Die jüdischen Wanderungen seit dem Beginn der hellenistischen Zeit bis zum Untergang des jüdischen Staates.

Mit dem Beginn der hellenistischen Zeit fingen die freiwilligen Wanderungen der Juden an. Palästina, das inzwischen wieder eine starke Bevölkerung bekam, wurde nach und nach wieder von einem Teil seiner Bevölkerung — und zwar nicht vom ärmsten — verlassen. Diesmal war das Ziel der Auswanderer nicht Babylonien, sondern in erster Linie Krypten und Syrien, dann Italien, Griechenland, Kleinasien und die Inseln.

Dies hing mit dem veränderten Gang des Welthandels zusammen.


Jetzt bewegte sich der Welthandel nicht mehr zwischen dem Nil- und Euphrattal, sondern hauptsächlich auf dem Mittelmeer. Denn die hellenistische Zeit bedeutete eben neben der Erschließung des Orients für Griechenland und für die griechische Kultur auch — und zwar in erster Linie — eine starke Verschiebung der Handelsverhältnisse. ,,Neben der neuen Weltstadt an der Küste Ägyptens tritt vor allem Kleinasien in den Vordergrund" (22). Der Handel war nicht mehr Landsondern Seehandel, und Alexandria wurde eine der größten Handelsstädte der Welt. So verlor Palästina seine ursprüngliche vermittelnde Stellung. Dazu kamen noch ununterbrochene Kriege zwischen Ägypten und Syrien, die die Sicherheit des Lebens in Palästina aufs schwerste bedrohten. Das Land hatte ,,von seiner Zwischenstellung nur noch alle Nachteile bewahrt, alle Vorteile dagegen verloren" (23).

Und nun fingen die Reichen Palästinas an, auszuwandern; man kann nicht sagen, dass sie dabei patriotisch verfuhren. Zwar schickten sie regulär ihre Opfergelder nach Jerusalem, doch flössen diese nur in die Taschen der Priester; der jüdische Bauer und kleine Grundbesitzer, die schon durch vorherige Konzentration des Grund und Bodens ruiniert waren, strömten jetzt der Hauptstadt zu, wo sie — ebenso wie damals in Griechenland — etwas zu verdienen hofften. Es fing damals in Palästina der Zerfall an, der schließlich zu ununterbrochenen Revolutionen, zeitweiliger Herrschaft des Pöbels und Vernichtung des Staates durch die Römer führte.

Die Auswanderung stellte damals keinen einheitlichen Akt dar, sondern vollzog sich langsam, aber desto sicherer. Sie war in ihren Resultaten so groß, dass allein in Ägypten im 1. Jahrhundert nach Chr. schon 1 Million Juden wohnte (ein Achtel der Gesamtbevölkerung Ägyptens). Die größte Zahl der Juden hielt sich in Alexandria auf (200.000 auf 500.000 der Gesamtbevölkerung). Sie bewohnten dort beinahe zwei von den fünf Quartieren der Stadt, und zwar diejenigen, die an der Meeresküste lagen. Das allein gibt schon gute Aufschlüsse über ihre Tätigkeit. „Von dieser Lage (am Meeresufer) zogen sie (die Juden) den größtmöglichen Nutzen; . . . sie verlegten sich auf Schifffahrt und Ausfuhrhandel. Die Getreidefülle. welche Rom für seine Bevölkerung und Legionen von Ägyptens reichen Fluren bezog, wurde ohne Zweifel auch auf judäische Schiffe verladen, durch judäische Kaufleute auf den Markt gebracht" (24). Außerdem gab es auch viele jüdische Zoll- und Steuerpächter, die ganz große Vermögen besaßen.

