Dritte Fortsetzung

„In den Ställen ist alles in Ordnung, das Vieh besorgt und abgefüttert, und wenn ihr jetzt das Abendessen auftragen wollt — ich hab’ einen ganz gehörigen Hunger!“ Mit diesen Worten betrat nach einer guten halben Stunde der Hausherr wieder die „Dönse“, wie in jenen Gegenden das allen gemeinsame Wohngemach genannt wird. Allein so einladend auch nach Kurzem der Festschmaus, welcher allemal den gewichtigsten Teil der Weihnachtsfeier bildete, auf dem Tische dampfte, keiner als der Hausherr und der ziemlich stupid dreinschauende „Kleinknecht“ taten dem saftigen Rauchfleisch, der fetten Grütze die gebührende Ehre an. Auf allen Anderen lag es mit seltsam beklemmendem Druck.

Nachdem abgegessen war, stand Jakob de Vries auf. „Gute Nacht mit einander!“ sagte er kurz, und gegen die Frauenzimmer gewandt, fügte er hinzu: „Ich hoffe, ihr werdet morgen vernünftiger sein und euch nicht so von der Angst den Kopf verdrehen lassen.“


Beim Hinausgehen flüsterte Anton Günther noch Etta die Frage zu: „Wann kommt die Tie (Hochflut), Etta?“ Und sie gab, gleichfalls flüsternd, zurück: „Um sechs Uhr morgen Früh. Bitte Gott, dass er's gnädig macht!“

Die alte Großmutter, so seltsam erregt sie während des ganzen Abends gewesen, schlief, nachdem Etta sie entkleidet hatte, sanft und ruhig ein, ungestört durch die heulenden Windstöße, vor denen das Haus bis in seine Grundmauern bebte. Draußen im Stall ward das Vieh seltsam unruhig; die Kühe brüllten dumpf und klagend und unaufhörlich rasselten die Halfterketten der Pferde durch die eisernen Krampen. Etta hörte, wie nach etwa einer Stunde der Herr aufstand und noch einmal in den Stall ging, um nach den Tieren zu sehen. Etwas besonders Auffallendes musste er doch nicht gefunden haben, denn nach nicht langer Zeit kehrte er zurück, und allmählich verstummte dann auch der Lärm. Auf Ettas Augenlider senkte sich endlich nach stundenlangem Wachen der Schlaf, und es war, als hätte sie entschädigt werden sollen für den angstvollen Druck der legten Stunden, so leicht und frei fühlte sie sich auf einmal; vor ihr auf tauchte ein Gedicht mit traurigen, bittenden Augen, und sie küsste diese Augen und sprach: „Du kannst ja nichts dafür, Cornelius! Es ist nicht Deine Schuld, dass Du zu weich angelegt bist und er zu hart!“ — Da auf einmal erwachte sie wieder von einen heulenden Windstoß, und zugleich vernahm sie in ihrer nächsten Nähe ein seltsam gurgelndes, plätscherndes Geräusch. Angstvoll fuhr sie in die Höhe, angestrengt lauschend, was die nächste Minute bringen werde. Da durchkreischte plötzlich ein Ton das Haus, so unbeschreiblich grauenhaft, dass er das Blut in den Adern erstarren machte. Entsetzt sprang die Magd aus dem Bette, da — neues Entsetzen! ihr Fuß trat in eisigkaltes Wasser! Zugleich ward die Türe, welche aus den zur Wohnung abgeteilten Räumen in das Vorderhaus führte, krachend aufgerissen, und Mark und Bein durchschneidend erklang die Stimme des Großknechts: „Die Bulgen! die Bulgen!“ (Wogen.)

„Großmutter!“ rief Etta, die Greisin am Arm rüttelnd, „Großmutter, steht auf! das Wasser ist da!“

Die alte Frau tat einen tiefen Atemzug und da? — Etta, gib mir meinen Rock und die Strümpfe, Kind, ich kann in dieser Dunkelheit nichts finden.“ Etta tastete umher nach den Kleidungsstücken und hüllte mit zitternder Hand die alte Frau ein, so gut es gehen wollte. Auf dem Flur erhob sich des Hausherrn Stimme: „Hinauf auf den Boden! lasst alles zurück!“
Eine von den Mägden hatte so viel Besonnenheit, an den unter der Asche glimmenden Herdkohlen in aller Eile ein Licht zu entzünden. So ward doch dem verwirrten Durcheinanderrennen gesteuert. An Etta und der alten Großmutter vorüber stürzte halb nackt die Frau, den Säugling auf dem Arme, „Mutter! Etta! macht rasch! Das Wasser geht schon über die Knöchel! — Wo ist Anton Günther? Um Gotteswillen, wo ist er?”

