Das ausgehende Altertum.

Die eben geschilderten Wanderungen waren grundlegend für die Zukunft der Juden. Abgesehen davon, dass an ihnen sich ganz große Massen beteiligt haben, sie haben sich — und das ist das Ausschlaggebende — nicht auf zwei, drei Länder beschränkt, sondern erstreckten sich über das ganze, den Menschen damals überhaupt bekannte Gebiet. Und einmal so auf der ganzen Erde zerstreut, mussten die Juden sich entweder im Organismus des Volkes, in dessen Mitte sie verschlagen wurden, einzugliedern versuchen, oder wenn dies nicht ging: weiter wandern. Dabei wurde der Gang dieser Wanderungen wieder, wie immer, bestimmt durch die wirtschaftliche Entwickelung der Völker, in deren Mitte die Juden lebten.

Eine ungeheure Krise suchte das mächtige römische Reich heim. Das politische Leben stockte vollständig, und die Gemüter wendeten sich von ihm ab und der Religion zu. Zwar hatte man keine erschütternden Kriege zu bestehen, trotzdem aber sank der Wohlstand unaufhörlich; zu dem allem gesellte sich der Rückgang der Bevölkerungszahl. Als Resultat des Rückganges in der Produktion und des Niederganges der Landwirtschaft trat eine ständig wachsende Geldnot ein, die immer drückender und unerträglicher wurde. ,,In der Landwirtschaft wird der Ackersklave immer mehr durch freie Kolonen, erblich auf dem Gute sitzende, zwischen kleinen Bauern und Tagelöhnern ungefähr die Mitte haltende, abhängige Landwirte ersetzt" . . . ,,Die Folge ist die Rückkehr zu den primitiven Lebensverhältnissen, indem überall der Zwang, die rechtliche Bindung eintritt" (27) .


Wie haben sich die Juden — gemeint sind die Juden in der Zerstreuung und nicht die in Palästina — mit dieser Krise abgefunden? Gar nicht. Denn diese Krise, die schließlich die mächtigsten Staaten der Welt zugrunde richtete, hat die Juden nicht berührt; ihre Lage wurde weder verbessert, noch entschieden verschlechtert. Denn sie gehörten nicht mit ihrer ganze i, Existenz dem Staate, in dem sie wohnten, an, sie waren kein notwendiges Glied der Gesellschaft, welches mit den anderen untrennbar verbunden gewesen wäre; die Wurzeln ihrer wirtschaftlichen Existenz waren nicht so tief in den Boden des betreffenden Volksorganismus eingedrungen, dass sie das Schicksal der zugrunde gehenden Gesellschaft hätten teilen müssen. Die letztere verschwand — die Juden aber waren die einzigen, die sich aus der alten in die neue Welt hinüberretteten. Darum erschienen sie den nachfolgenden Geschlechtern als ein übernatürliches, mächtiges, ewiges Volk, das den Gesetzen des Lebens und Vergehens nicht unterworfen ist, das ewig da ist und ewig da sein wird. (Die Legende vom Ewigen Juden).

In einer Hinsicht hat die Krise die Juden doch berührt: sie mussten den Gegenstand ihres Handels wechseln oder richtiger: beschränken. Der Handel mit Massenprodukten, die in Rom und anderen Städten einen großen Absatzmarkt fanden, stockte. Mit dem Übergang zur Naturalwirtschaft brauchte man nicht mehr diese Massenprodukte, ja die Massen, das Volk, brauchten überhaupt keinen Handel mehr; denn es wurde alles auf den neugegründeten Höfen erzeugt. Der Gesamtbedarf wurde restlos durch eigene Arbeit befriedigt.

Der Handel wurde nunmehr ein Luxushandel. Könige, Kirchenfürsten, Herzöge und reiche Äbte erscheinen jetzt als Abnehmer. ,,Dem Kaufmann, soweit er nicht Kleinkrämer war, blieb nur Vertrieb von hochwertigen Luxusartikeln vorbehalten, deren Abnehmer er unter den wenigen zahlungsfähigen Reichen zu suchen hatte" (28).

Allerdings konnten sich die Juden bald mit einem neuen Massenprodukt trösten: Sklaven. An dem Handel mit den letzteren haben sie sich ganz hervorragend beteiligt, ja man kann sagen: sie waren eine Zeit lang fast die einzigen, die ihn betrieben.

Neben dem Luxus- und Sklavenhandel, den von nun an die Juden fast ganz an sich rissen, fing das eigentliche Geldgeschäft der Juden zu blühen an. Zwar verlor das Geld mehr und mehr seine allgemeine Bedeutung als das einzige Zahlungs- und Tauschmittel. Wir haben es eben nicht mehr mit einer Geldwirtschaft zu tun, wie es die Wirtschaft des Altertums vor ihrem Zusammenbruch gewesen war, sondern mit einer Naturalwirtschaft — und zwar in weitem Umfange: sie erstreckte sich auf die Steuererhebung sowie auf die Zahlung des Soldes und der Gehälter. Nichtsdestoweniger aber brauchten die Herren und die Großen auf dem Lande doch ab und zu Geld. Und hier konnte der geldbesitzende Jude die besten Dienste leisten (29). Auch in Rom selbst, mit dem der Norden Europas ferner in Verkehr blieb, ist die Geldwirtschaft eigentlich nie untergegangen — ebenso wenig wie in Byzanz. Außerdem mochte die Naturalwirtschaft im Binnenverkehr der nordischen Völker noch so unbeschränkt geherrscht haben — der auswärtige Luxushandel konnte auch fernerhin nur mittels des Geldes bewerkstelligt werden.

Die Wanderungen dieser Zeit sind nicht groß und bedeutend — wenigstens für die Juden selbst nicht. Die Wanderungen bewegen sich in der Richtung vom Süden nach dem Norden Europas, dorthin, wo die Naturalwirtschaft mehr und mehr Platz greift, und wo einzelne Juden immer noch eine wirtschaftliche Betätigung als Händler fanden.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Wanderbewegungen der Juden