Erste Fortsetzung

Der Wind nach Nordwest umgesprungen — welchem Küstenbewohner wäre unbekannt gewesen, was das zu bedeuten hatte? Wenn der West und Südwestwind die Wasser des Ozeans durch den Doverkanal in die Nordsee gepresst hat und nun, nach Norden umsetzend, den ganzen ungeheuren Wogenschwall gegen die Küsten treibt — dann Gnade Gott den Friesenlanden!

Wieder Heulte ein Windstoß gegen die Fensterläden, dass die im Gemache den Zugwind verspürten und die Flamme des Lichts zu verlöschen drohte. Der Hausherr brach das angstvolle Schweigen. „Wir sind im letzten Mondsviertel, da kommt das Wasser nicht so hoch. Ja, wenn wir Vollmonds-Springflut hätten, da möchte Grund sein sich zu sorgen; aber so — —!“


Aus der Türe der anstoßenden Schlafkammer trat mit bleichem, geängstetem Gesicht eine Frau.
„Gott und Vater, wie bin ich erschrocken! Fast hätt' ich das Kind fallen lassen, da ich es in die Wiege legen wollte — der ganze Himmel steht wie in Feuer!“

Der Hausherr zog die Stirne zusammen. „Der Schein vom Licht wird Dich getäuscht haben, Frau! Die Flamme weht ja hin und her in der Zugluft.“ Die Frau schüttelte verneinend den Kopf. In diesem Augenblicke übertönte ein knatternder Donner das Heulen des Sturmes. „Hört ihr's? Als sollten Himmel und Erde vergehen, solch ein Wetter ist es. Mann, ich möcht' Dich bitten, lass unsern Anton Günther ein frommes Lied lesen, mir ist so angst und weh.“

Der Vater blickte auf den Knaben so weich und freundlich, dass dieser Ausdruck einen seltsamen Gegensatz gegen seine anderweitige Barschheit bildete. „Wenn er mag — ich hab' nichts dagegen!“

Anton Günther erhob sich, um von einem Wandbrett ein in braunes Leder gebundenes Buch zu nehmen, und da er nun auf den Füßen stand, konnte man bemerken, dass seine Gestalt durchaus verkrümmt war.

Unter dem Rollen des Donners, dem Brausen des Sturmes saßen Alle mit gefalteten Händen, den Worten des frommen Liedes lauschend. Als der Knabe geendet, blieb es lange still in dem Gemache, aber auch draußen schien es jetzt ruhiger werden zu wollen. Die Wut des Unwetters, so schien es, hatte sich gebrochen. Nur mitunter noch zuckte der grelle Schein des Blitzes durch die Fensterläden, während der Donner in der Ferne vergrollte.

„Ich denke, wir haben das Schlimmste überstanden,“ meinte der Hausherr. „Mit solch einem Gewitter legt sich manchmal der Sturm. ’S ist ganz wohl möglich, dass morgen am Tage klarer Frost eintritt.“

„Das gebe Gott!“ meinte aus tiefster Seele die Frau, indem sie aus der Ecke den Spinnrocken hervorholte, wobei sie mit der freien Hand ihrem Erstgebornen liebkosend über den Scheitel strich. Ein inniger Blick aus Anton Günthers ernsten, sanften Augen traf sie, dann vertiefte sich der Knabe wieder in das vor ihm liegende große Buch, welches „von dem Volk der Cimbern und Teutonen handelte, so wegen grausamer Ergießung der Gewässer, wodurch ihr Land so kläglich zerrissen, im 110. oder 120. Jahr nach Christo den Cimbern-Zug getan, wobei sie aber von Cajus Marius, dem taffern römischen Burgemeister, aufs Haupt geschlagen worden, so zwar, dass 90.000 auf der Wahlstatt geblieben und 200.000 gefänglich weggeführet worden.“

Von Zeit zu Zeit blickte der Vater von seiner Arbeit zu dem Sohne hinüber und jedesmal mit demselben eigentümlich weichen Ausdruck, mochte er nun die Frage an ihn richten, ob ihm der Zug vom Fenster her auch nicht zu stark sei, oder ihm das Licht näher schieben, damit die Blätter des großen Buches besser beleuchtet seien. Was hätte er auch nicht getan, um dem Knaben die Befriedigung seiner Lieblingsneigung, des Lesens und Lernens, ja die Befriedigung jedes Leisesten Wunsches zu ermöglichen! Aber Anton Günther hatte wenig Wünsche und wenig Bedürfnisse, und Jakob de Vries *), der Vater, wäre überglücklich gewesen, hätte sich der Knabe nur einmal mit einer Bitte, einem Anliegen an ihn gewandt. Allein nur die Mutter besaß, wie die ganze Zuneigung, so auch das ganze Vertrauen des Sohnes — um beides hatte eine einzige böse Stunde den Vater für immer gebracht.
*) D. i. „der Friese“. Noch jetzt ist der Familienname de Vries ein an den Nordseeküsten sehr verbreiteter.

