Zweite Fortsetzung

„S ist draußen jetzt ungleich stiller geworden,“ sagte Jakob de Vries, indem er die Listen, die er in seiner Eigenschaft als „Deichgeschworener“ zu führen hatte, zusammenlegte. „Ich will nur einmal im Stalle noch nachsehen, ob mit dem Vieh alles in Ordnung ist, und wenn die Knechte abgefüttert haben, könnt ihr das Abendessen auftragen. Ihr werdet doch,“ wandte er sich mit einem Versuch zu scherzen, an die Frauen, „nicht vergessen haben, die Weihnachtsgrütze zu kochen? Es wäre ja sonst gar kein Festabend!“

Die Mägde stießen einander an und lachten in Aussicht auf den zu erwartenden Genuss. Nur Etta spann unbewegt weiter. Als der Hausherr, von den Knechten gefolgt, das Gemach verlassen hatte, stellte die Frau das Spinnrad in die Ecke; an Ettas Rocken riss gerade in diesem Augenblicke der Faden, so dass das Schnurren der Räder gleichzeitig verstummte. Plötzlich wandte die Letztere den Kopf nach dem Fenster hin und lauschte angestrengt. Die Großmutter richtete sich gleichfalls empor. „Was hast Du, Etta?“


„Hört Ihr nichts, Großmutter? Ihr auch nicht, Frau? — Wie ganz leises, fernes Glockenklingen kam es herüber.“

„Das ist die Banter Glocke!“ sagte die Großmutter feierlich. „Es ist das vierte Mal in meinem Leben, dass ich sie höre, und jedesmal ist das Wasser ins Land gekommen, eh’ dass dreimal der Mond voll geworden ist. Das erste Mal war's heut’ vor sechsundsechzig Jahren, und am Peterstage darauf kam die Flut über die Deiche und spielte mit den Leichen der Ertrunkenen.“

„Etwas muss kommen!“ sagte die Frau schaudernd. „Es sind schon lange Vorzeichen gewesen, dass das Wasser einbricht. Der Tischler Jantzen, als er neulich den Sarg für Tagelöhner Läublers Frau hingetragen hat, sagt, es sei bei der Rückkehr ihm und seinem Sohne gewesen, als ob sie durch lauter Wasser gingen; bis ans Knie hätten sie aufs deutlichste das kalte Wasser gespürt. Der Sohn bückt sich und taucht die Finger hinein, und als er's dann schmeckt auf der Zunge, da schmeckt es salzig. Und der Weber Gerdes hat vor vierzehn Tagen, als heller Mondschein war, ein groß dreimastig Schiff gesehen, das quer über den Deich segelte und sich grad’ vor seinem Garten zu Anker legte.“

Wiederum trafen sich die Blicke Ettas und Anton Günthers. Sie Beide wussten ja schon längst, dass „etwas“ kommen müsse. Vor mehreren Wochen, gleichfalls in einer hellen Mondnacht, hatte der Knabe die Magd geweckt, leise, damit die Großmutter nicht erwache, und dann mit wortlosem Grauen auf das Fenster gedeutet. Als sie dann zusammen hinausgesehen, hatte sich draußen, da, wo sonst der Garten war, eine weite, weiße Fläche ausgebreitet — sie wussten nicht, war’s Schnee oder Wasser — und aus dieser Fläche ragten lauter schwarze Kreuze auf. Lange hatten sie die Erscheinung angestarrt, bis Wolken den Mond bedeckten und Alles verschwand. Seitdem hatten beider Blicke sich stets in stillem Einverständnis begegnet. Jemand im Hause musste sterben — das war gewiss! Galt es Einem? galt es mehreren? Die nächste Zeit musste Antwort bringen.

Eine Pause war eingetreten in dem Gemach; man konnte die Atemzüge der Lauschenden hören. Da wieder erklangen leise und geisterhaft jene fernen Glockentöne. „Horch, abermals!“ sagte die alte Frau, und plötzlich hob sie mit Hohler, zitternder Stimme an zu singen:

„Ut de swarte Eer, ut de swarte Eer,
Da klingt in de Christnacht 'n Klocke her.

