Vierte Fortsetzung

Ungefähr um Mittag war's, als die Großmagd plötzlich aufsprang und mit ausgestrecktem Arme, ohne ein Wort zu sprechen, nach der Richtung des Kirchdorfes wies. Ein dunkler Gegenstand schwamm auf dem Wasser. Die Magd versicherte: „Er ist's!“ und sie hatte Recht. Ein großes Boot, mit mehreren Ruderern bemannt, näherte sich dem zertrümmerten Hause. Schon von weiten winkte und rief der treue Knecht, der die Hilfe brachte, dem Häuflein Menschen zu. Jakob de Vries und sein Weib aber blickten auf das Boot, das ihnen zur Rettung werden sollte, wie geistesabtwesend. Konnte es ihnen wiederbringen, was verloren war? Und wenn nicht, wozu die Rettung? —

Jetzt war das Boot an den Pfosten, welche den Rest des Hauses hielten, angelangt. Die Stimme des Knechts rief fröhlich: „Hallo! da sind wir! seid ihr — — noch alle bei einander?“ wollte er hinzusetzen, als er gewahrte, dass Becka heftig mit der einen Hand winkte und die Finger der anderen auf den Mund legte. Sich niederbeugend, so weit sie es vermochte, flüsterte sie ihm die Kunde zu, dass Anton Günther ertrunken sei.


Jakob de Vries war an den abschüssigen Rand der Bretterlage getreten. „Also Du bist wieder da, Gerhard?“ fragte er müde. „Trägt das Boot uns Alle, so viel Unserer noch sind?“

„Gewiss, Herr!“ drängte der Knecht, „aber rasch müsst Ihr jetzt hinunter, es kommt gleich wieder eine Sturmbö, und das Haus kann jede Minute, scheint’s, zusammenbrechen.“

Die Frau samt dem Kinde waren die Ersten, welche, von dem oben stehenden Manne vorsichtig niedergelassen, von dem Knecht sorgsam aufgefangen, an den zu dem Boot herübergelegten Planken niederglitten. Auch die beiden Mägde gelangten ungefährdet hinab. Jetzt galt es, die Großmutter, die immer noch schlief, hinunter zu schaffen. Ettas verzweiflungsvollem Bemühen wollte es kaum gelingen sie zu erwecken. „Großmutter,“ rief sie einmal über das andere, „wacht auf! Gerhard ist da, uns zu holen!“ — Endlich schlug die Greisin die Augen auf; aber als sie den Sinn der Worte gefasst hatte und sich aufrichten wollte, versagten ihr die Füße den Dienst.

„Wir müssen sie tragen, Etta!“ rief Jakob de Vries, dem wenigstens ein Teil seiner alten Tatkraft wiederzukehren schien. „Komm', wir fassen sie unter die Arme!“

Über die mit nassem, verstreutem Stroh ungleichmäßig bedeckten Planken schleppten die Beiden die alte Frau. Als man jetzt an dem abgebrochenen Rande anlangte und nun mit einer gewaltigen Anstrengung den Körper in das Boot gleiten lassen wollte, brach die Magd in die Knie; mit beiden Händen griff sie vor sich hin, um sich noch anzuklammern, aber was sie fasste, war nur Stroh, das dem Griff nachgab. Lautlos hintenüberschlagend war sie in der nächsten Sekunde hinabgeglitten, und hoch in die Höhe spritzten über ihr die Wellen.

„Etta!“ schrie Jakob de Vries wild auf, „Etta! Etta, geh' nicht von uns!“ Die Frau samt den beiden Mägden erhoben ein lautes Jammern. „Ihr nach, Gerhard! ihr nach!“ schrie die Erstere, „dort, dort
treibt ihr Körper!“

„Mit dem schwergeladenen Boot?“ fragte der Knecht zurück. „Frau, bei Ehr' und Seligkeit, es geht nicht! Wir müssen ohnehin gegen den Ebbstrom rudern.“

Ihre zitternde Hand deutete noch immer auf die dunkle Masse, die bereits in beträchtlicher Entfernung schwamm, und einer der an den Rudern sitzenden Dorfleute sagte eintönig: „Ja, die geht mit dem Ebbstrom in die offene See hinaus!“ — —

Mit seiner Last von Geretteten bewegte sich das Boot unter den angestrengten Ruderschlägen der Männer langsam dem Dorfe zu. Die Letzteren erzählten, wie weit und breit das Land unter Wasser stehe, und wie sie, von ihrem höher gelegenen Kirchdorfe aus, bereits gestern den ganzen Tag mit der Rettung Verunglückter beschäftigt gewesen seien. Unzählig viele Leichen seien angetrieben und noch stündlich würden andere aufgefischt. Eltern hatten ihre sämtlichen Kinder vor ihren Augen ertrinken sehen, anderswo hatte man eine jammernde, elternlose Kinderschaar aufgefunden. Aus einem entfernten Kirchspiel war auf einem Stück Holz ein Mann angetrieben, der vor sich in einem Eimer die Leiche seines kleinen, von Kälte unterwegs erstarrten Kindes gehabt. Ein Mann war mit seiner Frau auf einem Stück Strohdachs fortgetrieben worden und in den Zweigen eines Baumes waren Beide hängen geblieben. Vor Kälte war die Frau bald darauf erstarrt und der Mann hatte ihr langes Haar um die Zweige des Baumes geschlungen, damit sie nicht weggetrieben werde, sondern in ein Grab gelegt werden könne; und so hatte der Arme vierundzwanzig Stunden an der Seite seines verstorbenen Weibes in den Zweigen des Baumes verbracht.*)
*) Alle diese Angaben gründen sich auf wahrhaftige, beglaubigte Urkunden.

Alles das hörten Jakob de Vries und sein Weib an, wie in einem schweren, dumpfen Traum befangen.Bei der letzten Erzählung aber schluchzte die Frau auf: „Mein Kind! mein Anton Günther . . . und unsere treue Etta!“ während der Mann den Kopf in beiden Händen barg und aufstöhnte in verzweifeltem Schmerz. Die alte Großmutter aber, deren Lebensgeister wunderbarer Weise völlig zurückgekehrt schienen, hob ihr weißes Haupt und sprach feierlich: „Und ich sah die Toten, beide groß und Fein, vor Gott stehen, und auch das Meer gab die Toten, die darinnen waren, und wurden geschrieben in das Buch des Lebens.“