Fünfte Fortsetzung
„Ein anderes Buch ward aufgetan, welches ist das Buch des Lebens.“ . . . Das war auch der Text der Predigt, die am letzten Sonntage des Jahres 1717 der alte Prediger des Kirchdorfes im Gotteshause hielt. Die Gemeinde hatte den Gesang angestimmt: „Wenn wir in höchsten Nöten sein,“ aber vor Weinen konnte sie ihn nicht zu Ende singen, und nur die Orgel führte die Melodie fort. Nach dem Gottesdienste aber fand auf dem Friedhofe die feierliche Einsegnung der Leichen statt, die in dem Kirchspiel sich gefunden hatten: es waren ihrer fünfundsechzig — meist nur in roh zusammengeschlagenen Kästen, denn die Zeit und die Hände reichten nicht — und fast ebenso viele von den Gemeindeangehörigen wurden noch vermisst. Da blieb kein Auge trocken, kein Haupt ungebeugt. Unter denen aber, die auf dem Gottesacker zur ewigen Ruhe bestattet wurden, war auch Anton Günther de Vries. Man hatte seine Leiche nicht gar weit von dem elterlichen Hause, das bald nach der Abfahrt seiner Bewohner zusammengestürzt war, an einer Hecke, deren Dornen die Kleider des Knaben festhielten, gefunden. Von Etta kam nie eine Spur wieder zum Vorschein. Lag sie auf dem Meeresgrunde gebettet oder war ihre Leiche an irgend einem entfernten Orte angetrieben und Dort mit so vielen anderen Namenlosen, welche die Wellen anspülten, in ein gemeinsames Grab gelegt worden? Man hat niemals Gewissheit darüber erlangen können . . .
Vom Frühjahr an erhob sich neben dem Grabe Anton Günthers ein zweiter grüner Hügel. Er deckte die greise Großmutter, die wenige Monate nach jener schreckensvollen Christnacht sanft entschlummert war. Die ganze Zeit über, seit dem Augenblick ihrer Rettung, war sie still und heiter gewesen; ob es ihr jeden Augenblick gegenwärtig, dass aus ihrer Umgebung die Beiden, die sie sonst am liebsten um sich hatte, fehlten, mochte zweifelhaft sein. Doch hatte sie nicht ein einziges Mal angstvoll nach Etta verlangt, dagegen oft ruhig und freundlich mit ihr und dem Enkel gesprochen, als ob sie Beide vor sich sehe.
„— — Jahre vergingen, ehe die zerstörten Deiche wieder hergestellt werden konnten und das Land sich einigermaßen von den furchtbaren Schäden jener Einen Nacht erholte. Jakob de Vries, dessen Haar in jenen furchtbaren „drei Etmaal“. plötzlich ergraut war, trug sie anfangs mit dem Gedanken, mit den Seinigen weiter landeinwärts zu ziehen. Allein er so wenig wie sein Weib vermochte sich von den kleinen Gräbern auf dem Kirchhofe zu trennen, und so erhob sich denn das neue Haus auf derselben, nur um vieles erhöhten „Wurth“, auf welcher das alte gestanden.
An dem Tage, an welchem die Familie dasselbe bezogen hatte, voran der dralle, blondköpfige Knabe, dessen junges Leben so wunderbar in jener Schreckensnacht erhalten geblieben, an dem nämlichen Tage betrat ein Wanderer von fremdartigem Aussehen und müdem Gesichtsausdruck die Schwelle des stattlichen Neubaus. Das langausgedehnte Vorhaus durchschritt er, ohne Jemandes ansichtig zu werden; als er aber die zu dem abgeteilten Wohnraum führende Glastür öffnete, hätte die Frau, welche auf dem Hausflur mit dem Einräumen von Schränken und Kasten beschäftigt war, vor Überraschung beinahe das Pack Linnenzeug, das sie eben in der Hand hielt, fallen lassen.