Dat is de Klocke, de Klocke van Bant,
De klingt dar herut an de Waterkant.

Se lüd't ähr Doden den hilligen Christ,
Un di röppt se to, dat verlaren du bist.

De Bulgens, de Bulgens, de stiegt äwer 'n Diek,
Eh' de Maan vull tom drüdden, beschient he dien Liek.

So lüd't de Klocke, de Klocke van Bant
Un dat Water frett up use gröne Land,“ *)

Die Zuhörer überriefelte es, Sie kannten alle das Lied, kannten alle die Sage von dem Untergange des reichen Fleckens Bant, dessen Glocken noch immer ihren Toten die Christnacht einläuteten — aber heute gerade diese Erinnerung, wachgerufen von der uralten Greisin und verknüpft mit der schauerlichen Prophezeiung — es kam sie alle ein Grauen an! Etta, die Ostfriesin, war diejenige, welche sich am ersten wieder fasste. Sie schüttelte das Federkissen auf, welches den Rücken der alten Frau gestützt hatte, und redete ihr beschwichtigend zu, so, als ob nichts Besonderes vorgefallen wäre. „Großmutter, lehnt Euch an, sonst kommen die Kopfschmerzen wieder. Die Fußbank ist auch verschoben, setzt Euch nur recht bequem hin! So, das wird Euch gut tun!“

*) Für die des Plattdeutschen unkundigen Leser folge hier eine Übersetzung:

„Aus der schwarzen Erd', aus der schwazen Erd',
Da klingt in der Christnacht 'ne Glocke her.

Das ist die Glocke, die Glocke von Bant,
Die klingt dort heraus an dem Wasserrand.

Sie läut't ihren Toten den heiligen Christ,
Und dir ruft sie zu, dass verloren du bist.

Die Wogen, die Wogen, die steigen über den Deich,
Eh’ der Mond dreimal voll wird, bescheint er deine Leich'!

So läutet die Glocke, die Glocke von Bant,
Und das Wasser frisst auf unser grünes Land.“

Die Greisin ging willig auf alle Anordnungen Ettas ein. Überhaupt war Niemand, die eigene Tochter nicht ausgenommen, die mit der alten Frau so gut fertig zu werden wusste, wie Etta. Einmal, es waren jetzt drei Jahre her, hatte die Letztere ihr Bündel geschnürt und das Haus verlassen, nachdem ihr der Bauer Dinge gesagt, die sie, im tiefsten Herzen empört, mit flammenden Worten zurückgewiesen. Nach ihrer Entfernung jedoch war die Großmutter so unruhig geworden, hatte so unaufhörlich nach Etta verlangt und gerufen, dass man befürchten musste, sie werde sich zu Tode grämen um ihre treue Pflegerin, bis endlich die Frau anspannen ließ und mit Aufbietung all' ihrer schlichten Überredungskunst Etta zurückholte. Seitdem hatte die Letztere still unermüdlich im Hause geschafft und die alte Frau gepflegt. Für den Hausherrn, der nur zornig und widerstrebend die Einwilligung zu ihrer Zurückberufung gegeben, schien sie so gut wie nicht vorhanden zu sein. Doch auch Etta würdigte den Herrn keines Blickes, keiner anderen als der notwendigsten Antwort, wenn von ihm eine Frage, eine Bemerkung durchaus nicht umgangen werden konnte. Die anderen Mägde, die erst später in den Dienst eingetreten waren, flüsterten wohl unter einander: „Der Bruder vom Herrn hat Etta gerngehabt, aber der Herr hat's nicht zugeben wollen und hat den Johann Cornelius weit weggeschickt, nach Holland oder so!“ Mit Etta selbst aber von dieser Angelegenheit zu reden wagte keine.