Nach Rom kamen die Juden schon sehr früh. Zuerst waren es vielleicht nur Gesandte des jüdischen Staates, denen es in der Weltstadt sehr gut gefiel und die sich dort niederließen. Ihre Zahl vergrößerte sich sehr durch Zuzug der Juden aus Palästina und anderen Gegenden des römischen Reiches. Im Jahre 3 v. Chr. befanden sich allein in einer Gesandtschaft an Augustus 8.000 Männer. Die Hauptbeschäftigung der Juden bildete neben dem Handel sicher noch das Geldgeschäft; sie gelangten an den Hof der römischen Kaiser, denen sie dann und wann in besonderer Not sehr gute Dienste leisteten. Die Armen aber unter ihnen waren die von den Eroberern mitgebrachten Sklaven.

Es würde uns zu weit führen, die damalige Auswanderung aus Palästina in allen ihren Richtungen zu schildern. Genug: die Juden zerstreuten sich damals in der ganzen Kulturwelt, oder: die Wege des Welthandels waren auch die Wege der jüdischen Wanderungen. Es gab damals keine (Handels-) Stadt, die nicht eine noch so kleine Gemeinde gehabt hätte. Die Sibylle konnte daher sagen, ,,dass jegliches Land und jegliches Meer von ihm (dem jüdischen Volke) erfüllt ist" (25).

Doch sind die geschilderten Wege der jüdischen Auswanderung in der Zeit vom 2. Jahrhundert vor Chr. bis zum 1. Jahrhundert nach Chr. nicht die einzigen. Der bisher geschilderte Zug war der erste freiwillige Strom der jüdischen Auswanderer. Den zweiten bildeten die jüdischen Kriegsgefangenen, die von den Eroberern weggeführt wurden; unter ihnen befanden sich viele Arme, die als Sklaven verkauft wurden, jedoch an den Orten, wo eine jüdische Gemeinde schon existierte, von dieser losgekauft wurden. Die Zahl solcher Kriegsgefangenen mag sehr groß gewesen sein. Schon Pompejus (63 vor Chr.) hat viele Juden nach Rom fortgeführt. Titus soll 900.000 Juden zu Gefangenen gemacht haben (26); wenn die Zahl auch etwas hochgerechnet ist, so wurde doch eine beträchtliche Zahl der Juden damals als Sklaven den Meistbietenden verkauft und von Palästina weggeführt. Auch haben sich viele Juden mit den römischen Legionen über das ganze Gebiet der römischen Herrschaft zerstreut.

Der dritte Strom — und der fällt allerdings schon in die Zeit nach der Zerstörung des zweiten Tempels — bestand aus einem Teil der palästinensischen Juden, die nach Babylonien auswanderten. Dort sammelten sich nach und nach die Reste des jüdischen Volkes und stellten lange Zeit hindurch das Zentrum der Judenheit dar.

Und endlich zerstreute sich ein Teil — und dies waren die besten, kampfeslustigen und todesmutigen Verteidiger der jüdischen Unabhängigkeit — auf der arabischen Halbinsel, wo sie später ein unabhängiges und starkes Gemeinwesen bildeten.

Jedoch kommen diejenigen, die nach Babylonien und der arabischen Halbinsel auswanderten, für die weitere Gestaltung der jüdischen Wanderbewegungen in Europa nicht in Betracht; nach Europa kamen die Juden damals über Ägypten.

Aus der wirtschaftlichen Stellung der Juden in diesem Lande können wir auf die soziale Gliederung der an der Auswanderung aus Palästina nach Ägypten und Europa beteiligten Volksschichten schließen: es war nicht mehr eine allgemeine Volks Auswanderung, wie es im großen und ganzen diejenige nach Babylonien gewesen war, sondern nur die einer bestimmten Klasse. Dies ist um so mehr zu betonen, als nur aus diesem Umstände die zukünftige Gestaltung der jüdischen Bewegungen zu erklären ist. Die soziale Differenzierung der jüdischen Wanderungen hörte zum guten Teil auf; daher kam damals nach Europa nicht das jüdische Volk, sondern nur eine Klasse der jüdischen Händler.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Wanderbewegungen der Juden