„Hier!“ tief Jakob de Vries, der den Knaben auf seinen Armen trug. „Nur rasch die Leiter hinauf, oben sind wir sicher!“ Über die zitternden Knie der alten Großmutter konnten nicht so rasch die steile Leiter erklimmen, und während oben die Frau, unten der Hausherr in peinlicher Ungeduld harrten, bis die Greisin mit Hilfe Ettas an Ort und Stelle sein werde, spülte an den auf dem Flur Wartenden höher und höher das Wasser hinauf. Jetzt war auch Anton Günther glücklich oben, dann die beiden Mägde, während Jakob de Vries mit kräftiger Hand die Leiter umklammerte, damit sie nicht an ihrem unteren Ende vom Wasser gehoben und dann unfehlbar umgestürzt werde. Eben wollte er den Knechten zurufen, dass sie sich jetzt gleichfalls h?nauf flüchten sollten, als plötzlich zu seinem Erstaunen Etta an der Leiter wieder hinunterglitt. Hinter ihm ward zugleich das klägliche Miauen einer Katze hörbar — Ettas Lieblingstieres. Er stieß einen zornigen Ausruf aus, „Um das Vieh zu retten, kommst Du
wieder herunter?“ fragte er barsch. „Das verlohnt sich wahrhaftig der Mühe, wo mir zwanzig Kühe und sechs Pferde ertrinken werden!“

„Nicht um die Katze!“ gab sie kalt zur Antwort. „Uber da ich einmal hier, so seh' ich nicht ein, weshalb ich sie elend umkommen lassen soll!“ Sie hob bei diesen Worten das arme, geängstigte Tier, das sich fest an sie krallte, auf, um dann beim spärlichen Schein des brennenden Lichts aus den Küchenschränken hastig einige Gegenstände zusammen zu suchen. In der Kammer war sie noch mit dem Zusammenschnüren eines Bündelchens beschäftigt, als die Stimme des Hausherrn das Brausen des Sturmes überbot: „Etta! Gerhard! Dierk! Jetzt keine Minute länger, das Wasser steigt immer schneller! Nach oben, wenn euch euer Leben lieb ist!“

Unter jedem Arm einen Laib Schwarzbrot, das Bündel Bettzeug mit den Zähnen haltend, während die Katze ihr am Nacken hing — so klomm Etta die Leiter empor. Aus dem Vorderhause, wo sie in fliegender Eile die Halfterstricke des Viehes durchschnitten hatten, stürzten jetzt die Knechte herbei. Nach ihnen betrat, als der Letzte, Jakob de Vries die Leiter, gerade in dem Augenblicke, als der Tisch, auf welchem das Licht brannte, von den Wellen gehoben wurde, so dass von der Erschütterung die schwache Kerze umfiel und verlöschte. In der dicken Finsternis oben tappten die drei Männer vor sich hin; das Schreien des Säuglings verriet ihnen den Platz, den die Übrigen aufgesucht hatten. Ein falber Blitz lichtete das Dunkel, und zusammengekauert auf einem Haufen Stroh wurden die alte Großmutter, Anton Günther und die Frau, das kleine Kind in ihren Armen haltend, nebst den beiden Mägden sichtbar. Etta hatte sich eben zu ihnen gefunden, mit halb erstarrten Fingern das zusammengeraffte, aber auch bereits durchnässte Bettzeug lösend.

Unten im Hause stießen jetzt Schränke, Tische, Bettladen und allerlei anderes Hausgerät, vom Wasser gehoben, krachend gegen einander oder wurden gegen die Wände geschleudert. Aus dem Vorderhause erscholl das klägliche, vielstimmige Brüllen der Kühe und jetzt, ja jetzt, all’ den Lärm der Verwüstung übertönend, wiederum jener grauenhafte, jedes Haar zu Berge sträubende Laut, der vorhin die Schläfer geweckt, „Heiliger Gott!” schrie, außer sich, die Frau, „ras't denn die Hölle da unten?”

