Zweites Kapitel. Zunächst müssen wir einen Blick auf die großen Länderstrecken werfen, durch welche die Eisenbahn geführt ist und geführt werden soll.

Das ganze russische Asien ist im Süden von hohen Schneebergen begrenzt, die zugleich auch die Grenze des chinesischen Reiches bilden. Dahinter dehnt sich das innerasiatische Hochland immer mächtiger und unzugänglicher empor. Ganz Sibirien aber erscheint nur als die Abdachung dieses Hochlandes bis zum Eismeer. Daher laufen die Hauptströme, Ob, Jenissei, Lena sämtlich nach Norden in ein fast immer von Eis versperrtes Polarmeer.

Nur der Amurstrom bildet eine Ausnahme. Er gehört bereits zu den Gewässern der östlichen Abdachung des innerasiatischen Hochlandes, ebenso wie der Hwangho und Jantsekiang.


Nach seiner Bodengestalt ist Westsibirien ein weit hin gedehntes Flachland, Ostsibirien Berg und Hügelland bis ans Eismeer. Die Grenze zwischen beiden Naturformen zeichnet uns der von Süden nach Norden gerichtete Lauf des Jenissei vor.

Die politische Einteilung ist der äußeren Erscheinung gefolgt. Westsibirien nimmt das Obgebiet ein und besteht aus den beiden Gouvernements Tobolsk und Tomsk, die wie die gleichnamigen Verwaltungsgebiete im europäischen Russland einzeln von einem Gouverneur regiert werden.

Ostsibirien dagegen zerfällt in die beiden Gouvernements Jenisseisk und Irkutsk, sowie in die rein polare Provinz Jakutsk.

Solcher „Provinzen“ gibt es auch noch drei östlich vom Baikal: Transbaikalien an den Quellflüssen des Amur, Amurprovinz nördlich vom Strom und Küstenprovinz am unteren Amur und östlich vom Ussuri. Sie bilden mit Kamtschatka und Sachalin zusammen das General-Gouvernement Amur.

In den Provinzen leben noch weniger russische Ansiedler. Die Gouvernements und Provinzen entsprechen etwa den Staaten und Territorien der nordamerikanischen Union.

Was nun zunächst Westsibirien betrifft, so nehmen die beiden Gouvernements Tobolsk und Tomsk zusammen einen Flächenraum ein (22.553 qmyr) mehr als viermal so groß als das Deutsche Reich. Tobolsk reicht im Norden bis ans Eismeer, Tomsk im Süden an den Altai. Der äußerste Norden hat wirtschaftlich keinen Wert, der äußerste Süden, der Altai, wird als Krondomäne verwaltet. Im Südosten grenzt Westsibirien an die gleichfalls ebenen Flächen der Kirgisen steppen, die politisch auch in Provinzen zerfallen, aber nur im äußersten Norden zwischen Petropawlowsk und Omsk von der Eisenbahn berührt werden.

Die weiten Ebenen Westsibiriens bestehen aus Alluvialboden, der sich nirgends über 120 m ü. M. erhebt (Dresden) und von dem Ob und Irtysch bewässert wird.

Das Altaigebirge, größer als das ganze Königreich Preußen (nämlich 4.324 qmyr), nimmt wirtschaftlich eine Sonderstellung ein, die Erträge des Bergbaues auf Metalle und kostbare Steine fließen der Privatschatulle des Kaisers zu. Der hohe Altai besteht nicht aus Gebirgsketten, sondern bildet ein ungeheures Hochland mit Höhenrücken, die meist ostwestlich streichen. Der höchste Gipfel steigt 3.500 m auf.

Nur die nördlichsten Ausläufer werden von der Eisenbahn berührt. Die weiten Ebenen Westsibiriens zerfallen von Süden nach Norden in 3 Zonen: Ackerbauzone, Wald und Polarsteppen oder Tundra, jenseits des 64° n. Br. Der Wald nimmt die größte Fläche ein, gegen Norden geht er in Gestrüpp und Zwerggebüsch über. Die Tundra nährt fast nur noch Moos und Flechten. In der Tiefe von 1 m ist der Boden beständig gefroren (Eisboden) und besteht abwechselnd aus Schichten von gefrorener Erde und Lehm und reinem Eis. Von der Gesamtfläche Westsibiriens ist etwa der vierte Teil als Kulturland zu verwerten, nämlich 1500 qmyr im Altai, 3500 in der Ackerbauzone und 500 qmyr im Waldgebiet. Immerhin hat das russische Volk hier einen nutzbaren Flächenraum als Kolonialland vor sich und hat ihn bereits teilweise besetzt, der gerade so groß wie das Deutsche Reich ist. Vom Altai kommt natürlich nur das Hügelland in Frage.