„Cornelius!“ rief sie freudig, „bist Du es wirklich und kommst Du, Dich einmal wieder in der alten Heimat umzusehen?“
Er reichte ihr stumm die Hand. „Ach, Cornelius!“ redete sie weiter, indem es feucht in ihren Augen schimmerte, „wie vielen Dank sind wir Dir schuldig! Ohne Deine Hilfe hätten wir nimmer daran denken können, das Haus wieder aufzubauen.“
„Lass das, Schwägerin!“ unterbrach er sie rasch. „Was ich euch gab, hat mich nicht arm gemacht. Aber erzähle mir, ich bitte Dich, noch recht viel von Etta und von der Zeit, wo sie bei euch war! . . .“
Und sie erzählte ihm, während sie ihn in das Zimmer geleitete, von der treuen Magd, und wie ohne ihre Umsicht und Sorgfalt in jener Schreckensnacht Kälte und Hunger jedenfalls noch mehr Opfer würden gefordert haben. Er hörte das alles an und, indem er die Augen mit der Hand beschattete, dachte er an seine kühle holländische „Mevrouw“, die den ganzen Tag nichts tat, als das Treiben auf den „Grachten“ beobachten, und die um jede gefallene Stecknadel sich von den Mägden bedienen ließ . . . Warum auch nicht? Ihr vom Vater ererbter großer Reichtum erlaubte ihr ja überhaupt die Erfüllung jedweden Wunsches. Um ihren Reichtum hatte sie sich ja auch den stattlichen jungen Deutschen gekauft, der ihr nun billigerweise sein Leben lang für die Herablassung, mit der sie ihn so viel reicheren Freiern vorgezogen, dankbar sein musste! — —
Cornelius fragte nach dem Bruder. Die Frau bedauerte von Herzen, dass ihr Mann gerade vor einer Stunde einen Gang über Land angetreten habe, um Vieh zu kaufen, und dass er schwerlich vor dem morgenden Abend zurückkehren werde. „Du glaubst aber nicht,“ setzte sie hinzu, „wie viel anders er geworden ist, so gut und freundlich gegen mich und das Kind! Ihm ist jetzt alles recht, was ich tue, mir ist's manchmal etwas wunderlich, wenn er mich so vieles allein bestimmen lässt und alles gut heißt, was geschehen ist.“
Cornelius nickte still. Sein Herz war ihm wie zusammengeschnürt. Warum war denn nur ihm so gar keine Freiheit gestattet gewesen? War denn er der Einzige, an dem des Bruders Starrheit und Eigenmächtigkeit Unwiederbringliches verschuldet? —
Die Frau trug dem Schwager das Beste auf, was im Hause aufzutreiben war, aber zu ihrer Betrübnis waren es nur wenige Bissen, die er genoss. Nach dem Abendessen wanderte er noch einsam hinaus nach dem Deiche, und dort sah sie ihn lange, lange oben auf der Kappe desselben stehen, und auf die öde graue Wasserfläche hinausblicken, über welcher in dem Dämmer des Frühlingsabends kreischend die Möwen hin- und herschossen und pfeilschnell ihre Beute aus den Wellen holten.
Am andern Morgen in aller Frühe stand Cornelius schon wieder reisefertig vor der Schwägerin. Sie fragte betrübt, ob er denn nicht ihren Mann erwarten oder ob er nicht wenigstens bald wiederkehren werde? Er beantwortete nur die letztere Frage, indem er langsam den Kopf schüttelnd sagte: „Wohl nicht! Es ist besser so!“ — Als sie dann später das Kind, das er zum Abschied noch geküsst, aus dem Bettchen aufnehmen wollte, fand sie auf der Decke desselben ein schweres Päckchen; aber die Augen der Frau gingen über, da sie des einsamen Mannes gedachte, für den aller Reichtum so wertlos war.
Vom Frühjahr an erhob sich neben dem Grabe Anton Günthers ein zweiter grüner Hügel. Er deckte die greise Großmutter, die wenige Monate nach jener schreckensvollen Christnacht sanft entschlummert war. Die ganze Zeit über, seit dem Augenblick ihrer Rettung, war sie still und heiter gewesen; ob es ihr jeden Augenblick gegenwärtig, dass aus ihrer Umgebung die Beiden, die sie sonst am liebsten um sich hatte, fehlten, mochte zweifelhaft sein. Doch hatte sie nicht ein einziges Mal angstvoll nach Etta verlangt, dagegen oft ruhig und freundlich mit ihr und dem Enkel gesprochen, als ob sie Beide vor sich sehe.
„— — Jahre vergingen, ehe die zerstörten Deiche wieder hergestellt werden konnten und das Land sich einigermaßen von den furchtbaren Schäden jener Einen Nacht erholte. Jakob de Vries, dessen Haar in jenen furchtbaren „drei Etmaal“. plötzlich ergraut war, trug sie anfangs mit dem Gedanken, mit den Seinigen weiter landeinwärts zu ziehen. Allein er so wenig wie sein Weib vermochte sich von den kleinen Gräbern auf dem Kirchhofe zu trennen, und so erhob sich denn das neue Haus auf derselben, nur um vieles erhöhten „Wurth“, auf welcher das alte gestanden.