„Die Pferde sind’s!” entgegnete Jakob de Vries gepresst. „Wenn sie in Todesnot sind, schreien sie so grässlich.“

Der Ton wiederholte sich nicht; auch das Brüllen der Kühe ward schwächer und schwächer. Einige wenige mochten aus einer der Seitenpforten, welche das Wasser aufgedrückt, entkommen sein, denn man hörte ihre Stimmen aus größerer Entfernung. Im Wohnzimmer hob die große Wanduhr aus und tat zwei Schläge — die letzten, ehe sie still stand.

„Zwei Uhr!“ sagte zitternd die Frau, „und erst um sechs Uhr ist Hochwasser!“ — Es trat ein tiefes banges Schweigen ein; der Säugling hatte sich zum Glück beruhigt und war im Schoß der Mutter wieder eingeschlafen. Die Großmutter und Anton Günther hatten sich still bei der Hand gefasst; neben Etta aber schnurrte im Stroh die gerettete Katze, ihr Fell putzend und dann und wann, wie in einem Gefühl von Dankbarkeit, ihren Kopf gegen des Mädchens Arm reibend. Etwas seitwärts auf einem Holzklotz saß Jakob de Vries, die Hände gegen die schmerzende Stirn gepresst und vergeblich versuchend, den Gedanken zu fassen, dass der Morgen, der nach dieser Nacht komme, ihn als Bettler finden werde. Wenn das Wasser fiel und er hinunterstieg am andern Tage, fand er seinen Hausrat zerstört, seine Vorräte fortgeschwemmt, sein Vieh ertrunken, seine Ländereien auf Jahre hinaus verdorben von dem salzigen Wasser. Was sollte dann aus Weib und Kindern — o, was sollte aus Anton Günther werden, wenn die Armut in das verwüstete Haus eintrat und das Elend ihr auf den Fersen folgte? — Plötzlich fühlte er, wie eine Hand leise die seine suchte — es war seine Frau, die sich zu ihm gefunden hatte. So einfach die Handlung war, Jakob de Vries fühlte sich erschüttert durch dies unwillkürliche, schüchterne Vertrauen seines Weibes. Auch jetzt wusste er ihr noch kein einziges Wort zu sagen, als: „Alles hin! Alles verloren!“ Aber die Frau musste doch noch etwas Anderes aus diesen Worten heraushören, etwas das ihr, der sonst so Schüchternen, den Mut gab, ihm tröstend zuzureden, es sei ja doch am Ende noch nichts verloren, als Geld und Geldeswert; ihre Kinder
seien ihnen geblieben und ihre rüstigen gesunden Arme. Die Nachbarn würden ihnen helfend beispringen.

„Die Nachbarn?“ Der Mann lächelte bitter. „Die sind Bettler, so gut wie wir. Glaubst Du, dass die vom Wasser verschont geblieben sind? Da ist Keiner, der uns helfen könnte!“

„Einer doch! Der Eine, der dies Trübsal über uns verhängt hat, und der schon morgen seine Sonne wieder über uns scheinen lassen kann!“ — Aber darauf antwortete Jakob de Vries nur mit einem verzweiflungsvollen Seufzer . . .

Allmählich machte nach der Erregung der letzten Stunden sich bei Allen das Gefühl der bitteren Kälte bemerkbar. Man hörte in der Dunkelheit, wie die Zähne aufeinander klapperten und die Atemzüge zitternd gingen wie im Fieberfrost. Um die Großmutter und Anton Günther häufte Etta das Stroh dichter zusammen, bis die Erstere sagte: „Sorg’ auch für Dich, Etta, es dauert noch lang! Noch ist das erste Etmaal nicht herum, noch längst nicht!“

„Mich dünkt, es müsste doch bald Morgen werden!“ meinte die Frau nach einer längeren Weile, während welcher eine Art von dumpfem Halbschlummer sich auf Einen und den Anderen gesenkt hatte. Kaum, dass sie die Worte gesprochen, als heller Hahnenschrei ertönte.

„Das ist der weißbunte Hahn!“ rief der Großknecht Gerhard; „der fliegt immer auf die höchste Stange im Bauer, so hoch ist also das Wasser noch nicht. Aber die Hühner werden wohl alle ertrunken sein!“

Es war merkwürdig, welchen belebenden Einfluss auf die ganze Gesellschaft dieser Hahnenschrei ausübte. In dem Toben der Elemente war denn also noch nicht jede Spur geordneten menschlichen Heimwesens verschwunden!