Das Klima ist rein kontinental; aber die mittleren Temperaturen stehen noch niedriger als im europäischen Russland; auch fällt weniger Regen und im Winter weniger Schnee als in Russland. Indes hat die Ackerbauzone doch noch eine mittlere Sommertemperatur von + 17,5° C. (= August 1901 in Dresden).

Daher ist die niedere Pflanzenwelt im Allgemeinen noch wenig von der russischen verschieden. Die krautartigen Gewächse entwickeln Spielarten. Anders verhält es sich mit den Bäumen, auf die die strenge Winterkälte und die größere Trockenheit auch einen großen Einfluss ausüben. Die Eiche verschwindet unmittelbar am Ural, dann folgen Ulmen, Ahorn, Eschen und Apfelbäume ebenso. Von Laubbäumen bleiben Espen, Birken, Pappeln, Weiden, Linden. Aber der Wald besteht hauptsächlich aus Nadelholz.

Die Bevölkerung von Westsibirien betrug 1897 3,5 Millionen Einwohner, aber darunter befanden sich 92 % Russen und nur 8 % Eingeborene, hauptsächlich Tataren. Davon ist etwa die Hälfte ansässig, russifiziert und der russischen Kirche angehörig, die Hälfte nomadisiert und hängt dem Schamanismus an.

Die Dichtigkeit der Bevölkerung ist noch außerordentlich gering, sie kann daher recht gut noch einen starken Zuwachs ertragen. Während im deutschen Reiche durchschnittlich 100 Einwohner auf 1 qkm leben, kommen in Tobolsk nur 1,4 Einwohner, in Tomsk 2,3 Einwohner auf 1 qkm. Im Wald gebiet tritt an Stelle der Tataren, die einen türkischen Dialekt reden, der Stamm der Wogulen und Ostjaken. Nur im Süden sind sie russifiziert und christlich.

In der Tundra lebten fast unberührt vom russischen Einfluss etwa 10.000 Ostjaken und einige Samojeden.

Man ersieht daraus, alle Eingeborenen sind für die weitere Entwickelung völlig belanglos. Das ganze Gebiet, soweit es der Kultur zugänglich ist, wird in wenigen Jahrzehnten völlig russisch werden.

Wichtig für die Entwicklung des Ackerbaues ist es, dass wir in Westsibirien denselben fruchtbaren schwarzen Boden (Tschernosem) wie in Russland finden und zwar reicht er nordwärts bis zum 57° nördl. Br. und nach Süden am Irtysch bis 50, ½ ° nördl. Br.

Neben dem Ackerbau ist aber das Land auch wohl geeignet für Viehzucht. Das statistische Werk über Sibirien, das bei Gelegenheit der Weltausstellung in Chicago erschien, gibt darüber folgende vergleichende Daten. An Pferden kamen auf 100 Einwohner 63, d. h. für jeden erwachsenen Mann 2—3 Pferde. Sie dienen vor allem dem Transport. An Rindern gab's auf 100 Einwohner 52, an Schafen und Ziegen 85 und in der Tundra an Rentieren 600, d. h. also, auf jede Person entfielen 6 Rentiere. Die größten Städte Westsibiriens sind Tomsk, 52.000 Einw., Omsk 37.000. Tomsk ist überhaupt die größte Stadt von ganz Sibirien, zugleich der geistige Mittelpunkt des russischen Lebens und hat seit 1888 sogar eine Universität. Leider führt die große Eisenbahn nicht unmittelbar an dieser Stadt vorbei; diese musste vielmehr durch eine Zweigbahn von fast 100 kM Länge mit der Hauptlinie verbunden werden.

Ostsibirien in engerem Sinne, d. h. die beiden wichtigen Gouvernements, die auch für die Eisenbahn allein in Frage kommen: Jenisseisk und Irkutsk, zeigt schon ein wesentlich anderes physisches Gepräge. Es ist das Stromgebiet des Jenissei und der oberen Lena, ist sechsmal so groß als das Deutsche Reich (33.000 qmyr) und reicht von den südlichen Grenzgebirgen und dem Baikal bis ans Eismeer.

Die südlichen Grenzgebirge erreichen eine Höhe von 2.480 m und umschließen auch mit zwei Ketten den lang gestreckten Baikal. Baikal heißt reicher See, nämlich reich an Fischen. Da die Umgehung dieses Sees dem Bahnbau die größten Hindernisse noch jetzt bereitet, so ist es nötig, ihn noch näher ins Auge zu fassen.