An dem Tage, an welchem die Familie dasselbe bezogen hatte, voran der dralle, blondköpfige Knabe, dessen junges Leben so wunderbar in jener Schreckensnacht erhalten geblieben, an dem nämlichen Tage betrat ein Wanderer von fremdartigem Aussehen und müdem Gesichtsausdruck die Schwelle des stattlichen Neubaus. Das langausgedehnte Vorhaus durchschritt er, ohne Jemandes ansichtig zu werden; als er aber die zu dem abgeteilten Wohnraum führende Glastür öffnete, hätte die Frau, welche auf dem Hausflur mit dem Einräumen von Schränken und Kasten beschäftigt war, vor Überraschung beinahe das Pack Linnenzeug, das sie eben in der Hand hielt, fallen lassen.
„Cornelius!“ rief sie freudig, „bist Du es wirklich und kommst Du, Dich einmal wieder in der alten Heimat umzusehen?“
Er reichte ihr stumm die Hand. „Ach, Cornelius!“ redete sie weiter, indem es feucht in ihren Augen schimmerte, „wie vielen Dank sind wir Dir schuldig! Ohne Deine Hilfe hätten wir nimmer daran denken können, das Haus wieder aufzubauen.“
„Lass das, Schwägerin!“ unterbrach er sie rasch. „Was ich euch gab, hat mich nicht arm gemacht. Aber erzähle mir, ich bitte Dich, noch recht viel von Etta und von der Zeit, wo sie bei euch war! . . .“
Und sie erzählte ihm, während sie ihn in das Zimmer geleitete, von der treuen Magd, und wie ohne ihre Umsicht und Sorgfalt in jener Schreckensnacht Kälte und Hunger jedenfalls noch mehr Opfer würden gefordert haben. Er hörte das alles an und, indem er die Augen mit der Hand beschattete, dachte er an seine kühle holländische „Mevrouw“, die den ganzen Tag nichts tat, als das Treiben auf den „Grachten“ beobachten, und die um jede gefallene Stecknadel sich von den Mägden bedienen ließ . . . Warum auch nicht? Ihr vom Vater ererbter großer Reichtum erlaubte ihr ja überhaupt die Erfüllung jedweden Wunsches. Um ihren Reichtum hatte sie sich ja auch den stattlichen jungen Deutschen gekauft, der ihr nun billigerweise sein Leben lang für die Herablassung, mit der sie ihn so viel reicheren Freiern vorgezogen, dankbar sein musste! — —
Cornelius fragte nach dem Bruder. Die Frau bedauerte von Herzen, dass ihr Mann gerade vor einer Stunde einen Gang über Land angetreten habe, um Vieh zu kaufen, und dass er schwerlich vor dem morgenden Abend zurückkehren werde. „Du glaubst aber nicht,“ setzte sie hinzu, „wie viel anders er geworden ist, so gut und freundlich gegen mich und das Kind! Ihm ist jetzt alles recht, was ich tue, mir ist's manchmal etwas wunderlich, wenn er mich so vieles allein bestimmen lässt und alles gut heißt, was geschehen ist.“
Cornelius nickte still. Sein Herz war ihm wie zusammengeschnürt. Warum war denn nur ihm so gar keine Freiheit gestattet gewesen? War denn er der Einzige, an dem des Bruders Starrheit und Eigenmächtigkeit Unwiederbringliches verschuldet? —
Die Frau trug dem Schwager das Beste auf, was im Hause aufzutreiben war, aber zu ihrer Betrübnis waren es nur wenige Bissen, die er genoss. Nach dem Abendessen wanderte er noch einsam hinaus nach dem Deiche, und dort sah sie ihn lange, lange oben auf der Kappe desselben stehen, und auf die öde graue Wasserfläche hinausblicken, über welcher in dem Dämmer des Frühlingsabends kreischend die Möwen hin- und herschossen und pfeilschnell ihre Beute aus den Wellen holten.
Am andern Morgen in aller Frühe stand Cornelius schon wieder reisefertig vor der Schwägerin. Sie fragte betrübt, ob er denn nicht ihren Mann erwarten oder ob er nicht wenigstens bald wiederkehren werde? Er beantwortete nur die letztere Frage, indem er langsam den Kopf schüttelnd sagte: „Wohl nicht! Es ist besser so!“ — Als sie dann später das Kind, das er zum Abschied noch geküsst, aus dem Bettchen aufnehmen wollte, fand sie auf der Decke desselben ein schweres Päckchen; aber die Augen der Frau gingen über, da sie des einsamen Mannes gedachte, für den aller Reichtum so wertlos war.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches In Sturmesfluten. - Eine Erzählung von den friesischen Küsten 1717