„Wenn ich nur 'was zu essen hätte!“ klagte halblaut Dierk, der Kleinknecht; worauf sein Genosse halb spottend erwiderte: „Ich dachte, bei Dir hielte die Grütze von gestern Abend noch vor.“

„Etta hat Brot mit heraufgebracht — sie war die Einzige von uns Allen, die daran dachte,“ sagte die Frau, welche den Stoßseufzer des Knechts vernommen hatte „Sobald es nur ein wenig zu dämmern anfängt, soll sie uns Allen ein Frühstück geben.“

Durch die Spalten der Bodenluken stahl sich jetzt der erste graue Schimmer des Tages. Die Frau war die Erste, welche ihn bemerkte, „Gott sei Dank!“ rief sie freudig, „nun muss die Tie vorüber sein!“

„Aber die Flut kommt wieder!“ entgegnete Jakob de Vries finster. „Es muss eine Kappstürzung*) gegeben haben, mehrere vielleicht. Wo sind jetzt Hände, die Braken (Löcher, Lücken) im Deich zu stopfen?“ — Er trat an eine der Luken und öffnete dieselbe, aber fast wäre er zurückgeprallt vor dem Anblick, der sich ihm darbot. Ringsum, soweit nur der schwache Dämmerschein ein Erkennen gestattete, eine weite, weißschäumende Wasserfläche, als wäre es die offene See. Aus der wallenden Flut ragten nur die Kronen der Obstbäume im Garten empor, Ertrinkenden gleich, welche die Arme in die Höhe strecken. So hoch war das Wasser gestiegen, dass nur ein Wahnsinniger die Hoffnung hegen konnte, es werde innerhalb der nächsten sechs Stunden wegebben; und dann kam abermals die Flut, höher vielleicht noch, als die soeben bestandene — was mochte dann werden? — In die offene Luke trieb der Wind den salzigen Schaum und die Pfosten des Hauses bebten vor dem Anprall von Sturm und Wogen. Der starke Mann fühlte seine Hand zittern, als er‚ nicht ohne Anstrengung die Pforte wieder schloss. Ihn hatte das offene Grab angegähnt.
*) Wühlt das Wasser an der Außenseite des Deiches ein Loch, ohne den eigentlichen Deichkörper zu durchbrechen, so wird dasselbe ein Kolk genannt. Reißen aber die Wellen ein Stück der Deichkappe — des oberen Teils eines Deiches — fort, und erweitern dann die so entstandene Lücke zu einem förmlichen Tor, so belegt man dies mit dem Namen Kappstürzung.

Aber ähnlich dem Hauch, der den fast erloschenen Funken zur Flamme anbläst, so genügte ein Wort, um die fast erstorbene Hoffnung zu neuem Leben zu erwecken. An der entgegengesetzten Giebelseite des Hauses hatte Gerhard die Luke aufgestoßen und angestrengt hinausgespäht. Auf einmal griff er nach einer unweit von ihm liegenden Stange und beugte sich weit aus der Lukenöffnung heraus. Im nächsten Augenblick rief der Knecht dringend nach einem Strick, einer Kette, was etwa zur Hand sei. Eine alte verrostete Halfterkette riss Etta rasch entschlossen von einem Pflock an den Dachsparren und eilte mit ihr der Giebelöffnung zu. Dort war einer jener Tröge angeschwemmt worden, deren sich die Landwirte zum Sand- und Düngeranfahren zu bedienen pflegen, indem der plumpe, langgestreckte Kasten auf das Untergestell eines Leiterwagens gehoben wird. Der Knecht hatte den Trog mit seiner Stange herangezogen, vermochte nun aber nicht, ihn in dem mächtig treibenden Wasser zu halten.
Mit Ettas Hilfe ward rasch die Kette durch einen am Vorderende befindlichen Eisenring gezogen und im nächsten Augenblick lag das ungefüge Gestell fest vor Anker. „So weit wären wir!“ rief tief aufatmend der wackere Knecht. „Jetzt, Herr, fahre ich mit meinem Boot zum Kirchdorf und biete die Leute zur Hilfe auf. Es hat ja fast jeder da sein Boot auf dem Tief*), nun sollen sie einmal landeinwärts fahren, euch Alle abzuholen!“ —
*) Tiefe, Siele oder Sieltiefe heißen die Kanäle, welche den Abfluss des Binnenwassers vermitteln, während an ihrer Mündung Schleusentüren das Eindringen von See- und Stromwasser verhindern.

