In Sturmesfluten. - Eine Erzählung von den friesischen Küsten 1717

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 6. 1873
Autor: Thomas Justus, Erscheinungsjahr: 1873

Exemplar in der Bibliothek ansehen/leihen
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Sturmflut, Nordsee, Friesland, Friesen, Hochwasser, Deich, Südwestwind, Nordwestwind, Sturm, Riesenwogen, Küstenbewohner, Springflut, Blitz und Donner,
Gegen das Land der Friesen donnern die sturmgepeitschten Wogen der wilden, gewaltigen Nordsee.
Wer mag ihnen Einhalt tun? Vermögens diese Deiche, an denen Jahrhunderte hindurch geschanzt und gearbeitet ward, und die doch unzählige Male von den Fluten zerbrochen und zerwühlt wurden, als wären sie eitel Kinderspielwerk — vermögen sie dem Sturm und den Wellen zu trotzen? — Sie waren stark und hoch, diese Dämme und Bollwerke, aber wenn der Nordweststurm die Wogen aufwühlte und den weißen, salzigen Schaum über die Deichkappen hinüber bis weit ins Land hinein schleuderte, dann schlug manches Herz, das sonst keine Furcht kannte, in schnellen, bangen Schlägen und mancher bleiche Mund fragte: „Werden sie aushalten, unsere Deiche? Werden sie hoch und fest genug sein gegen die wilde See?“ . . .

*********************************************************
Ja, so mochte man auch bangend fragen, da der Christabend des Jahres 1717 anbrach, die Wolken am Himmel sich jagten in ungestümer Flucht und der Wind in den blätterlosen Kronen der hohen Eschen heulte, welche die schilfgedeckten Marschenhöfe umstanden. Auf hoher „Wurth“ — einem künstlich aufgeworfenen Erdhügel — lagen diese massiven Backsteingebäude breit hingelagert. Vom frühen Morgen an hatte es gestürmt und geregnet, dass man keinen Hund hätte zur Türe hinausjagen mögen; aber ärger und ärger war mit dem sinkenden Nachmittag das Unwetter geworden. Bald nach vier Uhr hatte man Licht anzünden müssen, da kein Auge in dem Dunkel die Gegenstände mehr unterscheiden konnte. An einem der größten, stattlichsten Bauernhöfe, deren etwa eine Viertelstunde „binnendeichs“ auf ziemlich weite Entfernung eine Anzahl zerstreut lag, hatte der Wind einen Fensterladen aus seinen Angeln gerissen, dass derselbe krachend herunterschmetterte. Die drinnen in der Stube fuhren welche hinter dem Ofen in dem großen Lehnstuhle zusammengekauert saß, hob den Kopf und blickte verwildert um sich: „Ist es schon da?“

„Was soll da sein?“ fragte mit fast heftiger Betonung ein starkknochiger Mann mit dunklem, buschigem Haupthaar, der, am Ende des langen, weißgescheuerten sitzend, eine vor ihm liegende, mit vielen Namen und Zahlen bedeckte Liste aufmerksam prüfte; doch gleich darauf, seinen Ton mildernd, setzte er hinzu: „Großmutter, Ihr seid zu ängstlich! Es ist nur ein Fensterladen heruntergestürzt, weiter nichts. Gerhard kann hinausgehen und ihn wieder befestigen. — Nimm aber einen ordentlich festen Strick mit hinaus,“ fügte er hinzu, da der Knecht, dieser Weisung nachkommend, sich erhob, „Du wirst das Ding gehörig festbinden müssen, damit es der Wind nicht ganz zertrümmert.“

Das zitternde Haupt der Großmutter sank wieder auf die Brust herab; es war, als murmle sie noch einige Worte, aber zu verstehen waren dieselben nicht mehr. „Sie meint das Wasser!“ flüsterte die jüngste Magd ihrer Nachbarin, der Großmagd, zu, mit welcher sie eben beschäftigt war, Rüben für den morgenden Tag zu schälen. „In der ganzen Woche ist sie unruhig gewesen, wie nie, und alle Stunden fragt sie, ob noch das Wasser nicht da sei? Etta sagt auch, dass sie Nachts immer aus dem Schlafe auffahre und dann in Einem fort wiederhole: Drei Etmaal! *) drei Etmaal im Wasser!“
*) Ein Etmaal = zwölf Stunden. In einigen Gegenden werden unter dieser Bezeichnung auch 24 Stunden verstanden.

Die Großmagd stieß ihre Gefährtin mit dem Ellenbogen an. „Lass den Herrn das nicht hören! Er kann's nicht leiden, wenn man so etwas spricht. Dass die See ins Land gekommen, sagt er, sei schon lange her, und jetzt habe es damit keine Not, denn mit den Deichen sei man Herr über sie geworden. — Großmutter ist eine Ostfriesische, Etta auch; die haben leicht etwas Besonderes und wollen Vorgesichte haben, wo ein Anderer nichts sieht.“ —

Während dem war Gerhard, der Knecht, wieder eingetreten und strich mit der Hand das Wasser von den Ärmeln seiner wollenen Jacke, dass die Tropfen am heißen Ofen verzischten. „Das kann schlimm werden!“ sagte er Halblaut, zu den Mägden gewendet, „wenn morgen Abend um diese Zeit das Haus noch grad’ so steht, wie jetzt, will ich's loben!“

Becka (Abkürzung von Rebekka), die Großmagd, deutete wieder verstohlen nach dem Hausherrn hinüber. Dieser aber erhob in demselben Augenblicke den Kopf — es blieb unentschieden, ob er des Knechtes Äußerung gehört oder nicht — und fragte kurz: „Wie sieht's draußen aus?“

„Der Wind spielt nach Nordwest herum!“ sagte der Knecht.

Eine augenblickliche Stille trat ein in dem Gemache. Etta, die ostfriesische Magd, die bis dahin, ohne aufzublicken, neben der Großmutter gesessen und emsig gesponnen hatte, hielt ihr Rad an. Am Tische hob der dreizehnjährige Knabe mit den feinen, kränklichen Zügen, der an der Seite seines Vaters beim Schein des Talglichtes in einem großen Buche gelesen, den Kopf. Die Augen des Kindes und der Magd begegneten sich und Beide nickten einverständnisvoll, als wollten sie sagen: Wir wussten's ja!

- Erste Fortsetzung -

Nordseeküste, 005 Boot zu Wasser

Nordseeküste, 005 Boot zu Wasser

Nordseeküste, 009 Eine Hallig bei Sturmflut_

Nordseeküste, 009 Eine Hallig bei Sturmflut_

Nordseeküste, 010 Eine Halligwerft nahe vor dem Einsturz (Langenetz)

Nordseeküste, 010 Eine Halligwerft nahe vor dem Einsturz (Langenetz)

Nordseeküste, 019 Friedhof für Heimatlose

Nordseeküste, 019 Friedhof für Heimatlose

Nordseeküste, 032 Auf der Hallig Oland

Nordseeküste, 032 Auf der Hallig Oland

Nordseeküste, 034 Hauser der Hallig Gröbe

Nordseeküste, 034 Hauser der Hallig Gröbe