Das ging so zu: Anton Günther zählte noch nicht völlig drei Jahre, als eine Ausschlagkrankheit, gegen welche die ärztliche Kunst jener Zeit noch gar seltsame Heilmittel anwandte und deren Verlauf sie auf keine Weise zu lindern wusste, den Knaben befallen hatte; sein ungeberdiges Schreien setzte die Geduld des Vaters auf die ärgste Probe. Da endlich, nachdem dieser gerade glaubte, den Patienten für eine Weile beruhigt zu haben, verstand der Kleine eine Bewegung, die der Vater machte, falsch und erhob, durch dieselbe erschreckt, ein so durchdringendes Zetergeschrei, dass der jähzornige Mann, ohne zu wissen was er tat, mit beiden Händen das Kind in die Höhe riss und gegen die Bettlade schleuderte, dass der kleine Körper zuckend am Boden lag. Der heißen Aufwallung folgte jähes Entsetzen; mit lautem Aufschrei warf sich die Mutter über ihren Liebling, während Jakob de Vries sich die Haare ausraufte und sich den Mörder seines Kindes nannte. Der Kleine erholte sich zwar von der Bewusstlosigkeit, die ihn befallen, aber ungleich schrecklicher, als das vorherige jämmerliche Schreien, klang das schmerzliche Wimmern, das nun Tage und Nächte hindurch nicht aufhörte. Jakob de Vries hatte seine besten Pferde nahezu tot gejagt, um so schleunig wie irgend möglich den nächsten Arzt herbeizuholen. „Das Kind sei aus dem Bette gefallen und müsse sich schwer verletzt haben,“ gab er diesem an. Der Arzt, die große Hornbrille auf der Nase, betastete und untersuchte den Knaben von oben bis unten, schüttelte den Kopf und fing immer von Neuem wieder an zu tasten und zu klopfen. Endlich gab er seine Erklärung dahin ab, gebrochen sei nichts am ganzen Körper; die Schmerzen würden sich bald legen, wenn man nur fleißig Einreibungen mache, die er verschreiben wolle, und die allemal ausgezeichnete Dienste täten. Nun, die Schmerzen legten sich nicht bald, sondern sehr, sehr allmählich, aber das Wachstum des zarten Körpers war von Stund an gestört. Bald zeigte es sich, dass das Rückgrat auswich, dass Hände und Füße eine hier verdrehte Stellung einnahmen, während auf dem feinen, abgemagerten Gesicht jener frühreife, geistige Ausdruck hervortrat, der den Verwachsenen fast immer eigen ist. — Von den Tränen der Mutter sah Jakob de Vries nur diejenigen, welche sie am Tage weinte, nicht die, welche Nacht um Nacht die Kissen ihres Lagers netzten und die gerade die heißesten und bittersten waren. Er selbst hatte seit jenem Unglückstag nicht aufgehört, um die Liebe seines Kindes zu werben in leidenschaftlichem, oft verzweiflungsvollem Bemühen. Aber ihr Quell war und blieb verschüttet in dem Kinderherzen. So oft der Vater ihn anredete, ihn zu liebkosen versuchte, blickte Anton Günther mit seinen großen, klugen Augen ihn unbewegt an. Es war keine Feindseligkeit, kein Trotz in diesem Blick, aber eine stumme Abwehr, die dem Vater ins Herz schnitt . . .

Zwei Monate nach jenem schlimmen Tage erblickte im Hause de Vries ein zweites Kindlein das Licht der Welt, aber nur, um noch in der nämlichen Stunde seine Augen wieder zu schließen auf immer. Ein schwaches Wimmern drang aus der Kammer, in der die Wöchnerin lag, bis in das Wohngemach — dann war alles still. Bei diesem Wimmern aber war Jakob de Vries, der starke, kräftige Mann ohnmächtig zusammengebrochen — ihm war's nicht anders, als höre er wiederum das Ächzen Anton Günthers.