Dieser größte Süßwassersee Asiens, der die wichtigsten Zuflüsse des Jenisseis in sich aufnimmt, liegt tief eingebettet zwischen den hohen Ketten des Urgebirges als ein echter, aber riesengroßer Alpensee; denn seine Länge beträgt über 700 km, d. h. in der Luftlinie so lang wie von Dresden nach Venedig. Schon daraus wird ersichtlich, dass eine Umgehung des Sees in strengem Sinne nicht möglich war, zumal er im südlichsten Teile des Landes und die wichtigste Stadt Ostsibiriens, die Metropole des Handels, Irkutsk, in seiner Nähe liegt und unmöglich übergangen werden konnte. Der See hat nun zwar im Vergleich zu seiner beträchtlichen Länge nur eine geringe Breite, allein sein Flächenraum übertrifft doch den des Königreichs Sachsen um mehr als das Doppelte.

Ostsibirien ist, soweit die Bahnlinie es durchzieht, ausschließlich Gebirgsland; also der Bahnbau wesentlich schwieriger und zeitraubender als in Westsibirien, aber es ist doch auch reich an wertvollen Mineralien: Metallen, besonders Waschgold, Kohlen und Graphit.

Auch Ostsibirien hat drei Kulturzonen wie Westsibirien, aber im Einzelnen unterscheiden sich diese doch nicht unbedeutend. Das eigentliche Ackerbauland umfasst das ganze Gouvernement Irkutsk und die südlichen Distrikte von Jenisseisk; aber infolge der Gebirgsnatur des Landes ist nur die kleinere Hälfte der Fläche, im Ganzen nur etwa 2.500 qmyr verwertbar. Davon liegen auch noch 500 qmyr in dem Waldgebiet, das nahezu die Hälfte der beiden Gouvernements ein nimmt, während nördlich davon die Tundra auch fast noch denselben Flächenraum beherrscht (13.000 qmyr) Die klimatischen Verhältnisse sind noch weniger günstig als in Westsibirien, die mittlere Temperatur sinkt bereits unter Null, ist also noch kälter. Die fünf Monate der Vegetationszeit haben nur 14° C. Auch die Regenmenge ist geringer; im Sommer fallen nur 15 cm.

Wie ungünstig sich die klimatischen Verhältnisse im Gebirge gestalten, dafür wähle ich, um dies zu zeigen, die Beobachtungen in Kultuk. Der Ort liegt am Südende des Baikal, also unter gleicher nördlicher Breite mit Dresden, aber in einer Seehöhe von 488 m. Die mittlere Temperatur beträgt nur — 8° C, in Dresden dagegen mindestens ebenso viel Grade plus. Die fünf Sommermonate weisen in Kultuk nur 10,2° C. auf, was entschieden zu niedrig für den Ackerbau ist. Bei der niedrigen Wintertemperatur ist der See aber lange Monate mit Eis bedeckt und trotzt in seinem Eispanzer allen Versuchen, ihn durch Eisbrecher für die Überfahrt der Eisenbahnreisenden zugänglich zu machen.

Im Waldgebiet fällt etwas mehr Regen als im Süden, aber die mittleren Temperaturen sinken auf — 3° C. und zeigen auch in den 5 Sommermonaten nur 11° C.

Die Polartundra ist natürlich auch hier der Kultur unzugänglich. Die Flora ändert sich östlich vom Jenissei merklich. Daraus hat schon der erste wissenschaftliche Botaniker, Pros. Gmelin, der mit Bering auf seiner zweiten Reise bis hierher vordrang, aufmerksam gemacht. Früher traf man östlich vom Jenissei auch einen viel größeren Reichtum an Pelztieren. Aber durch die rücksichtslose Jagd sind sie vernichtet und damit hat auch die russische Bevölkerung sich mehr und mehr wieder vom unteren Jenissei zurückgezogen.

Die Gesamtbevölkerung der beiden Gouvernements beläuft sich auf etwas über 1 Million Einwohner, darunter befinden sich 77% Russen und 23 % Eingeborne. Die einheimischen Stämme fallen hier also auch schon ins Gewicht als in Westsibirien. Sie gehören entweder zu den Mongolen oder zu der finnisch-tatarischen Gruppe.

Unter den Mongolen sind die Buriäten am zahlreichsten. Sie sind hier seit Tschingischans Zeiten ansässig. Erst am Ende des 17. Jahrhunderts wurden sie nach langem Kampfe von den Russen unterworfen. Ihre Zahl beläuft sich auf 180.000 Einwohner; sie leben ausschließlich in der Ackerbauzone, treiben aber vorwiegend Viehzucht. Etwa der fünfte Teil ist zum Christentum übergetreten und russifiziert, dagegen sind sie im Süden buddhistisch, im Norden schamanisch. Ihre Volkszahl wächst in gleichem Maße, wie die der eingewanderten Russen. Sie bieten also in dieser Beziehung eine andere ethnische Erscheinung, als die 20.000 Tataren mit finnischer Sprache, die am Fuß der sajanischen Gebirge ansässig, allmählich aussterben. Außerdem leben nomadisch im Waldgürtel und der Tundra noch einige Tausend Tungusen, Jakuten, Ostjaken und Samojeden. Die Hauptmasse der Bevölkerung drängt sich also in der südlichen Kulturzone, in den Tälern zusammen. Die größte Stadt, Irkutsk, zählt 51.000 Einwohner.