Mit einem schwachen Lächeln der Hoffnung blickte die Frau auf den Säugling in ihren Armen und dann auf den neben ihr stehenden Anton Günther. Allein Jakob de Vries schüttelte den Kopf. „Jetzt nicht, Gerhard, es wäre Dein sicheres Verderben, jetzt geht der Ebbestrom rasch der See zu! Sieh nur hinaus, das Wasser fällt so gut wie gar nicht, aber der Strom geht seewärts und Du triebst unfehlbar durch die Braken in die offene See hinaus. Willst Du das Wagestück unternehmen, so musst Du auf alle Fälle sechs Stunden warten, bis die Ebbe umsetzt und die Flut wieder nach dem Lande zu steht.“ —
Er hatte Recht, das sah auf der Stelle Jeder ein, auch der Knecht, der, mit dem Kopfe nickend, in ruhiger Entschlossenheit sagte: „Also bis Mittag denn!“

„Und nun gleich noch ein Wort!“ setzte der Hausherr hinzu, den treuen Menschen ein wenig abseits führend. „Du kommst im günstigsten Falle mit dem Abend nach dem Dorfe, und wer weiß, wie lange es beim besten Willen dauern kann, ehe Jemand sich durch Sturm und Wellen bis zu uns arbeitet. Bis
dahin — wär’s ja möglich, dass von dem Hause kein Pfosten und sein Sparren mehr stünde. Versprich mir nun, dass Du oder wer sonst mit Dir ist, bei der Rückkehr noch eine Zeit lang hier in der Nähe absucht — es wäre — es könnte ja der Eine oder der Andere auf einer Planke oder dergleichen im Wasser treiben.“

Der Knecht nickte wieder. „Verlasst Euch darauf, Herr, das tu' ich jedenfalls, schon der Frau wegen,“ setzte er treuherzig hinzu, „die immer so gut gegen uns ist.“

— Der Tag war jetzt vollends angebrochen, bleigrau und trüb, kaum etwas Anderes, als eine trostlose Dämmerung. Stunde um Stunde saß das Häuflein Menschen, Schiffbrüchigen gleich, bei einander und horchte in gezwungener Untätigkeit auf das hohle Brausen des Sturmes, das Rauschen und Klatschen der Wellen. Ab und an stand der Hausherr auf, um einen Blick aus der Bodenluke zu werfen, aber was er sah, schnürte ihm das Herz zusammen. Nur unmerklich war das Wasser gefallen, jetzt, zur Zeit der tiefsten Ebbe. Gegenstände aller Art trieben rechts und links vorbei, Hausrat von jeglicher Gestalt und Größe, ertrunkenes Vieh, Heuhaufen, Strohdächer, von Wohnhäusern fortgeschwemmt . . . und auch sein Haus, Jakob de Vries sah und fühlte es deutlich, begann an der Westseite, vom Wasser unterwaschen, sich zu neigen. Wenn die Flut wieder angerauscht kam, die Pfosten stürzten . . . o, der Tod im wilden Wasser ist so schrecklich!

Der Säugling, dem die Mutter keine Nahrung und keine Wärme mehr spenden konnte, schrie jämmerlich. Da lockte Etta mit Schmeichelworten die Katze, welche so eben ein Mäuslein aus seinem Schlupfwinkel gejagt und verspeist hatte, zu sich und legte sie dann sanft neben das Kind, welches, von der tierischen Wärme wohltuend berührt, sich alsbald behaglich streckte und wieder einschlief, während die Katze, ganz zufrieden mit ihrem Platz, gemütlich zu schnurren begann.

