischen möglich ist. Mag man auch z. B. verzichten auf eine Gesamtbilanz für Lorenzo magnifico, nach Glück, Begabung und Charakter, so beobachte man dafür eine Individualität wie die des Ariosto, hauptsächlich in seinen Satiren. Bis zu welchem Wohllaut sind da ausgeglichen der Stolz des Menschen und des Dichters, die Ironie gegen die eigenen Genüsse, der feinste Hohn und das tiefste Wohlwollen.

Wenn nun dieser Antrieb zur höchsten Ausbildung der Persönlichkeit zusammentraf mit einer wirklich mächtigen und dabei vielseitigen Natur, welche sich zugleich aller Elemente der damaligen Bildung bemeisterte, dann entstand der „allseitige Mensch“, l’uomo universale, welcher ausschließlich Italien angehört. Menschen von enzyklopädischem Wissen gab es durch das ganze Mittelalter in verschiedenen Ländern, weil dieses Wissen nahe beisammen war; ebenso kommen noch bis ins XII. Jahrhundert allseitige Künstler vor, weil die Probleme der Architektur relativ einfach und gleichartig waren und in Skulptur und Malerei die darzustellende Sache über die Form vorherrschte. In dem Italien der Renaissance dagegen treffen wir einzelne Künstler, welche in allen Gebieten zugleich lauter Neues und in seiner Art Vollendetes schaffen und dabei noch als Menschen den größten Eindruck machen. Andere sind allseitig, außerhalb der ausübenden Kunst, ebenfalls in einem ungeheuer weiten Kreise des Geistigen.


Dante, welcher schon bei Lebzeiten von den einen Poet, von den anderen Philosoph, von dritten Theologe genannt wurde, strömt in all seinen Schriften eine Fülle von zwingender persönlicher Macht aus, der sich der Leser unterworfen fühlt, auch abgesehen vom Gegenstande. Welche Willenskraft setzt schon die unerschütterlich gleichmäßige Ausarbeitung der Divina Commedia voraus. Sieht man aber auf den Inhalt, so ist in der ganzen äußeren und geistigen Welt kaum ein wichtiger Gegenstand, den er nicht ergründet hätte und über welchen seine Aussage — oft nur wenige Worte — nicht die gewichtigste Stimme aus jener Zeit wäre. Für die bildende Kunst ist er Urkunde — und wahrlich noch um wichtigerer Dinge willen als wegen seiner paar Zeilen über die damaligen Künstler; bald wurde er aber auch Quelle der Inspiration.

Das XV. Jahrhundert ist zunächst vorzüglich dasjenige der vielseitigen Menschen. Keine Biographie, welche nicht wesentliche, über den Dilettantismus hinausgehende Nebenbeschäftigungen des Betreffenden namhaft machte. Der florentinische Kaufmann und Staatsmann ist oft zugleich ein Gelehrter in beiden alten Sprachen; die berühmtesten Humanisten müssen ihm und seinen Söhnen des Aristoteles’ Politik und Ethik vortragen; auch die Töchter des Hauses erhalten eine hohe Bildung, wie denn überhaupt in diesen Sphären di& Anfänge der höheren Privaterziehung vorzüglich zu suchen sind. Der Humanist seinerseits wird zur größten Vielseitigkeit aufgefordert, indem sein philosophisches Wissen lange nicht bloß wie heute der objektiven Kenntnis des klassischen Weltalters, sondern einer täglichen Anwendung auf das wirkliche Leben dienen muss. Neben seinen plinianischen Studien z. B. sammelt er ein Museum von Naturalien; von der Geographie der Alten aus wird er moderner Kosmograph; nach dem Muster ihrer Geschichtsschreibung verfasst er Zeitgeschichten; als Übersetzer plautinischer Komödien wird er wohl auch der Regisseur bei den Aufführungen; alle irgend eindringlichen Formen der antiken Literatur bis auf den lucianischen Dialog bildet er so gut als möglich nach, und zu dem allen funktioniert er noch als Geheimschreiber und Diplomat, nicht immer zu seinem Heil.

Über diese Vielseitigen aber ragen einige wahrhaft Allseitige hoch empor. Ehe wir die damaligen Lebens- und Bildungsinteressen einzeln betrachten, mag hier, an der Schwelle des XV. Jahrhunderts, das Bild eines jener Gewaltmenschen seine Stelle einnehmen: Leon Battista Alberti. Seine Biographie — nur ein Fragment — spricht von ihm als Künstler nur wenig und erwähnt seine hohe Bedeutung in der Geschichte der Architektur gar nicht, es wird sich nun zeigen, was er auch ohne diesen speziellen Ruhm gewesen ist.