Man hält dieselben Haustiere wie in Westsibirien; aber der Viehstand ist hier im Verhältnis zur Zahl der Bewohner noch stärker. Für Rindvieh und Kleinvieh geben die Buriäten den Ausschlag; für die größere Zahl der Pferde, nämlich 3 bis 4 auf jeden Erwachsenen, ist wohl das für den Verkehr schwierigere Gelände maßgebend gewesen. — Die Landstriche, die wir bisher betrachtet haben, West und Ostsibirien, sind, wenn auch in der Bodengestalt wesentlich verschieden, so doch durch ihre Bevölkerung einander ähnlich. Beide Gebiete sind seit mehreren Jahrhunderten russisches Kolonialland, wo die russische Bevölkerung dermaßen vorherrscht, dass die kleinen Reste einheimischer Stämme mit geringen Ausnahmen entweder verdrängt sind oder von den Russen aufgesogen werden. In West und Ostsibirien besteht demnach Zivilverwaltung, an der Spitze des Gouvernements steht ein Wirklicher Staatsrat. Anders liegen die Verhältnisse östlich vom Baikal. Abgesehen von Transbaikalien, das ebenso lange wie Ostsibirien russisch ist, sind die Amurprovinz und das Küstenland neue Erwerbungen, die noch nicht 50 Jahre in russischen Händen sind. Es sind Grenzgebiete, die eine schärfere Überwachung verlangen. Diese Landesteile haben daher noch eine militärische Verwaltung, an der Spitze der Provinz steht ein Generalleutnant. Wenn nun der Flächenraum dieser Provinzen dem der sibirischen Gouvernements nachsteht, so darf man ihren Wert natürlich nicht danach bemessen wollen. Für unsern Zweck sind besonders diejenigen Landstriche ins Auge zu fassen, durch die der große Schienenweg der sibirischen Bahn führt. Hier ist der Hinweis genügend, dass die Länge der Bahnlinie östlich vom Baikal ziemlich ebenso lang ist als westlich. Aber nach den neuesten Änderungen in dem Plan des Bahnbaues, wonach der Hauptstrang durch die Mandschurei ans Gelbe Meer geführt werden soll, werden wir auch die nominell jetzt noch den Chinesen gehörende Mandschurei in allgemeinen Zügen zu schildern haben. Alle diese Gebiete vereinigen sich unter dem einen Gesichtspunkte, dass sie fast ganz zur östlichen Abdachung Hochasiens gehören und sich um einen Strom, den Amur, gruppieren. Auch hieraus leuchtet schon die Wichtigkeit dieses Stromgebietes für Russland ein. Nur eine der erwähnten Landschaften, und zwar Transbaikalien, macht insofern eine Ausnahme, dass mitten durch das Land die Wasserscheide zwischen dem Eismeer und dem großen Ozean zieht, dass es teils zum Stromgebiet des Jenisseis und der Lena, teils zu dem des Amurs gehört. Damit ist für Transbaikalien aber auch der Charakter eines Übergangslandes, eines Durchgangsgebietes gegeben. So konnte es denn auch nicht fehlen, dass der alte Landhandel Russlands mit China ausschließlich durch dies Gebiet führte, und dass auch die große Verkehrsader des sibirischen Traktes hier endigen musste. Betrachten wir nun diese Landschaften im Einzelnen. Transbaikalien, 6.125 qmyr, größer als das Deutsche Reich, Belgien und die Niederlande zusammen, ist durchgehends Gebirgs oder Hochland. Die Gebirgszüge sind meist von WSO nach ONO gerichtet, was im allgemeinen dem Bahnbau günstig ist. Vereinzelt steigen an der Südgrenze Gipfel von mehr als 2.000 m auf, aber im Innern tragen die Gebirge doch nur den Charakter von Mittelgebirgen, mit Höhen, die unser Erzgebirge wenig überragen. Krystallinische Gesteine walten vor, doch treten hier auch vulkanische Massen: Trachyt und Basalt auf, und damit hängt dann der große Reichtum an Mineralquellen zusammen. Daneben aber gibt es berühmte Goldwäschen, auch silberhaltiges Blei, Kupfer, Zinn und Quecksilber.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die sibirische Eisenbahn