„Es ist Mittag,“ sagte der Hausherr endlich. „Hast Du noch Brot, Etta, so lass uns unsere Mahlzeit halten.“ Wiederum wurden die Brotstücke verteilt und Anton Günther sprach, wie immer, das Tischgebet: „Diese Speise segne der Herr, der sie uns gab!“ Nur dass seine Stimme schwächer klang als sonst, und leise zitterte. Zum Sättigen reichte die karge Speise nicht, aber sie ließ doch wenigstens das Gefühl nagenden Hungers nicht aufkommen. Der Knecht rüstete jetzt zu seiner Fahrt, und es war ein fast feierlicher Augenblick, als er allen die Hand reichte. „Adje, Herr! Adje Frau! Will’s Gott, komm’ ich wieder, Euch zu holen.“ — Die Großmagd brach in lautes Schluchzen aus. Man wusste im Hause seit Langem, dass die Beiden unter sich einig seien; sie hatten es aber bis jetzt nicht laut haben wollen, aus Furcht, dass dann eines von ihnen den Dienst verlassen müsse,

„Adje, Becka!“ sagte der Knecht, seiner Braut die Hand reichend, „und sollt' ich nicht wieder kommen, dann zehr' (gräme) Dich nicht zu sehr!“

Das Mädchen weinte bitterlich. „Hast auch noch 'was zu bestellen an Dein' alte Mutter?“ fragte sie.

„Ach, nein!“ lautete die Antwort. „Doch ja,“ setzte er, sich besinnend hinzu, „ihre Ziege hat kürzlich Junge geworfen, sag' ihr doch, dass sie das Aulamm*) aufzieht. Die Alte wird doch nachgerade alt und Mutter muss bei Zeiten sehen, dass sie eine ordentliche Milchgeberin wieder kriegt.“

Becka versprach unter Tränen, die Bestellung von dem „Aulamm“ auszurichten, während der Knecht bereits sein unsicheres Fahrzeug bestieg. In diesem Augenblick erschien Dierk, die Übrigen ohne Umstände bei Seite schiebend, in der Bodenluke. „Gerhard, halt' noch! Ich hab' mir's überlegt — ich möchte mit.“

„Du?“ fragte erstaunt der ältere Knecht. „Hast auf einmal Courage gekriegt? Dir macht wohl die Schwarzbrotkost angst und bange? Aber gleichviel! Vier Arme richten am Ende mehr aus als zwei, und wir mögen ja auf diese Weise um so viel eher zum Dorfe kommen.“

„Na, dann adje miteinander!” sagte Dierk, in das Fahrzeug steigend. Ein paar Sparren, die sich glücklicherweise auf dem Boden vorgefunden hatten und die als Ruder dienen konnten, wurden den Männern hinausgereicht, dann löste Jakob de Vries die Kette, welche den Trog hielt, und im nächsten Augenblick hatte die Trift des Wassers denselben schon um eine ziemliche Strecke fortgeführt. Die Zurückgebliebenen verfolgten das Fahrzeug mit ihren Augen, so lange es nur in dem trüben Lichte noch erkennbar blieb.

Von der westlichen Giebelseite her hörte man jetzt in verstärktem Maße den Anprall der Wogen; hätte man's nicht ohnedem gewusst, an diesem hohlen Rauschen ließ es sich deutlich erkennen, dass die Flut komme. Jakob de Vries, von innerer Unruhe getrieben, stand nach kurzer Weile wieder auf, untersuchte ringsum das Dach, das sich immer bedenklicher zu neigen begann und in dessen Strohbekleidung größere und größere Lücken entstanden, öffnete dann wieder die Luke und blickte mit stieren Augen auf das langsam, stätig, unaufhaltsam steigende Wasser, berechnend, in welcher Minute es bis zur Höhe des unter ihm zitternden und schwankenden Bodens gelangt sein werde . . .

Jetzt rückte Etta zu der Hausfrau, über deren bleiche Wangen langsam die Tränen schlichen. „Frau, man kann ja nicht wissen, wie's kommt, aber ich denke mir immer, Euch und das Kind holen sie noch zur rechten Zeit. Wenn's mit mir anders kommen sollte, so hätt' ich wohl eine Bitte an Euch! Ich bin dem Weber Gerdes noch etwas Geld schuldig, er hat mir neulich eine weiße Serviett' gewebt und weil ich fürchtete, das Kind, das sie mir brachte, könnte das Geld verlieren, so ist sie noch unbezahlt, und der Gedanke quält mich. Wollt Ihr die Sache von meinem Lohn in Richtigkeit bringen? —“

Die Frau sah sie einigermaßen verwundert an. „Etta, ja gern, wenn es zum Schlimmsten kommen sollte, aber“