In allem was Lob bringt, war Leon Battista von Kindheit an der Erste. Von seinen allseitigen Leibesübungen und Turnkünsten wird Unglaubliches berichtet, wie er mit geschlossenen Füßen den Leuten über die Schultern hinwegsprang, wie er im Dom ein Geldstück emporwarf, bis man es oben an den fernen Gewölbe anklingen hörte, wie die wildesten Pferde unter ihm schauderten und zitterten — denn in drei Dingen wollte er den Menschen untadelhaft erscheinen: im Gehen, im Reiten und im Reden. Die Musik lernte er ohne Meister, und doch wurden seine Kompositionen von Leuten des Faches bewundert. Unter dem Drucke der Dürftigkeit studierte er beide Rechte, viele Jahre hindurch, bis zu schwerer Krankheit durch Erschöpfung; und als er im vierundzwanzigsten Jahre sein Wortgedächtnis geschwächt, seinen Sachensinn aber unversehrt fand, legte er sich auf Physik und Mathematik und lernte daneben alle Fertigkeiten der Welt, indem er Künstler, Gelehrte und Handwerker jeder Art bis auf die Schuster um ihre Geheimnisse und Erfahrungen befragte. Das Malen und Modellieren — namentlich äußerst kenntlicher Bildnisse, auch aus dem bloßen Gedächtnis — ging nebenein. Besondere Bewunderung erregte der geheimnisvolle Guckkasten, in welchem er bald die Gestirne und den nächtlichen Mondaufgang über Felsgebirgen erscheinen ließ, bald weite Landschaften mit Bergen und Meeresbuchten bis in duftige Fernen hinein, mit heranfahrenden Flotten, im Sonnenglanz wie im Wolkenschatten. Aber auch was andere schufen, erkannte er freudig an und hielt überhaupt jede menschliche Hervorbringung, die irgend dem Gesetze der Schönheit folgte, beinah für etwas Göttliches. Dazu kam eine schriftstellerische Tätigkeit zunächst über die Kunst selber, Marksteine und Hauptzeugnisse für die Renaissance der Form, zumal der Architektur. Dann lateinische Prosadichtungen, Novellen u. dgl., von welchen man einzelnes für antik gehalten hat, auch scherzhafte Tischreden, Elegien und Eklogen; ferner ein italienisches Werk „vom Hauswesen“ in vier Büchern, ja eine Leichenrede auf seinen Hund. Seine ernsten und seine witzigen Worte waren bedeutend genug, um gesammelt zu werden; Proben davon, viele Kolumnen lang, werden in der genannten Lebensschilderung mitgeteilt. Und alles, was er hatte und wusste, teilte er, wie wahrhaft reiche Naturen immer tun, ohne den geringsten Rückhalt mit, und schenkte seine größten Erfindungen umsonst weg. Endlich aber wird auch die tiefste Quelle seines Wesens namhaft gemacht; ein fast nervös zu nennendes, höchst sympathisches Mitleben an und in allen Dingen. Beim Anblick prächtiger Bäume und Erntefelder musste er weinen; schöne, würdevolle Greise verehrte er als eine „Wonne der Natur“ und konnte sie nicht genug betrachten; auch Tiere von vollkommener Bildung genossen sein Wohlwollen, weil sie von der Natur besonders begnadigt seien; mehr als einmal, wenn er krank war, hat ihn der Anblick einer schönen Gegend gesund gemacht. Kein Wunder, wenn die, welche ihn in so rätselhaft innigem Verkehr mit der Außenwelt kennen lernten, ihm auch die Gabe der Vorahnung zuschrieben. Eine blutige Krisis des Hauses Este, das Schicksal von Florenz und das der Päpste auf eine Reihe von Jahren hinaus soll er richtig geweissagt haben, wie ihm denn auch der Blick ins Innere des Menschen, die Physiognomik, jeden Moment zu Gebote stand. Es versteht sich von selbst, dass eine höchst intensive Willenskraft diese ganze Persönlichkeit durchdrang und zusammenhielt; wie die Größten der Renaissance sagte auch er: „Die Menschen können von sich aus alles, sobald sie wollen.“

Und zu Alberti verhielt sich Lionardo da Vinci, wie zum Anfänger der Vollender, wie zum Dilettanten der Meister. Wäre nur Vasaris Werk hier ebenfalls durch eine Schilderung ergänzt wie bei Leon Battista! Die Ungeheuern Umrisse von Lionardos Wesen wird man ewig nur von ferne ahnen können.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Kultur und Kunst der Renaissance in Italien. 2. Buch