Zweimal hatte man später noch einen kleinen Sarg aus dem Hause getragen — o, Jakob de Vries, dein Todfeind hätte keine schlimmere Qual für dich ersinnen können, als die, mit welcher du den Leichen deiner Kinder folgtest, und die dein Herz zerriss in dem verzweiflungsvollen Gedanken: ich bin's nicht wert, ein Kind zu haben! — Durch Jahre war er finster und in sich gekehrt einhergegangen, wenn schon seine jähzornige Heftigkeit ungleich seltener zum Ausbruch kam als früher. Die Frau, eine sanfte, geduldige Seele, trug ihr Kreuz in stiller Ergebung; ihrem Manne wagte sie nur schüchtern zu begegnen, in alle seine Anordnungen fügte sie sich, ohne je ein Wort des Einspruchs und der Gegenrede zu erheben. Dem Gesinde war der Letztere kein harter Herr, obwohl er bei der Rauheit und Verschlossenheit seines Wesens auch nirgends Liebe fand. Er selbst suchte Liebe nur bei Einem — und dieser Eine verweigerte sie!

Im Frühling dieses Jahres nun hatte unter tausend Tränen die Frau abermals ein Kind in die Wiege gelegt — unter Tränen, denn für sie war es nur eine Frage der Zeit, eine Frage von wenig Wochen oder Monaten, bis man dasselbe zu seinen Geschwistern auf den Kirchhof tragen werde. Aber wider alles Erwarten wuchs und gedieh der Knabe zusehends, ohne dass an seinen runden, rosigen Gliedern ein Makel wäre zu sehen gewesen, ohne dass sein pausbackiges Gesichtchen jemals einen anderen Ausdruck, als den völligster Gesundheit und Zufriedenheit gezeigt hätte, so dass endlich in der Mutter die beseligende Hoffnung, dies Kind werde ihr erhalten bleiben, Wurzel zu schlagen begann. Ungleich länger dauerte es, bis auch der Vater diese Überzeugung gewann. Als aber der Kleine immer fröhlicher gedieh, konnte er oft lange Zeit an der Wiege stehen, in Betrachtung des schlummernden Gesichtchens versunken. Wenn dann der Knabe er wachend, dem Vater aus seinen hellen Augen freundlich zulachte, so überflog wohl ein Ausdruck von Glück des Letzteren ernste Züge; aber gleich darauf wandte er sich mit einem tiefen Seufzer wiederum ab — Anton Günther hatte nie ein solches Lächeln, einen solchen Blick für ihn!

Es verstand sich von selbst, dass der Letztere den mühevollen, ungeschwächte Körperkräfte erfordernden Beruf eines Sandwirts niemals ergreifen konnte. „Er braucht's auch nicht!“ sagte Jakob de Vries, „ich werde genug für ihn erwerben, dass er sein Leben lang nicht Hand noch Fuß rühren muss, wenn er nicht will.“ Als aber der Knabe heranwuchs und bald keine größere Freude kannte als die des Lesens und Lernens, lag der Vater dem Prediger des Kirchdorfes mit Bitten an, den Unterricht seines Sohnes zu übernehmen. Dieser, dem seine vielfachen Amtsgeschäfte wenig Zeit ließen, war anfangs nicht geneigt, auf dies Andrängen einzugehen. Als er sich aber nur versuchsweise einmal mit dem fähigen Knaben eingelassen, war er aufs Höchste erstaunt gewesen, ein so überaus fruchtbares Feld für seine Lehrtätigkeit zu finden, und seit der Zeit hatte ein regelmäßiger Unterricht stattgehabt. Freilich nur die Sommermonate hindurch; denn für den Winter waren dem kränklichen Knaben die Wege nach dem fast eine Stunde entfernten Kirchdorfe zu beschwerlich, und die Benutzung eines Fuhrwerks gestattete für die schlimme Jahreszeit der Zustand der Marschwege nicht. Dafür versah denn während dieser Zeit der Pastor seinen Schüler mit allen möglichen Büchern aus seiner Bibliothek, und solch ein Buch war es denn auch, in welchem an jenem Weihnachtsabend Anton Günther von dem Cimbern-Zuge und von dem römischen Burgemeister Cajus Marius las. — —