„Ihr wundert Euch,“ unterbrach sie das Mädchen, „was ich mit einer weißen Serviett', die man sonst ja nur zur Aussteuer weben lässt, habe tun wollen? — Ja, seht, Euch kann ich's ja sagen — ich hab' zu Hause eine alte Großmutter, die liegt seit langen Jahren verlähmt, weil sie sich einmal so bös erkältet
hat in einer Flutnacht. Nun kommt zweimal im Jahr der Pastor zu ihr, um ihr das Abendmahl zu geben, im Frühjahr ungefähr um die Saatzeit und im Herbst, wenn abgeerntet ist. Früher, als meine Mutter noch lebte, wurde die Stube dann immer schön gemacht mit Sand und weißen Gardinen vor dem Alkoven **) und über den Tisch wurde ein weißes Tuch gedeckt, das feinste, das wir hatten. Jetzt, seit meine Mutter tot ist, sind mein Bruder und die Schwägerin ins Haus gezogen und die machen sich nichts daraus, dass alles ein bisschen Ansehen hat. Nun wird das Abendmahlsgerät immer auf den nackten, blanken Tisch gestellt und das grämt die alte Frau. Da hab' ich denn auf dem Herbstmarkt Flachs gekauft, ihn recht schön fein gesponnen und der Weber hat mir daraus die Serviett' gewebt. Es freut mich noch, dass ich sie meiner Großmutter — es sind nun acht Tage her — hab' hinschicken können, weil gerade Jemand aus unserer Gegend da war!“

*) So werden die weiblichen Lämmer genannt.
** ) Ein Bretterverschlag (vorn mit einer türartigen Öffnung), der als Bettgestell dient.

„Etta,“ sagte die Frau mit stockender Stimme, „falls Dir etwas geschehen sollte, Deine Angelegenheiten besorg' ich, als wären's meine eigenen. Und sollt' es umgekehrt kommen, ich meine, sollte ich's nicht überstehen und die Kinder oder ... oder doch eins von ihnen gerettet werden, so versprich mir, dass Du bei ihnen bleiben und sie nicht verlassen willst.“

„Wenn’s dem Herrn nicht zuwider ist, Frau, so habt Ihr mein Wort,“ entgegnete Etta einfach. — —

Ob Jakob de Vries die Unterredung zwischen seiner Frau und der Magd gehört, blieb unentschieden, aber kurze Zeit darauf fühlte die Letztere ihren Arm berührt, und als sie sich umwandte, sah sie zu ihrem Erstaunen den Hausherrn hinter sich stehen. „Komm, Etta,“ sagte er gedämpft, „ich möchte mit Dir reden!“ Und da sie seiner Aufforderung folgte, fühlte sie, wie ihr Herz zu klopfen begann — sie wusste, wovon er jetzt reden würde.

„Morgen um diese Zeit, Etta,“ begann er mit einer seltsam tonlosen Stimme, „sind wir entweder geborgen, oder das Wasser deckt uns zu — das Letzte ist freilich das Wahrscheinlichste — und für den einen und den anderen Fall muss ich noch meine Rechnung mit Dir ausmachen. Bleiben wir am Leben, so will ich versuchen, anderweitig gut zu machen, was Dir Unrechtes geschehen ist. Und sollte diese Nacht unsere letzte sein, so — so möcht’ ich Dich um Vergebung bitten, dass ich den Cornelius von Dir abwendig gemacht habe.“

Einen Schritt war Etta zurückgetreten unter diesen Worten; dann, nach kurzem innerem Kampf, legte sie ihre Rechte in die dargebotene ihres Herrn. „Herr — ich hätt’ es Euch vielleicht in keiner anderen Stunde meines Lebens vergeben können; in dieser ist's ein ander Ding! Man weiß ja nicht, ob man nicht in der nächsten vor seinem Richter steht; ich hab' ehrlich und aufrichtig keinen Groll mehr gegen Euch.“

„Ein Jahr von meinem Leben gäb' ich darum,“ fuhr Jakob de Vries fort, „wäre Cornelius noch frei und ledig, wäre es nicht zu spät, dass aus euch Beiden noch ein Paar würde.“

„Ledig?“ sagte Etta, mit einer eigentümlichen Bewegung ihren Kopf aufrichtend und ihn mit ihren glänzenden blauen Augen ansehend. „Glaubt mir, Herr, zu spät wäre es auch ohne das und auf alle Fälle, Cornelius hat sich einmal schwach erfinden lassen, als er hätte treu und fest zu mir stehen sollen
— das vergisst sich nicht wieder — ich wenigstens hätt’ es nun und nimmer vergessen. An der Sache wäre nichts mehr zu ändern.“

„Auch nicht, wenn ich selber Dich gebeten, ja angefleht hätte, ihm mein Unrecht nicht zuzurechnen?“

Sie schüttelte den Kopf, „Herr, wir können uns die Mühe sparen, darüber zu streiten. Wer von uns wird den morgenden Tag erleben? Vielleicht keiner von allen, die wir hier sind . . .“

Und wie zur Bestätigung dieser Worte erbebte in diesem Augenblick das Haus von oben bis unten — unter furchtbarem Krachen senkte sich die ganze westliche Giebelseite, mitten von einander brach das Dach und ein Regen von salzigem Schaum überschüttete all' die bleichen, entsetzten Menschenangesichter. Etta war zu der alten Großmutter gerückt, den Arm, wie schützend, um sie legend. Die Mutter umklammerte fester ihr Kind und Jakob de Vries stand mit vorgebeugtem Haupte und starrte auf die weißen Wellenhäupter, die wie frohlockend sich heranwälzten.

Der Nachmittag neigte sich seinem Ende zu; es begann dunkler und dunkler zu werden. Da auf einmal tat es einen herzzerreißenden Schrei — die Planke, auf der, in geringer Entfernung von der Großmutter, Anton Günther stand, hatte plötzlich nachgegeben und mit einem vergeblichen Versuch sich anzuklammern stürzte der Knabe in die Tiefe hinab. Einmal noch tauchte er wieder empor, die Arme in die Höhe streckend, dann war Alles still — nein, nicht still, denn der Wind heulte und die Wellen leckten zischend an den Pfosten in die Höhe, beides übertönt im nächsten Augenblick von einem Aufschrei des Vaters, so grell und schneidend, dass man nicht wusste, ob wirklich solcher Laut aus einer Menschenbrust komme. Sein Schmerzenskind, sein Stolz, sein ewiger Vorwurf zugleich, war dahin.

Die alte Großmutter erhob zuerst wieder ihre schwache, zitternde Stimme. „Sei ruhig, mein Sohn, und gönne ihm den Himmel; der war allzeit zu gut für unsere sündhafte Erde! Ihm ist jetzt wohl, unserem Anton Günther. Wollte Gott, wir Andern wären auch erst so weit!“

Von der Stelle, wo die Mutter saß, tönte nur ein leises Schluchzen und Wimmern, und so oft die Nacht hindurch der Sturm und das Wogenrauschen eine Pause eintreten ließen, immer und unausgesetzt vernahmen die Übrigen dies leise, herzzerschneidende Wimmern.

Die Nacht hindurch? — Wie sie vergangen war — sie wussten es Alle nicht, Keiner fragte mehr, denn wenn der Morgen kam, was konnte er bringen? — Aus einer Art von dumpfer Betäubung erwachte der Eine und der Andere und wunderte sich, dass er noch lebe. Heute kündete kein Hahnenschrei mehr den Morgen an; der „weißbunte Hahn“ war längst ertrunken.

Das letzte, vom Salzwasser bereits durchnässte Brot verteilte Etta, als es hell geworden war, aber jetzt begannen sich alle Qualen des Durstes einzustellen. Die alte Großmutter, als sie ihr Teil von dem kärglichen Imbiss empfangen, nickte mit dem Kopf und sagte beschwichtigend: „Ein paar Stunden noch, dann ist das dritte Etmaal herum. Weine nicht, Du armer Wurm!“ setzte sie hinzu, mit ihrer zitternden Hand über des Säuglings Gesicht streichend, „Du hast nun Kälte und Hunger bald hinter Dir!“ —

Von Stunde zu Stunde spülten die Wellen mehr Sparren und Planken von Dach und Boden los, aber die Großmutter erklärte mit Zuversicht: „Bis Gerhard zurückkommt, hält's zusammen!“ — Ehe man sich's versah, war sie in einen festen, ruhigen Schlaf verfallen, und angenehme Träume mussten ihren Geist beschäftigen, denn sie lächelte leise, und mitunter war's, als ob ihre Lippen Anton Günthers Namen aussprächen.